Ukraine-Reportage - Asche in der Seele

Nach drei Monaten Krieg machen sich viele Ukrainer auf den Weg in die Heimat. Aber was erwartet sie dort? Während in Kiew schon Theaterstücke über den Krieg aufgeführt werden, wird im Osten des Landes noch täglich gestorben. Die verheerenden Bilder der Zerstörung gehen allerdings zum Großteil nicht auf das Konto der russischen Streitkräfte.

Charkiw im Mai: Tausende Menschen leben aus Angst vor russischen Raketen weiterhin auf den Bahnsteigen der U-Bahn / Moritz Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Maryna Vasylenko ist auf dem Weg nach Hause. Die 30-Jährige, schwarze Leggins und schwarzes Top, fummelt sich ihr Armband aus dem Berliner Club Berghain vom Handgelenk. Sie sieht müde aus. Das Wochenende hat sie mit Tanzen verbracht, jetzt sitzt sie im Zug Berlin-Warschau, nach knapp zwei Monaten in Deutschland. Sie will zurück nach Kiew und herausfinden, ob es sich dort wieder leben lässt. „Für mich stand immer außer Frage, dass ich irgendwann zurückkommen werde. Der Krieg hat mich zur Patriotin gemacht“, sagt sie. Das Bild von Vasylenko bei einer Demo in Berlin Anfang April wurde zum Hit unter Ukrainern: „We will rave on Putin’s grave“, wir werden tanzen auf Putins Grab, steht da in tiefroten Buchstaben auf dem Plakat, das sie in die Luft hält, im selben beigen Trenchcoat, der jetzt im Gepäckfach im Intercity nach Warschau liegt.

Wenn alles nach Plan läuft, will sie demnächst mit dem Auto zurück nach Berlin, eine Wohnung mieten und einen Aufenthaltsstatus bekommen. Sie hat einen Termin in der Ausländerbehörde für Ende Mai. Maryna ist nicht als Bittstellerin nach Deutschland gekommen, sondern weil ihr Leben bedroht war. Von Berlin aus hat sie weiter für die Kiewer PR-Agentur Banda gearbeitet, seit März entwickeln sie und ihre Mitstreiter Ideen für die Kampagne „Be Brave Like ­Ukraine“ – Sei so mutig wie die Ukraine. 

Wiedereröffnung der Botschaften

Maryna erzählt, wie sie während Gesprächen in Berlin irgendwann aufgehört hat zu erwähnen, dass sie aus der Ukraine kommt. „Wenn ich das sagte, folgte immer so eine tragische Pause“, erklärt sie. Dann war sie plötzlich nicht mehr eine junge Frau in einem Club, sondern eine Ukrainerin, die bemitleidet werden muss. Das will die lebensfrohe Maryna aber nicht sein. In Warschau steigen wir in den Nachtzug nach Kiew, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Am nächsten Morgen verliere ich Maryna in ihrem Trench­coat schnell aus den Augen. Auf dem Bahnsteig in Kiew herrscht freudiges Gedränge: Männer nehmen ihre Frauen und Kinder wieder in den Arm, die sie seit Monaten nicht gesehen haben. Tausende kehren seit Ende April täglich wieder in die Ukraine zurück, an den Grenzübergängen bilden sich lange Schlangen von Menschen, die sagen: Do domu, nach Hause, nach Winniza, Kiew oder Poltawa. Aber auch der Strom in die andere Richtung versiegt nicht: Menschen aus der Ost- und Südukraine, aus Kramatorsk und dem von Russen besetzten Cherson, fliehen in Richtung Polen aus der Ukraine. 

