Gespräch über Krieg und Zeitenwende, Teil II - „Wir sind wie Eintagsfliegen ohne historisches Gedächtnis“

Der Historiker und Oberst Markus Reisner spricht im zweiten Teil des Interviews über die Notwendigkeit einer ideologischen Abrüstung im Ukrainekrieg, das Archaische in der russischen Gesellschaft, die Kriegsziele der verschiedenen Parteien und die denkbaren Szenarien eines Friedensschlusses.

Ukrainische Soldaten an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut / picture alliance
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Frank Lübberding ist freier Journalist und Autor.

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Markus Reisner ist Leiter der Forschungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und derzeit einer der gefragtesten Militär-Analysten im deutschsprachigen Raum. Den ersten Teil des Interviews, in dem es darum geht, weshalb die Objektivität in Zeiten des Ukrainekrieges bedroht ist, ob sich Geschichte wiederholen kann und welchen Einfluss das mögliche Auftauchen des Schwarzen Schwans für den weiteren militärischen Verlauf bedeuten könnte, finden Sie hier

Um auf Afghanistan zurückzukommen. Leonid Wolkow ist ein enger Vertrauter des in Russland inhaftierten Oppositionellen Alexei Nawalny. Er hat im Vorwort zu seinem Buch „Putinland“ eine interessante Anekdote beschrieben. Er sei im November 2021 nach Washington gefahren, und keiner habe sich für die russische Opposition interessiert, sondern jeder sprach zu dem Zeitpunkt nur noch vom kommenden Krieg in der Ukraine. Im August war der Westen aus Afghanistan abgezogen. Sie schilderten das als ein Fiasko. Aber vielleicht war es doch kein Fiasko? Wenn der Westen heute noch in Afghanistan wäre, wäre das seine Achillesferse. Auf der einen Seite Pakistan und auf der anderen die ehemaligen GUS-Staaten als Routen für die Versorgung der Truppen. Ist es nicht möglich, dass der Abzug mit der Erwartung des kommenden Krieges in Zusammenhang stand? 

Ich glaube, nein. Das geht so in Richtung Verschwörungstheorie. Was am meisten dagegen spricht, ist der Umstand, dass die amerikanischen Arsenale zunehmend unter Druck kommen. Jetzt könnte man argumentieren, vielleicht haben sie nicht erwartet, dass es so lange dauert. Man könnte aber auch argumentieren, dass sie nicht damit gerechnet haben, dass es in dieser Form eskaliert. 

Ihre Einschätzung ist somit, dass einzelne Akteure nicht nach einem großen Plan gehandelt haben, sondern dieser sich auf Grundlagen gewisser Annahmen entwickelt hat?

Markus Reisner / Foto: Mafalda Rakos

Wissen Sie, was mir die Sicherheit gibt, dass es so ist? Weil alle glauben, dass Geschichte genauso geschrieben wird. Ich bin Historiker. Er hat das Privileg, wie ein Vogel über die Landschaft zu gleiten und die Struktur der Landschaft zu erkennen. Hier ist das Rapsfeld, da kommen Acker, Wiese und Wald. Der Vogel sieht die Struktur der Landschaft. Dagegen sitzt die Feldmaus im Rapsfeld. Ihr fehlt jeder Zusammenhang, auch ein historisches Gedächtnis. Geschichte wird natürlich auch von den Siegern geschrieben, also so, dass es am Ende passt. Tatsächlich waren es aber immer wieder Menschen, die plötzlich Dinge in Bewegung gesetzt haben, die dann eine Eigendynamik bekommen haben. Ich glaube, dass wir unseren Altvorderen zu viel Weisheit und Voraussicht unterstellen, die sie nicht haben, sondern gewisse Dinge haben sich halt so ergeben. Das gilt auch für diesen Konflikt.

Niemand hat damit gerechnet, dass er in dieser Konsequenz und mit dieser Brutalität über uns hereinbricht. Wenn der österreichische Generalstabschef in der Abendsendung gesagt hätte, morgen marschieren die Russen ein, wäre er in der Spätsendung als Kriegstreiber bezeichnet worden und man hätte ihm den Rücktritt nahegelegt. Um ihn in der Mittagssendung am nächsten Tag zu fragen, warum er uns das nicht gesagt hat. 

