Ukrainekrieg - Wer hat den Kachowka-Staudamm zerstört?

Die Sprengung des Kachowka-Staudamms ist ein weiteres schweres Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg. Die politischen Sprecher in Kiew und Moskau geben sich derweil gegenseitig die Schuld. Doch gibt es keine logische Erklärung dafür, warum die Ukraine dies hätte tun sollen.

Der gesprengte Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine (Video-Standbild) / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Mit der Sprengung des Staudamms von Nowa Kachowka hat der russische Krieg gegen die Ukraine eine neue Dimension erreicht: Mehr als 100.000 Menschen sind durch die Wassermassen bedroht, mittelfristig könnten überdies die Einwohner der Region Cherson im Süden der Ukraine ohne Strom und Wasser bleiben. Die Kiewer Führung um Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von einem weiteren Kriegsverbrechen der russischen Invasoren, der Chef der Präsidialkanzlei Andrij Jermak warf der russischen Seite vor, einen Ökozid hervorrufen zu wollen, die gezielte Zerstörung der Lebensgrundlagen in dem Gebiet.  

Erwartungsgemäß wies das russische Verteidigungsministerium die Anschuldigungen zurück. Vielmehr habe ein ukrainischer Sabotagetruppe den Damm gesprengt. Allerdings gibt es keine logische Erklärung dafür, warum Kiew dies hätte tun sollen. Viel plausibler ist die Version, dass die russische Militärführung angesichts der jüngsten Rückschläge in der Ostukraine ukrainische Kräfte binden wolle, die statt an der Front nun für den Katastrophenschutz eingesetzt werden müssen.

Atomkraftwerk Saporischschja wurde durch den Stausee versorgt

Der 3,6 Kilometer breite und 30 Meter hohe Staudamm befindet sich am Südwestende des Saporoger Stausees. Das ihm angeschlossene Wasserkraftwerk, das nun vermutlich weitgehend zerstört wurde, ist das sechste in einer Kette entlang des Dnjeprs, die alle in der Stalinzeit erbaut wurden, um die Stromversorgung nicht nur der Städte und Dörfer, sondern vor allem auch der forciert aufgebauten Schwerindustrie in der Ukrainischen Sowjetrepublik zu sichern. Es waren gigantische Projekte, deren Pläne in den dreißiger Jahren überwiegend westliche Ingenieure entworfen hatten. Auf den Großbaustellen kamen nach dem Krieg auch in großem Umfang deutsche Kriegsgefangene zum Einsatz. 

Auch die Kühlsysteme des Atomkraftwerks Saporischschja, des größten AKWs Europas, wurden bislang durch den Stausee versorgt. Das Kraftwerk auf dem Südufer haben im vergangenen Frühjahr russische Truppen besetzt, sein Betrieb wurde wiederholt unterbrochen. Die Internationale Atomenergiebehörde der Vereinten Nationen (IAEA) wurde wiederholt daran gehindert, dort Prüfungen des Betriebs vorzunehmen.  

Die von Moskau eingesetzte Gebietsverwaltung teilte über die Presseagentur Tass mit, dass keine Gefahr bestehe. Dem widerspricht die Leitung der ukrainischen Atomenergiebehörde: Es drohe sehr wohl ein Ausfall der Kühlsysteme, sollte nicht genügend Wasser aus dem Stausee nachfließen können. 

Urheber der Sprengung

Ein Berater Selenskyjs benannte die Urheber der Sprengung: Es handle sich um die russische „205. Motschützeneinheit“, die im Gebiet der Kleinstadt Nowa Kachowka stationiert sei; Angaben zum übergeordneten Armeeverband machte er nicht. Zwar hatte Selenskyj schon im vergangenen Herbst davor gewarnt, dass die Russen den Staudamm sprengen könnten, als sie sich aus dem Großteil des Gebiets Cherson auf dem rechten Dnjepr-Ufer angesichts der ukrainischen Gegenoffensive zurückziehen mussten.  

Doch Experten hielten dies für eher unwahrscheinlich: Denn über den Stausee wird auch der Krim-Kanal mit Wasser versorgt, wenn der Zufluss ausbleibt, ist auch die Bevölkerung der 2014 von Moskau annektierten Halbinsel betroffen. Ohnehin sind dort die Wasser- und Stromversorgung wiederholt stark eingeschränkt worden, was zu großem Unmut in der dortigen Bevölkerung geführt hat. 

 

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Allerdings verweist man in Kiew auch darauf, dass für die Moskauer Führung die Bedürfnisse der Menschen nie eine Rolle gespielt hätten. Angeführt wird die Sprengung der Dnjepr-Talsperre nahe der Großstadt Saposchschja im August 1941 durch Soldaten des militärisch organisierten Geheimdienstes NKWD. Die Wassermassen sollten den Vormarsch der Wehrmacht stoppen, was indes fehlschlug. Die Zahl der Opfer in der unvorbereitet von den Wassermassen getroffenen einheimischen Zivilbevölkerung schätzen Historiker auf bis zu 100.000. Die deutschen Besatzer bauten die Staumauer wieder auf, um sie im Oktober 1943 während der Gegenoffensive der Roten Armee aus der Luft zu bombardieren und somit erneut zu zerstören. 

Nach Angaben aus Moskau sind die Orte auf dem Südufer, das unter russischer Kontrolle steht, nicht gefährdet. Auf der Nordseite hat noch in der Nacht eine Evakuierung von Tausenden Menschen eingesetzt. Es bedeutet eine weitere Binnenflucht innerhalb der angegriffenen Ukraine, bis zu 100.000 Menschen könnten das Dach über dem Kopf verlieren. 

Ein weiteres schweres Kriegsverbrechen

Selenskyj schrieb auf Telegram: „Russische Terroristen. Die Zerstörung beweist erneut der ganzen Welt, dass sie aus jedem Winkel des ukrainischen Territoriums vertrieben werden müssen. Kein einziger Meter darf ihnen bleiben, denn sie nutzen jeden Meter für Terror.“ Wassyl Maljuk, Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, erklärte: „Wir müssen nicht nur die Elite des Putin-Regimes vor Gericht bringen, sondern auch alle, die die Befehle ausführen.“ Für Rechtsexperten steht außer Frage, dass die Sprengung ein weiteres schweres Kriegsverbrechen ist, da die Zivilbevölkerung betroffen ist und dafür sie keinerlei militärische Rechtfertigung geben kann. 

Bereits im Herbst hatte Selenskyj mitgeteilt, dass nach Erkenntnissen des ukrainischen Geheimdienstes russische Einheiten die Staumauer vermint hätten. Kiewer Medien berichten unter Berufung auf das Energieministerium, dass in den letzten Wochen viel weniger Wasser als üblich für die Jahreszeit aus dem Stausee abgeflossen sei. Ein Experte wurde mit den Worten zitiert: „Die Russen wollten den größtmöglichen Zerstörungseffekt erzielen, deshalb haben sie in letzter Zeit kein Wasser abgelassen.“ 

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