Junge Ukrainerinnen schießen Anfang Mai
Selfies im Kiewer Botanischen Garten

In Kiew eröffnen zweieinhalb Monate nach Beginn des russischen Überfalls – und einen Monat nach ihrem Rückzug aus dem Norden des Landes – die ausländischen Botschaften wieder. Politiker aus dem Westen geben sich im Präsidentenpalast die Klinke in die Hand. Die direkte Gefahr eines erneuten russischen Angriffs auf die Hauptstadt der Ukraine scheint gebannt – auch wenn noch tagtäglich mehrfach die Luftalarmsirenen heulen und an die aus dem Schwarzen Meer heranfliegenden russischen Marschflugkörper erinnern. Wohin fliegen sie heute: nach Lwiw, nach Kiew – oder nur bis Odessa?

Rostende Wracks in Charkiw

In der Hauptstadt ist der Krieg mehr als zwei Schritte entfernt, in Charkiw höchstens einen halben. Im Osten des Landes, 500 Kilometer Luftlinie von Kiew, auf den sich Putins Eroberungsfeldzug seit Anfang April konzentriert, herrscht eine ganz andere Wirklichkeit.

„Verflucht, seine Därme hängen da raus“, schimpft einer der beiden Ukrainer, die mit ihrem Lieferwagen aus Charkiw herausgefahren sind. „200“ steht in schwarzen Buchstaben auf einem weißen Blatt hinter der Windschutzscheibe, der Armee-Code für Gefallene. Er schaut sich um, findet dann zwischen den Schrapnellen, den Erdklumpen und dem verrosteten Metall, das auf dem Asphalt verteilt ist, ein Brett. Damit schiebt er das, was von den Därmen des russischen Soldaten nach zweieinhalb Monaten übrig ist, auf den Leichnam, der schon auf der Bahre liegt. Ein erbärmlicher, süßlicher Gestank verdrängt die frische Frühlingsluft an diesem Tag im Mai, hier im Norden von Charkiw, wo die Straße in den Vorort Zirkuny den Autobahnring um die zweitgrößte Stadt der Ukraine kreuzt.

Der Geschützturm eines russischen Panzers liegt am Straßenrand, die Spitze der Kanone hat sich in den Sand gebohrt, mehrere Wracks von Militärfahrzeugen rosten vor sich hin. Am nördlichen Rand von Charkiw, jener Stadt mit knapp zwei Millionen Einwohnern, keine 35 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, geriet die russische Offensive ins Stocken. Zehn Wochen lang schossen russische Panzer, Raketenwerfer und Haubitzen aus den Vororten in den Nordosten von Charkiw. Der russische Soldat, den die Ukrainer nun bergen, lag seit dieser Zeit im Niemandsland.

Ahnungslos über die Umwelt

Dass die beiden Ukrainer hier so ruhig ihrer grausigen Tätigkeit nachgehen können, ist möglich, seit die Ukrainer nun, im Mai, Putins Truppen bis an die russische Grenze zurückdrängen. Aber der Krieg ist weiter nah. Man hört das Grollen aus dem Osten über die Felder rollen, ausgehendes Artilleriefeuer der Ukrainer und die Antworten der Russen. In Zirkuny, einem 7.000-Einwohner-­Ort drei Kilometer die Straße weiter, kommen die Menschen ängstlich aus ihren Häusern. Der Ort wurde von den Russen gleich zu Kriegsbeginn überrollt. Nur 2.000 bis 3.000 sind geblieben, die anderen gleich zu Anfang nach Charkiw geflohen, dann war für wenige Tage nur noch der Weg Richtung Russland offen. 

In Häusern im Charkiwer Vorort Zirkuny
haben russische Soldaten das Zeichen ihrer
„Spezialoperation“ hinterlassen

Am Ortseingang von Zirkuny steht Anatolij, 72 Jahre alt, langer weißer Bart, in Pulli und Turnhose vor der Metalltür seines Grundstücks. „Hier sind Menschen“, hat er darauf in großen Buchstaben geschrieben. „Gott sei Dank haben sie uns befreit“, sagt er müde. „Wir haben zu Gott gebetet, und er hat unsere Gebete erhört.“ Er erzählt, dass es gleich von Beginn an keinen Handyempfang und Strom mehr gab in Zirkuny. Immerhin funktionierte bis vor einer Woche noch die Gasleitung. Seitdem kochen sie auf einem Feuer im Hof. Ohne Handy­empfang wussten die Menschen seit Ende Februar nicht, was um sie herum vor sich ging. „Wir haben nur die Granaten, Raketen und Flugzeuge über unser Haus fliegen hören“, sagt Anatolij.