Meine Erfahrung war immer die deutsche Wiedervereinigung. Im Oktober 1989 hatte noch keiner geglaubt, dass sie kommt.  

Das ist ein gutes Beispiel. Ich bin jetzt fast 46 Jahre alt … 

Ich bin fast 60. 

Wenn Sie überlegen, was wir in dieser Zeit erlebt haben ... Den Eisernen Vorhang habe ich noch als kleines Kind erlebt, weil meine Eltern mit mir an die ungarische Grenze gefahren sind. Wenn damals einer gesagt hätte, das ist in Kürze eine Episode der Geschichte, hätten alle gesagt, dass ist ein Wahnsinniger, das stimmt doch gar nicht. 

Damit kommen wir zu den Kriegszielen. Meine These am Anfang des Krieges ähnelte der von Olaf Scholz, wenigstens habe ich ihn so interpretiert. Natürlich kann man das den Russen nicht durchgehen lassen. Die können nicht irgendeinen Staat erobern und dort eine Regierung einsetzen. Gilt generell für jeden.  

Auch für die Amerikaner. 

Die Amerikaner halten sich nicht an solche Regeln, wenn es gegen ihre Interessen geht. Es ist eine Großmacht. Großmächte agieren exakt so. 

Das, was ich als Hegemon bezeichne. 

Aber ein rationales Kriegsziel war für mich, die Souveränität der Ukraine zu erhalten. Es war schon im April 2022 klar gewesen, dass die Russen nicht mehr bis Kiew kommen. Das wird der Westen auf jeden Fall verhindern. Das beschrieben Sie auch immer so schön, der Westen dosiere seine Unterstützung immer so, dass die Russen austariert werden. 

Wobei der Ton von den Amerikanern angegeben wird. Ich glaube, ginge es nach einzelnen europäischen Staaten, würden wir viel mehr Eskalation sehen. Ein gutes Beispiel ist die Rolle Großbritanniens. Ich bin mir nicht sicher, ob viele der Dinge, die Großbritannien macht, zu hundert Prozent mit den USA abgesprochen sind. 

Eine interessante These. 

Denken Sie an diese geleakten Dokumente, wo der Anteil der Spezialkräfte aus Großbritannien signifikant höher war als bei den anderen Ländern.  

Die Spezialkräfte, die Nato-Einheiten, die in Wirklichkeit dort schon längst im Einsatz sind? 

Die geleakten Dokumente haben einen sehr hohen Wahrheitsgrad. Warum? Weil es in dieser Form geleakt worden ist. Das ist das Schlimmste, was passieren kann: Ein untergeordneter Rang will seine Kameraden beeindrucken. In einer Übersicht über die Präsenz von Spezialkräften in der Ukraine war die Zahl bei den Briten relativ groß. Auch das ist kein Geheimnis. Sie müssen sich nur britische Medien ansehen, die sehr stolz auf die Unterstützung quasi britischer Spezialkräfte bei Inbesitznahme der Schlangeninsel waren. Oder diese unbemannten Systeme, die Sewastopol angegriffen haben. Erst später räumt die Ukraine ein, dass andere mitgeholfen haben. So waren die Amerikaner bezüglich der Lieferung britischer Marschflugkörper oder bei der F-16-Geschichte zurückhaltend. Wenn die Europäer das wollen, dürfen sie gerne liefern. Wir sind nicht dabei. Schauen wir mal, was die Europäer zusammenbringen, so kann man deren Position zusammenfassen. 

Um auf die politischen Ziele zurückzukommen. Wir haben die Souveränität der Ukraine erhalten. Für einen Friedensschluss existieren zwei Möglichkeiten. Einerseits die totale Niederlage der Ukraine, andererseits der Schwarze Schwan mit einer Revolution in Russland. Und dann gibt es den Kompromissfrieden. Dabei geht es um die Frage, wie die territoriale Integrität der Ukraine garantiert werden kann. Manche halten das Korea-Szenario mit einem bloßen Einfrieren des Konflikts für das schlimmste Szenario, weil es das Spannungsverhältnis auf Ewigkeiten fortsetzt. 

