Ukraine-Streit zwischen Scholz und Macron - „Wir müssen uns dramatisch verbessern“

Während Bundeskanzler Scholz in dieser Woche der Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine eine Absage erteilte, brachte der französische Präsident Macron die Entsendung westlicher Truppen ins Spiel. Oberst a.D. Ralph Thiele ordnet die unterschiedlichen Standpunkte ein.

Olaf Scholz und Emmanuel Macron / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

So erreichen Sie Clemens Traub:

Anzeige

Oberst a.D. Ralph Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin. Er diente unter anderem im Planungsstab des Verteidi­gungsministers, im Private Office des Nato-Oberbefehlshabers sowie als Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr. Thiele ist Herausgeber des Buches „Hybrid Warfare“ (2021).

Herr Thiele, Bundeskanzler Olaf Scholz erteilte der Lieferung des Marschflugkörper Taurus an die Ukraine in dieser Woche eine Absage. Was glauben Sie, warum hat sich Scholz dagegen entschieden? War es die Angst vor einer Ausweitung des Krieges, oder waren es doch eher innenpolitische Erwägungen?

Der Taurus kann im Hinterland des Feindes anrückende Truppen, Flugplätze und Kommandozentralen bekämpfen. Scholz möchte das Waffensystem nicht liefern, da Bundeswehrsoldaten die Zielbekämpfung begleiten müssten. Das könnte in der Ukraine geschehen oder auch von Deutschland durchgeführt werden. Wir wären allerdings in beiden Fällen direkt beteiligt im Krieg in der Ukraine. Es kommen sicherlich noch andere Argumente hinzu, die Olaf Scholz jedoch aus Sicherheitsgründen in der Öffentlichkeit nicht spezifizieren darf.

Deswegen, glauben Sie mir: Scholz hat exzellente Experten aus den Streitkräften und den Geheimdiensten im Kanzleramt, die ihn bei seinen Entscheidungen begleiten. Und wenn er nicht möchte, dass deutsche Soldaten bei der Vorbereitung und der Durchführung der Einsätze von Taurus beteiligt sind, dann hat das einen guten Grund. Viele die nun darüber fabulieren, verstehen die Zusammenhänge nicht. Die kann man auch nur bedingt öffentlich erläutern, da sie der Geheimhaltung unterliegen. Dadurch haben wir ein strukturelles Kommunikationsproblem.

Die Opposition, aber auch grüne und liberale Ampel-Politiker wie Anton Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann sind jedoch der Ansicht, dass es zur Steuerung des Taurus keiner deutschen Bundeswehrsoldaten in der Ukraine bedarf. Wie bewerten sie derlei Äußerungen?

Es ist möglich, doch würde das bestimmt vier bis fünf Jahre in Anspruch nehmen. Der Taurus ist ein hochkomplexes Waffensystem. Schauen Sie: Allein die Anpassung auf ein F16-System, das vermutlich genutzt werden würde, dauert ein Jahr. Die Ausbildung der ukrainischen Soldaten würde mehrere Jahre dauern. Das Aufstellen der Datenbanken ist zusätzlich ein komplexer Vorgang, der ein bis zwei Jahre benötigen würde. Die hier häufig propagierte Schnellausbildung der Ukrainer hat sich im Einsatz und in Wartung und Logistik nicht wirklich bewährt. Die negativen Erfahrungen hält man aus guten Gründen – das muss ja nicht jeder mitlesen – allerdings vertraulich zurück.

Sie sehen: Die Debatte ist nutzlos. Sie lässt viele Sachlichkeiten aus. Deswegen sollten sich die Regierungspartner mit ihrer teilweise massiven Kritik an der Entscheidung des Bundeskanzlers zurückhalten. Die Zersetzung der eigenen Regierung spielt nur der hybriden Kriegsführung Putins in die Karten.

Warum wird die Debatte dann trotzdem seit Monaten geführt?

Die anhaltende Debatte ist eine Attrappe. Wir diskutieren mit dem Taurus über ein Waffensystem, das von der Reichweite her weder Frankreich noch Großbritannien oder die USA zur Verfügung stellen. Der Taurus-Fokus in Deutschland lenkt davon ab, dass wir unsere Zusagen bezüglich der Munitionslieferungen nicht eingehalten haben. Dabei sterben im Kampfgeschehen an der Front täglich Menschen aufgrund des Munitionsmangels. Wir führen derartige Scheindebatten, da wir einen Performance-Mangel haben. Und dann gibt es in der derzeitigen Debatte noch ein weiteres großes Problem.

Was meinen Sie?

Alle fühlen sich heute berufen, ihre Empfehlungen für die Kriegsführung zu geben. Dabei verfügen nur die Allerwenigsten über die entsprechende fachliche Kompetenz. Das trifft auch auf viele Würdenträger zu, die sich in den letzten Monaten zum Krieg in der Ukraine äußern. Sie kennen sich weder mit Operationsplanung noch mit den Waffensystemen im Detail aus.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann trug ein T-Shirt, auf dem ein Taurus-Rind abgebildet und der Schriftzug „Taurus für die Ukraine, zusammen bis zum Sieg“ zu lesen war. Was denken Sie als Sicherheitsexperte und Ex-Oberst der Bundeswehr darüber?