Plünderer in den Straßen

72 Tage saßen er und seine Frau im Keller. Am Donnerstag, spät am Abend, seien die Russen „sehr schnell abgehauen“. Offenbar fürchteten sie, von den Ukrainern umzingelt zu werden: Links und rechts von Zirkuny waren die ukrainischen Truppen schon vorgestoßen.

Anatolij beschwert sich nicht über die Russen, sie hätten sich für ihn und seine Frau kaum interessiert, manchmal sogar Lebensmittel gebracht. Anders sein Nachbar Oleg einige Häuser weiter: In seinem Nachbargebäude, einem edel ausgebauten zweistöckigen Wohnhaus, hatten sich die Russen einquartiert. Er, seine Frau und die zwei Töchter saßen im Keller, hörten aber, wie die Russen sich abends und nachts stritten und wild herumschossen, wenn sie betrunken waren. Er erzählt, dass die Russen unter den Dorfbewohnern immer wieder nach „Gras“, also Marihuana, gefragt hätten.

Beim Rundgang durch das ehemalige „Hauptquartier“ sieht man an mehreren Wänden den mit einer Spraydose an die Wand gesprühten Buchstaben Z, Reste russischer Armeeverpflegung, durchwühlte Schubladen, im Wohnzimmer ein riesiger zerstörter Flachbildfernseher. „Da haben sie beim Abzug reingeschossen“, erzählt Oleg. „Und mir zugerufen: Als Andenken für den Hausbesitzer.“ Ob der zerstörte Computer vor der Haustür auch aufs Konto der Russen geht, ist schwer zu sagen: In den Tagen seit dem Abzug ziehen Plünderer durch die vielen verlassenen Häuser. Ähnliches trug sich in den ersten Tagen auch in den Kiewer Vororten zu, nachdem die Russen sie verlassen hatten. Eine weitere Parallele zu den Kiewer Vororten ist der Autodiebstahl durch die Russen: In der Telegram-Gruppe von Zirkuny posten Menschen Bilder ihrer Autos – begleitet von der Frage: Hat es jemand gesehen?

Wut auf die Russen

Kam es hier zu Gräueltaten wie in Butscha bei Kiew? Auf den ersten Blick gibt es nur wenige Anzeichen dafür. Zwar überprüften die Russen auch hier die jüngeren Männer wie Oleg auf Tätowierungen, die auf eine Teilnahme am Krieg im Donbass hinweisen. Und sie nahmen den Menschen die SIM-Karten weg, um zu verhindern, dass sie ihre Positionen an die ukrainische Armee weitergeben.

Oleg und der Pfarrer der Gemeinde erzählen unabhängig voneinander auch von einem Mann, den zwei russische Soldaten getötet hätten. Die beiden hätten aus Langeweile auf Hunde und Katzen gefeuert, dagegen habe der Mann protestiert und sei erschossen worden. Die Soldaten hätten dann versucht, die Leiche zu verbrennen, seien aber von Bewohnern gestoppt worden. „Der Kommandeur der Russen hat die beiden dann aber bestraft. Wie genau, weiß ich nicht“, erzählt Oleg. „Jedenfalls waren sie von diesem Moment an nicht mehr in Zirkuny.“ Zudem gibt es Berichte über junge Männer, die von den Russen bei ihrem Abzug mitgenommen wurden – angeblich, so erfährt man von einer Verwandten, müssten die jetzt Schützengräben für die Russen graben. Ein direkter Kontakt zu ihnen besteht aber nicht mehr.