Wenn die Russen nicht vorher zusammenbrechen, wird es darauf hinauslaufen. Aber beide Seiten sind nach wie vor davon überzeugt, dass sie gewinnen können. Das sieht man sehr schön in der Argumentation und in der Rhetorik. Die Russen sind davon überzeugt. Wenn immer der Westen eine gewisse Schwäche zeigt, merkt man das an deren Rhetorik. Sie sagen: Unser Friedensplan wäre, wir annektieren alles bis zum Dnepr. Den Rest können Sie in Europa haben. Das war erst vor kurzem wieder zu hören. 

Henry Kissinger geht auch davon aus. 

Wobei sich Kissinger einmal um 180 Grad gedreht hat. Kurz zusammengefasst: Zuerst hat er gesagt, wir sollten verhandeln. Dann hat er gesagt, wir sollten die Ukraine unterstützen, und sie muss Mitglied der Nato sein. Die Frage ist, welcher Teil der Ukraine? Nehmen sie Deutschland im Kalten Krieg. Ostdeutschland war Teil des sowjetischen Machtbereichs und Westdeutschland in der Nato. 

Es geht also darum, was militärisch erreichbar ist. So war der Koreakrieg militärisch schon 1951 festgefahren, aber einen Waffenstillstand gab es erst zwei Jahre später. 

Wer den Koreakrieg kennt, dem müssen die Parallelen wie Schuppen von den Augen fallen. Damals haben amerikanische Generale sogar den Einsatz von Atomwaffen gefordert. Der amerikanische Präsident Harry Truman sagte dazu: Sind Sie wahnsinnig? Das macht man sicher nicht. Aber heute hoffen die Amerikaner immer noch darauf, dass der Druck auf die Russen so groß wird, dass sie in die Knie gehen. Ich glaube, dass das grundsätzlich falsch ist, weil es der russischen Seele so nicht gerecht wird. Oder wir haben uns völlig getäuscht. 

Sie haben ein Buch über die „Schlacht um Wien“ im Jahr 1945 geschrieben. Sie beschreiben die Schlacht aus der russischen Perspektive. Hat die Recherche in den Moskauer Archiven Ihre Sichtweise auf Russland geprägt?  

Ich will nicht behaupten, dass ich die Russen verstehe. Gott bewahre. Aber ich konnte ein bisschen hinter den Vorhang blicken. Und die Russen sind ein sehr archaisches Volk. Und ich weiß, dass das für uns ein Problem ist: In unseren Wertekompass passen verschiedene Dinge nicht hinein. Nehmen wir Wagner, die für die Russen wie bloßes Fleisch sind. Wir sagen, um Gottes Willen, die armen Leute haben alle Verluste für die Russen. Für die hat es keine Bedeutung. Sie sind eine Spielfigur. Auch deren Chef Jewgeni Prigoschin ist nicht satisfaktionsfähig. Oder Ramsan Kadyrow, der als Vertreter der Tschetschenen nie einen Machtanspruch wird stellen können.

Aber bei den Russen wirken die Narrative etwa über den „Großen Vaterländischen Krieg“ bis heute nach. Und sie nutzen das in ihrer Propaganda aus. Sie sagen nicht, wir haben die Ukraine angegriffen, sondern der Westen hat Russland angegriffen. Es ist ein Überlebenskampf des russischen Volkes. Und das trifft jeden Russen in seiner DNA, sogar die, die eigentlich in Opposition zum Präsidenten stehen. 

Ist das völlig falsch? 

Na ja, nur was bedeutet das für uns? Wenn sich auf der anderen Seite die Reihen schließen, wird unsere Strategie natürlich nicht erfolgreich sein. Unter Druck schmiedet sich das Eisen noch besser. Auf der anderen Seite beschreibt das ein Dilemma. Auch hier gibt es eine schöne Parallele aus der Geschichte. Auf der Konferenz von Casablanca im Jahr 1943 forderten die Alliierten unsere bedingungslose Kapitulation. Ich habe viele Veteranen interviewt, die in der deutschen Wehrmacht gekämpft haben, darunter auch Offiziere. Ab diesem Moment sei ihnen klar gewesen: Wir müssen das bis zum Schluss durchgehen, es wird keine Alternative dazu geben. 