Wir erleben eine Banalisierung sicherheitspolitischer Fragen. In einer der abendlichen Talkshows bekannte Anton Hofreiter stolz, dass er sich in einem Wikipedia-Artikel über Waffensysteme schlau gemacht habe. Das war für mich ein Schlüsselmoment und ein Schockerlebnis. Sie müssen sich vorstellen: Regierungen investieren Jahrzehnte in Offiziere und Berufssoldaten, damit diese eine entsprechende Ausbildung erhalten. Und ein sicherlich einflussreicher Spitzenpolitiker informiert sich bei Wikipedia. Ich halte das für gravierend. Wenn man sich dann später fragt, warum es zu politischen Fehlentscheidungen gekommen ist, mag es auch daran liegen.

 

Passend zum Thema: 

 

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat in dieser Woche auf einer Ukraine-Konferenz in Paris die Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine ins Spiel gebracht. Was halten Sie von diesem Vorstoß?

Nach zwei Jahren Ukraine-Krieg hat der Westen noch immer keine kohärente Strategie entwickelt. Die wichtigsten Fragen lauten: Was sind die Ziele des Krieges und wie lässt er sich beenden? Letztlich dominieren in den öffentlichen Debatten zwei Narrative, die längst auch als sprachliche Floskeln bezeichnet werden können: Die Ukraine muss gewinnen oder darf den Krieg nicht verlieren. Das ist eine erbärmliche strategische Ausgangslage.

Eine Entsendung westlicher Truppen wäre in dieser strategischen Orientierungslosigkeit hochgradig töricht und ein Spiel mit dem Feuer. Denn wenn unsere westlichen Staaten direkt in den Ukraine-Krieg eingreifen würden, bekämen wir eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland. Womöglich hat er dies in der Dynamik der Pressekonferenz ungeplant geäußert. So wichtig es ist, über solche Themen grundsätzlich nachzudenken: Ich halte es jedoch für verheerend, solche Gedanken durch die Medien zu treiben und damit die eigene Öffentlichkeit zu verunsichern.

Scholz widersprach in einer Videobotschaft dem französischen Präsidenten und sagte, dass es „keine Soldaten auf ukrainischem Boden geben wird, die von europäischen Staaten oder von Nato-Staaten dorthin geschickt werden“. Was sind die Gründe für die unterschiedlichen Standpunkte?

Scholz möchte sich in seinem Engagement von den Franzosen und Briten abgrenzen. Wie man hört, sind die Briten zum Beispiel unterhalb der öffentlichen Sichtbarkeit durchaus planerisch an der Vernichtung großer Teiler der russischen Marine involviert. Bisher konnten die Ukrainer ein Drittel der russischen Marine im Schwarzen Meer mit Hilfe britischer Technik und des entsprechenden Know-hows versenken. 

Das ist all das, was der Bundeskanzler nicht möchte. Scholz macht sich begründete Sorgen. Er will nicht, dass der Eindruck entsteht, Deutschland nehme aktiv am Krieg gegen Russland teil. Damit nimmt er seine politische Verantwortung als Bundeskanzler wahr. Für mich ist das eine verständliche Position.

Sehen Sie das Gedankenspiel Macrons auch als einen bewussten Pfeil in Richtung Berlin?

Davon gehe ich aus. Olaf Scholz sieht sich durch sein vorsichtiges Agieren auf europäischer Ebene als ausgleichender Verantwortungsträger zu den Aktivismen der Briten und der Franzosen. Das sehen die Regierungschefs dieser beiden Länder natürlich nicht gerne. 

Dennoch wissen beide Staats- beziehungsweise Regierungschefs: die deutsch-französiche Zusammenarbeit ist eine Voraussetzung für die erforderliche kritische Masse, die in Europa sicherheitspolitisch generiert werden muss! Und tatsächlich arbeiten in beiden Ländern kluge Köpfe an konkreten Initiativen und Vorhaben. Dass gerade bei größeren Projekten immer wieder politische und technologische Hindernisse auftauchen, ist bei solchen anstehenden Projekten ein Stück weit normal. Leider führen Defizite in der Kommunikation dazu, dass bislang negative Kommentare und Bashing unsere jeweiligen öffentlichen Debatten dominieren.

Was sagen die derzeitigen Meinungsunterschiede zwischen Scholz und Macron über die so oft beschworene gemeinsame europäische Sicherheitspolitik aus?

Die Qualität der gemeinsamen Sicherheitspolitik der Europäischen Union zeigt mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, dass wir uns dramatisch verbessern müssen. Der EU fehlte es an bedeutenden Ambitionen und Fähigkeiten, die ihren Interessen und Verantwortlichkeiten in Europa und darüber hinaus entsprechen. 

Angesichts zunehmend fragiler und bedrohlicher geopolitischer Entwicklungen ist es dringend erforderlich, die Rolle der EU als Sicherheitsanbieter zu stärken, der in der Lage ist, regionale und globale Sicherheitsherausforderungen allein oder mit Partnern wie der NATO zu bewältigen. Schlagkräftige europäische Strukturen, Prozesse und Fähigkeiten sowie eine zielführende, gemeinsame Strategiebildung sind im Krisen- und Konfliktmanagement mit Ländern wie Russland unerlässlich. Daran werden sich Persönlichkeiten, die uns bei sicherheitspolitischen Herausforderungen dieser Dimension führen, letztlich messen lassen müssen.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

Anzeige