Ukrainische Soldaten im Charkiwer Vorort Zirkuny auf
einem Panzer, den sie von russischen Soldaten
erbeutet haben

Igors Frau Ljuda, eine resolute Lehrerin Mitte vierzig, einen Anstecker mit der ukrainischen Flagge an der rosa Bluse, lässt ihrer Wut auf die Russen freien Lauf. „Ihr Z steht für klauen, versauen und abkratzen“ – alle drei Worte beginnen auf Ukrainisch mit „Z“. Um das zu demonstrieren, führt sie einen Kilometer die Straße hinunter in die Schule von Zirkuny, die mehrere Granattreffer abbekommen hat und schwer beschädigt ist. Auch hier waren die Russen einquartiert. „Die war frisch renoviert, alles neu“, sagt sie.

Die meisten Zerstörungen durch Ukrainer

Zur Wahrheit gehört aber auch: Die meisten Zerstörungen in Zirkuny gehen auf das Konto der Ukrainer. „Die Russen haben sich mit ihren Panzern zwischen den Häusern versteckt, oft mit Tarnnetzen abgedeckt, sind kurz auf die Straße rausgefahren, um zu schießen – und dann wieder zurück zwischen die Häuser“, erzählt die Lehrerin Ljuda. Die Ukrainer ließen ihre Drohnen über dem Städtchen fliegen – und zielten dann mit Artillerie oder Drohnen auf die russischen Panzer. Oft genug, das zeigen die vielen zerbombten Dächer, schlugen die Geschosse in die umstehenden Häuser ein.

Seit dem 7. Mai schlagen nur noch russische Geschosse ein. Tag und Nacht rummst es hier, an diesem Nachmittag gerät ein Lager in Brand, dicker schwarzer Rauch steigt in den Himmel. Am nächsten Tag schlägt eine Granate in das Nachbarhaus von Ljuba ein. Der Horror ist für diese Menschen noch lange nicht vorbei: Denn die russische Grenze, 35 Kilometer entfernt, lässt sich nicht verschieben.

Soldatenattrappe an einem ukrainischen Kontrollposten außerhalb von Charkiw

Jetzt, in den ersten Tagen nach der Befreiung, kommen auch die ­„SBUschniki“ in die Orte außerhalb von Charkiw. Die Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdiensts SBU sind auf der Suche nach Kollaborateuren – treffen aber nicht immer auf Verständnis unter den Menschen, die zweieinhalb Monate Horror hinter sich haben. „Da kommt einer ins Haus und fragt mich: Wo waren Sie am 24. Februar?“, erzählt die Lehrerin Ljuda. „Und ich frage ihn: Wo warst du denn am 24. Februar?“ Geheimdienstler und Polizisten seien die Ersten gewesen, die Richtung Charkiw geflohen seien. Sie versteht bis heute nicht, warum der ukrainische Staat trotz der Warnungen der Amerikaner bis zuletzt nicht an eine russische Invasion geglaubt habe – und deshalb keine Vorkehrungen getroffen hatte. Den russischen Vormarsch stoppte die Armee erst an der Stadtgrenze von Charkiw – alle Ortschaften von der russischen Grenze bis hierher gerieten in den ersten Tagen unter russische Besatzung.

Leben in der Metrostation

In Charkiw selbst, jener quirligen Universitäts- und Industriestadt, kommt das Leben nur langsam, sehr langsam wieder in Gang. Anfang Mai ist nur noch eine gute halbe Million der sonst 1,8 Millionen Einwohner in der Stadt. Zwar fliegen kaum noch russische Geschosse auf das Stadtgebiet, aber die Menschen fürchten noch immer die russischen Bomben. Bis Mitte Mai hat der Krieg allein im Gebiet Charkiw über 600 tote Zivilisten gefordert – die Dunkelziffer ist hoch. Mehrmals am Tag schallen die Luftalarmsirenen durch die Stadt. Die Fabriken stehen still, manche wie die Flugzeugfabrik im Norden der Stadt sind schwer zerstört. Die Trams fahren nicht mehr, weil die russischen Raketen die Umspannwerke getroffen haben. Die Metro steht still, weil auf den Bahnsteigen und in den Zügen noch immer Menschen leben.