Sie erwähnten den Ersten Weltkrieg als Referenzpunkt. Im Jahr 1915 waren die Erwartungen auf einen schnellen Sieg zerstoben. Wir hatten eine völlig neue Situation. Im Jahr 1916 gab es Initiativen des Papstes, um einen Friedensschluss auszuloten. Sie schlugen fehl, der Krieg endete erst zwei Jahre später. Damals war die Katastrophe, dass es ab 1916 keinen Kompromiss mehr geben konnte. Beide Seiten hatten so viel investiert, wie sollte ein Kompromiss überhaupt noch aussehen? Zudem wurde der Krieg ideologisch aufgeblasen, etwa in der britischen Kriegspropaganda mit der Charakterisierung der Deutschen als Hunnen. 

Wenn wir diesen Moment übersehen, gibt es kein Zurück mehr. 

Und diesen Moment müssten wir wie verhindern? 

Zuerst einmal müssen wir begreifen, dass es so ist. Aber trotzdem versuchen, über verschiedene Kanäle Kompromisse auszuloten. Wir sind aber jetzt in so einer aufgeheizten Stimmung, dass der Kompromiss nicht zugelassen wird. Sie sehen das gerade in Deutschland an der Reaktion auf die Vorschläge von Sahra Wagenknecht und anderen. Wobei die Russen auch noch nicht so weit sind, um das überhaupt zuzulassen. Das ist das Dilemma: Wenn wir schon vorher wir in die Knie gehen und einen Kompromiss schließen, ziehen die Russen daraus die Schlussfolgerung, sie haben gewonnen. Immer wenn wir im Westen kurz hadern mit unserem Schicksal, bemerkt man das sofort in der Rhetorik der Russen: Aha, jetzt haben wir sie so weit. Das ist die Kunst, auf diese Sensorik einzugehen. Gleichzeitig dürfen die Amerikaner nicht versuchen, die Russen in die Enge zu treiben, damit es nicht eskaliert. Keiner kann absehen, was es bedeutet, wenn die kleine Entourage um den russischen Präsidenten möglicherweise sagt: Es ist so weit – und sie drücken den Knopf. 

Ein Szenario aus der Hölle. 

Denken Sie an den Zweiten Weltkrieg. Hitler sagte, wenn Deutschland nicht siegt, hat das deutsche Volk kein Recht zu überleben. Das kann man schwer abschätzen, obwohl es unglaublich erscheint. Auf der anderen Seite sind die Russen immer noch stark genug, dass ein Nachgeben als Schwäche interpretiert würde. Deshalb wäre ein regelmäßiger Austausch auf diplomatischen Ebenen so wichtig. Es gibt diesen Austausch zwar auf der militärischen Ebene: Russen und Amerikaner telefonieren regelmäßig, davon bin ich überzeugt. Das ist auch die gute Nachricht im Vergleich zu den Zeiten der Kubakrise 1962. Wir standen an der Schwelle zum Atomkrieg, und daraus hat man gelernt. Man müsste den US-Generalstabschef Mark Milley viel mehr zitieren, der darauf sehr moderat hinweist. Ich bin gespannt, ob dessen Nachfolger Charles Brown, ein Luftwaffengeneral, diese Rhetorik weiterführt oder nicht. 

Wenn wir uns heute wieder in der Situation von 1916 befinden sollten, müssen wir also ideologisch erst einmal abrüsten, um Fortschritte zu erzielen?

Dazu geht es uns noch zu gut, das ist das Dilemma. Auch das ist historisch schön nachvollziehbar. Es gibt den berühmten Ausspruch von Karl Kraus, der am Ende des Ersten Weltkrieges zum Beobachter geworden ist: „Krieg, das ist zuerst die Hoffnung, dass es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, dass es dem anderen schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, dass es dem anderen auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, dass es beiden schlechter geht.“ Wir sind immer noch im Glauben, dass es dem anderen schlechter geht als einem selbst. Die Betroffenheit ist auf unserer Seite noch nicht so groß, als dass man bereit wäre, einen Kompromiss zu finden. Wir schließen den zurzeit kategorisch aus, weil wir sagen: Wir sind die Guten, das sind die Bösen. Es kann keine Schule machen, dass das Böse gewinnt. 

 

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Welche Rolle spielen die Medien? Sie müssten doch dieses Problem beschreiben, anstatt es weiter anzuheizen. 