Irina, 61 Jahre alt, in ihrem Leben vor dem 24. Februar Architektin, eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren in einem hellrosa Pullover, steht 35 Meter unter der Puschkin-Straße im Zentrum der Stadt, gießt sich aus einem Kanister Wasser in den Wasserkocher und wartet. Sie lebt seit über einem Monat in der Metrostation Puschkinskaja im Stadtzentrum, zusammen mit etwa 150 anderen. Den ersten Monat hat sie noch mit ihren Nachbarn im Keller ihres dreistöckigen Wohnhauses im Charkiwer Norden verbracht, dann schlug das Geschoss einer Haubitze ein Loch in ihr Haus, ihre Wohnung hat seitdem keine Fenster mehr.

Bei ihrem Abzug aus Zirkuny bei Charkiw
haben die russischen Soldaten in einem
Wohnhaus diesen Großbildfernseher
zerschossen

Irina zeigt ihr Lager: Eine Matratze, eine Decke, auf einer Pappkiste hat sie ihren Kaffeebecher abgestellt, daneben ein paar Plastikboxen mit Krautsalat, die Helfer gebracht haben. So wie sie leben noch Tausende der Menschen von Charkiw – an einer Metrostation im Norden sind es über 600. „Wir sind jetzt alle gleich“, sagt die Architektin mit Blick auf die Menschen um sie herum, die leben wie sie: Manche haben Zelte aufgestellt, Bücher und Konserven gestapelt, andere sogar ihre Katzen und Hunde mitgebracht. Am Ende des Bahnsteigs gibt es eine Spielecke für die Kinder, vor der Büste des russischen Dichters Puschkin. So leben sie vor sich hin, im hellen Licht der Kronleuchter, Tag und Nacht.

Erste Theaterstücke über den Krieg

Nach draußen gehen die Menschen nur, wenn es sein muss: Irina füttert zweimal am Tag die Katzen in der Wohnung ihrer Schwiegermutter, dort kann sie auch duschen. Sie bedankt sich bei den Helfern, aus Charkiw und aus der ganzen Welt. Sie ist glücklich, dass sie am Leben ist. Aber Irina ist auch müde. „Hier unten haben alle ständig Husten. Und ich habe keine Ersparnisse mehr“, sagt sie. Einige Dutzend von der „Pusch­kinskaja“ haben es nicht mehr ausgehalten, sind die finsteren Metrotunnel bis zum Bahnhof gelaufen und von dort Richtung Westen gefahren.

Auf dem mühsamen Weg die Roll­treppen hoch – sie sind seit Kriegsbeginn abgestellt – läuft man an Werbebannern vorbei, die an die Zeit vor dem Krieg erinnern: KFC wirbt für Chicken Wings mit Cola und Pommes für 99 Griwna, der Charkiwer Zirkus kündigt ein neues Programm an, ein Schönheitsstudio bietet Haarentfernung mit Lasertechnik an.

Während in Charkiw das Grollen der Geschütze bis in die Innenstadt zu hören ist, findet der Krieg in Kiew nur noch auf der Bühne statt. Das ehemalige „Theater des russischen Dramas“ unweit des Präsidentenpalasts hat sich nur vier Tage nach Kriegsbeginn in „Lesja-Ukrainka-Theater“ umbenannt. Seit Mitte April, zwei Wochen nach dem Abzug der russischen Truppen, werden wieder Theaterstücke aufgeführt, nur noch auf Ukrainisch. Und ein Thema dominiert alles: der Krieg. Auf dem Spielplan steht heute „Blokpost“. Eine Woche haben die Proben gedauert, es basiert auf den Erlebnissen eines ukrainischen Journalisten aus den ersten Kriegstagen. „Blokpost“ spielt in der Nacht vor Kriegsbeginn an einem Kontrollpunkt nahe der russischen Grenze. Ein alter Mann sitzt mit dem Jagdgewehr vor Sandsäcken, erklärt dem furchtsamen Enkelsohn, es werde keinen Krieg geben. „Die Russen und wir sind doch Nachbarn, wir haben zusammen gegen die Faschisten gekämpft.“ Dann knallt es, und der alte Mann sagt entgeistert: „Ze sch wijna.“ Das ist ja Krieg.