Es gibt diese aufgeheizte Stimmung, wo man berechtigterweise darauf hinweist, dass diese Weltordnung außer Rand und Band gerät. Das ist das große Dilemma, was hier mitschwingt. Wir haben die UN-Charta, wir haben das internationale Völkerrecht, auf das man sich nach den Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkrieges geeinigt hat. Wir haben sogar den Begriff des Krieges verboten und ihn durch den bewaffneten Konflikt ersetzt. Dann gab es den Koreakrieg, wo man Blauhelme hingeschickt hat.  

Das war aber ein historisches Versehen der Russen. Sie hatten 1950 den UN-Sicherheitsrat boykottiert, weshalb sie kein Veto einlegen konnten. 

Es hat den Vietnamkrieg gegeben, Afghanistan und viele andere Konflikte. Man hat sich aneinander gerieben in diesen Stellvertreterkonflikten, kannte aber seine Grenzen. Sie haben die Welt in einer gewissen Art und Weise beherrscht. Es ist das große Problem, dass das nicht mehr gültig ist. Und wenn wir zulassen, so das Argument, dass diese internationale Rechtsordnung und das Wertesystem auseinanderbrechen, dann gibt es keine Ordnung mehr. Wir gerieten in eine Situation wie vor dem Westfälischen Frieden. Und das ist natürlich ein Dilemma, wenn Russland damit durchkommt. Was bedeutet das? 

Aber kommt Russland damit durch, wenn dieser Krieg im Wesentlichen gescheitert ist? Die russische Sicht und die westliche Sicht müssen nicht immer übereinstimmen. Ein Kompromiss ist nur möglich, wenn beide Seiten das Gefühl haben, wir haben etwas erreicht. Wir können den Russen nicht streitig machen, dass sie etwas erreicht haben. Sonst wäre das eine Kapitulation. 

Beide Seiten brauchen etwas, das sie gegenüber ihren Bevölkerungen verkaufen können. Darum ist ein Waffenstillstand durchaus realistisch, weil er einen großen Vorteil hat: Du musst nicht sagen, verloren zu haben. Etwa die Russen so: Wir waren gerade am Gewinnen, aber machen jetzt eine kurze Pause. Wie immer der Konflikt ausgehen wird, auch bei einem Waffenstillstand, hat die Ukraine ein Narrativ: Wir haben gewonnen. Warum? Weil sie die Russen aufgehalten haben. 

Beide Seiten müssen auch den hunderttausenden Witwen und Waisen erklären, warum ihre Männer und Väter gestorben sind. 

Die Russen werden sagen, wir haben die Ukraine demilitarisiert und uns das geholt, was uns zusteht. Das kann man vergleichen mit der Situation im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Stichwort Dolchstoßlegende: Der betrogene Sieg, den man eigentlich vor Augen gehabt hätte, der einem aber genommen worden ist. Das wurde zum Nährboden für den Nationalismus und auch für den Nationalsozialismus.  

Was wäre denn heute die Dolchstoßlegende? 

Die Russen könnten sagen, wir hätten eigentlich gewonnen. Aber aufgrund listiger Umtriebe ist es den Ukrainern gelungen, uns mit westlicher Hilfe diesen Sieg zu nehmen. Darum müssen wir jetzt uns die nächsten fünf, zehn bis 15 Jahre vorbereiten, um noch einmal einzugreifen und uns das zu holen, was uns zusteht. 

Und aus der ukrainischen Sicht? Nehmen wir den früheren ukrainischen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk. Er hat schon eine Dolchstoßlegende vorbereitet: Die Ukraine hat nicht die Waffen bekommen, die sie für einen Sieg gebraucht hätte. Das wäre auch so ein Narrativ. 

Der Westen macht schon bei weitem mehr, als überhaupt möglich und denkbar war. Es ist nicht so, dass du einen Panzer schickst. Die Besatzung muss erst noch ausgebildet werden. Dieser Krieg ist so, wie fast alle Kriege in den vergangenen Jahrhunderten: Entweder sie wurden in den ersten Wochen und Monaten entschieden, oder es ist zu einem langen Konflikt gekommen. Beide Seiten müssen immer wieder neue Ressourcen zur Verfügung stellen, Soldaten ausbilden und so fort. Es ist wie ein Feuer, das man löschen möchte, aber wo man immer wieder Benzin hineinschüttet. Man hat nie ausreichend Wasser, man versucht immer, das Beste daraus zu machen. 