Über 3500 tote Zivilisten

„Alles, womit wir uns im Theater vor dem 24. Februar beschäftigt haben, hat seine Bedeutung verloren“, erklärt Regisseur Alexander Stepanzow, nachdem die Zuschauer den Saal verlassen haben, manche mit Tränen in den Augen. „Die Schauspieler und ich, wir fragen uns, wie und worüber wir mit den Zuschauern sprechen sollen. Wir suchen eine neue Sprache.“ Es gebe jetzt eine große Nachfrage der Menschen nach Theater. „Nach Butscha haben die Menschen Asche in ihrer Seele, und wir müssen uns fragen, wie wir sie noch erreichen können. In dieser Zeit entsteht ein ganz neues Verständnis – von uns selbst und von uns in diesem Land.“ 

Asche in der Seele hat Viktor Makowej. Der 48-Jährige steht in seiner Küche im siebten Stock eines Wohnhauses in Irpin, eine Stunde Autofahrt nordwestlich von Kiew, und führt einen Monolog über seinen Hass auf die Russen. Der Möbeldesigner, aufgewachsen in Dnipro, ist erst im vorigen Jahr in die Stadt gezogen, die ab dem 24. Februar zum Epizentrum der Schlacht um Kiew wurde. Ins direkt angrenzende Butscha waren die Russen vorgerückt, Irpin hielten die Ukrainer zum größten Teil. Fast alle Nachbarn seines Hauses flohen, Viktor blieb. „Ich war böse. Irgendwelche Bastarde waren in mein Haus gekommen. Und ich wollte sie töten“, erklärt er seinen Entschluss.

Viktor, ohne jede militärische Erfahrung, half der Armee beim Ausheben von Schützengräben, er schmierte Butterbrote für die Kämpfer, er begrub im benachbarten Park eine alte Frau, deren Herz dem Horror nicht mehr gewachsen war, oft genug saß er in seiner Wohnung, später nur noch im Keller, die Hände vor den Augen, und sang die ukrainische Nationalhymne: „Schtsche ne wmerla Ukraina“, noch ist die Ukraine nicht gestorben. Bis zum 23. März, da wurde seine Nachbarwohnung von einem russischen Geschoss getroffen und Viktor floh nach Kiew. Er hat Glück gehabt: Dass er überlebt hat, dass Irpin nicht von den russischen Truppen eingenommen wurde wie Butscha. Diese Städte haben den russischen Vormarsch aufgehalten, haben Kiew gerettet.

Butscha bei Kiew. Auf dem Tor steht: Friedliche Bewohner, darunter „Ruhm der Ukraine“

Irpin ist schwer zerstört, es sieht hier aus wie in den nördlichen Vierteln von Charkiw: Es sind die Ergebnisse der russischen Kriegsführung, die darauf zielt, ganze Stadtteile dem Erdboden gleichzumachen und damit Angst und Schrecken zu verbreiten. Laut UN hat der Krieg bis Mitte Mai über 3500 Opfer unter Zivilisten gefordert, die meisten davon getötet während Bombardements mit Mehrfachraketenwerfern und schwerer Artillerie. Die wirklichen Zahlen werden allerdings als „deutlich höher“ eingeschätzt, denn zu vielen Gebieten gibt es keinen Zugang: Weil dort noch gekämpft wird, oder weil die Russen sie besetzt halten.