Um auf Henry Kissinger zurückzukommen. Seine große Leistung könnte man so beschreiben: Trotz der großen Schwierigkeiten, die im Vietnamkrieg zu erleben waren, nehmen wir nur die katastrophale Bombardierung Kambodschas, gelang es ihm im Jahr 1973, mit Nordvietnam einen Friedensvertrag genannten Waffenstillstand durchzusetzen. Er wusste natürlich, dass irgendwann einmal die Südvietnamesen untergehen werden. Aber es blieb so viel Zeit dazwischen, dass die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Großmachtposition nicht in Gefahr geriet. Das war bekanntlich sein wesentliches Ziel: dass ein amerikanischer Rückzug diese nicht beschädigt. 

Man musste diese Phasen durchleben. Die Phase der Siegesgewissheit, über die erste Ernüchterung. Wenn wir aber noch mehr Energie hineinsetzen, werden wir schon gewinnen bis zum Eingeständnis des Scheiterns. Dann kommt der Versuch, aus dem Schlamassel herauszukommen. So ist es auch hier. 

Meine größte Befürchtung ist die Eskalation von einem regionalen Konflikt zu einem globalen Krieg der Weltmächte mit der Gefahr eines Atomkrieges. Es ist aber bisher gelungen, dieses Szenario zu verhindern. Das ist eine große Leistung der verantwortlichen Akteure.  

Daran haben alle Konfliktparteien mitgearbeitet. 

Mittlerweile haben sich aber die Kriegsziele aus meiner Perspektive verändert. Russland, China, Indien, Südafrika und viele Staaten aus Lateinamerika sehen ihn als eine Möglichkeit, die amerikanische Vorherrschaft loszuwerden. 

Wir übersehen im Westen, dass ein Teil der Welt die Chance sieht, aus einer untergeordneten Ebene in eine höhere aufzusteigen. Nehmen Sie das heutige China mit seinem Präsidenten Xi Jinping. Er kann noch in seiner Lebenszeit China zu neuer Größe führen. Das gab es in dieser Form noch nie. Mao hatte Visionen, aber die Umsetzung nie erlebt. Man muss sich nur die Verabschiedung zwischen Putin und Xi Jinping nach dem Besuch in Moskau ansehen: Wo der eine zum anderen sagt, wir stehen jetzt zusammen. Wir haben das erste Mal nach hundert Jahren die Chance, etwas zu erreichen, und Putin sagt, du hast recht.

Das ist das Entscheidende: Russland kann alleine diesen Krieg nicht gewinnen. Aber was passiert, wenn Russland zusammen mit China, mit Indien, mit Regionalmächten wie dem Iran und der Türkei und anderen Staaten ein Arrangement trifft, es dem Westen jetzt noch mal zu zeigen? Das haben wir im Westen noch nicht verstanden. Wir beruhigen uns mit Hinweisen auf die Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten oder der Hoffnung, das werde schon irgendwie gut ausgehen.  

Dazu eine Frage zum westlichen Selbstverständnis. Österreich war seit 1955 neutral. So wie es die Schweiz und Schweden schon lange waren. Sie gehörten politisch und ideologisch trotzdem zum Westen. Ist es vor diesem militärischen und politischen Hintergrund sinnvoll, diese formale Neutralität aufzugeben? Schweden, Österreich und die Schweiz sind zwar vergleichsweise kleine Staaten, haben aber weltpolitisch trotzdem eine Rolle gespielt, weil sie formal nicht in die westlichen Strukturen integriert waren. Ist das heute noch gültig?  

Wir leben in anderen Zeiten. Erstens spielte Österreich aus meiner Sicht nicht immer die Rolle, die es sich selbst als Mittler zwischen den Welten zugesprochen hat. Zweitens traf das nur auf die Zeit des Kalten Krieges zu, weil die Großmächte dort den Ort sahen, wo sie sich treffen konnten, ohne dass eine Seite befürchten musste, der Gastgeber stehe auf der anderen Seite. Österreich hat aber auch davon profitiert, Teil des Westens zu sein. Heute ist die neue Grenze des Kalten Krieges Richtung Osten gerückt. Dieses Argument ist deshalb nicht mehr zulässig.

Man muss aber die österreichische Geschichte verstehen. In unserer Bundeshymne heißt es „Heiß umfehdet, wild umstritten / Liegst dem Erdteil du inmitten.“ Sieht man sich die österreichische Geschichte an, dann ist es ein Schlachten und Morden von Jahrhundert zu Jahrhundert. Alle slawischen Stämme, ob die Hunnen, die Awaren oder die Ungarn, Mongolen, Osmanen, alle sind auf ihrem Weg Richtung Westen bei uns vorbeigezogen, haben einmal grundsätzlich alles ausgelöscht, gerade auch in der osmanischen Zeit. Dann gab es noch zwei Kriege, wo man eindeutig auf der falschen Seite war. Die Österreicher sind mittlerweile satt. Das ist so ein Grundkonsens. Wobei sich die Frage stellt: Wer ist der Österreicher überhaupt? Also sagt man, bitte lasst uns in Ruhe, das geht uns nichts an. Das wird sich erst ändern, wenn es zur Betroffenheit kommt. 

Die Zeitenwende hat also diese frühere Neutralität von Staaten wie Finnland, Schweden, Österreich oder der Schweiz obsolet gemacht?

Was bei Österreich hinzukommt: Wir glauben immer, wir seien an der Peripherie. Das ist nicht der Fall. Wir sind geografisch eine Drehscheibe. Wir können nicht einfach sagen, wir nehmen uns da raus. Das würde man auch nicht zulassen.  

Gerade wegen Ihrer historischen Erfahrung rechnen Sie also mit einem langen Krieg in der Ukraine? 

Das wird so passieren, solange beide Seiten sich nicht eingestehen, dass sie quasi verloren haben. Bis dahin sind wir in der Frühphase des Krieges. Bis zu der Phase, wo man sich eingesteht, es geht so nicht weiter. Erst dann gibt es möglicherweise den Waffenstillstand. 

Aber den berühmten großen Kladderadatsch, wie die russische Revolution von 1917, erwarten Sie nicht? 

Wer kann das ausschließen? Aus derzeitiger Sicht müsste man das ausschließen. Aber wenn Sie im September 1917 dem deutschen Generalstab diese Frage gestellt hätten, dann hätte der eine oder andere gewusst, dass Lenin von uns Richtung Russland geschickt wird, aber keiner hätte gewusst, dass es diese Ausmaße annimmt. Historiker erwecken immer den Eindruck, als wenn alles linear und voraussehbar gewesen wäre. Aber Geschichte verläuft nie linear. Nur der Historiker hat die Informationen, die man übereinanderlegt, und weiß erst dann, was beide Seiten gleichzeitig gedacht haben. Aber das wissen wir nicht. Wir stehen, wie man in Österreich sagt, wie die Kuh vor dem neuen Tor und wissen nicht, was dahinter passiert. Wir sind wie Eintagsfliegen ohne historisches Gedächtnis. Es fehlt auch das Wissen über vergangene Epochen. Eine Menschengeneration kann so viele Dinge nicht erfassen. Würde die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs noch leben, wäre der eine oder andere wegen dieser Erfahrung in ernsthafte Verhandlung gegangen. 

Kann man das so zusammenfassen: Die Generation von Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher hätte wahrscheinlich anders reagiert?

Die hätten dann vielleicht gesagt, wenn ein Politiker nach Brüssel fährt: Du weißt, was ich erlebt habe. Das möchte man nie mehr haben. Es ist egal, wie du zurückkommst, aber wir brauchen einen Kompromiss. 

Wir können also Geschichte nutzen, um Problembewusstsein zu schaffen. Wir wissen nicht, was passieren wird, aber wir wissen, was schiefgehen kann. 

Die Geschichtsschreibung bietet sich immer dann an, wenn es zu einer Zuspitzung kommt. Was ist in der Vergangenheit passiert, und wie hat man damals diese Dinge gelöst, bevor man wieder dieselben Fehler macht wie in der Vergangenheit. 

Das Gespräch führte Frank Lübberding.

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