Neue Normalität kehrt ein

Aber in Irpin und in Butscha beginnen die Menschen wieder zu leben. Frisches grünes Gras wächst auf der verbrannten Erde. Mitarbeiter der Stadtwerke ziehen von Haus zu Haus, registrieren die Schäden, reparieren Gas-, Strom- und Telefonleitungen. Behelfsbrücken für Autos und Züge verbinden Zehntausende von Einwohnern nun wieder mit Kiew. Wer durch die Straßen von Butscha läuft, vernimmt neben dem Geruch der blühenden Apfel- und Birnbäume auch den süßlichen Geruch von frisch gebackenen Keksen: Die Fabrik Delicia am Stadtrand, ausgeplündert von den Russen, hat Anfang Mai die Produktion wieder aufgenommen.

In die wieder aus der Schockstarre erwachenden Städte kehren dieser Tage Tausende Menschen zurück. Zwar hatten vor dem 9. Mai, dem „Tag des Sieges“, Gerüchte die Runde gemacht, Putin könnte an diesem Tag eine taktische Nuklearwaffe über der Ukraine abwerfen, aber die Angst war unbegründet.

An dieser Stelle im Park von Irpin begrub
Viktor seine Nachbarin. Inzwischen wurde
sie auf einem Friedhof bestattet 

„Wir müssen uns an die neue Normalität gewöhnen“, sagt Präsidentenberater Serhij Leschtschenko, während wir auf der Straße darauf warten, dass der Barista im hippen Café Dot unsere Cappuccini bringt. In der benachbarten Pizzeria schießen junge, aufgetakelte Frauen gerade Selfies in der Abendsonne. Hier, am Bessarabien-Markt im Stadtzentrum, könnte man meinen, der Krieg sei schon vorbei. 

Schäden für die Wirtschaft

Der hoch gewachsene Leschtschenko, 41, einst einer der führenden Journalisten des Landes, dann Abgeordneter und jetzt Präsidentenberater, hat erst in den letzten Tagen den Einschlag einer russischen Rakete wenige Hundert Meter entfernt erlebt, als er in der Eisenbahnzentrale von Dnipro saß. Er weiß um die Gefahr. Und dennoch ruft er die Ukrainer auf zurückzukommen. „Natürlich ist die Situation in Charkiw oder Dnipro ganz anders als bei uns“, erklärt er. „Aber ich rufe alle dazu auf, nach Kiew zurückzukommen. Je mehr Menschen hier sind, desto mehr normalisiert sich das Leben. Je mehr Menschen, desto größer die Nachfrage nach Kinos, nach Cafés, nach Supermärkten.“ Während die Ukrainer im militärischen Bereich den Russen schwere Verluste hinzufügen und rund um Charkiw auf dem Vormarsch sind, liegt die Wirtschaft brach. „Wir müssen die wieder in Gang bringen“, sagt Leschtschenko. „Die europäischen Länder“, fordert er, „sollten die Ukrainer, die aus Kiew, Lemberg oder anderen Städten kommen, die nicht unmittelbar bedroht sind, ermutigen, in die Heimat zurückzukehren.“

Der Kiewer Maler Vadim Grintschenko malt die Ruinen im Kiewer Vorort Butscha

Das größte Problem für die ukrainische Wirtschaft ist bislang nicht gelöst: die Blockade der Seehäfen am Schwarzen Meer durch die russische Flotte. Vor dem Krieg exportierte die Ukraine 130 Millionen Tonnen über das Meer, darunter Getreide, Eisenerz, Sonnenblumenöl, Metall und Chemieprodukte. Dieser Weg ist seit dem 24. Februar versperrt. Eisenbahn und Lastwagen können das nicht kompensieren – und sind bedeutend teurer.

„Wir müssen aufhören, uns zu fürchten.“

Ein weiteres großes Problem bleibt, dass Schulen und Kindergärten seit Kriegsbeginn geschlossen sind. Aber Leschtschenko verspricht, dass sich das vom 1. September an, wenn das neue Schuljahr beginnt, ändern wird. Dass Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko die Menschen dazu aufruft, nicht zurückzukommen, solange sie einen sicheren Aufenthaltsort haben, hält er für einen Fehler. „Wir müssen aufhören, uns zu fürchten. Natürlich besteht noch immer eine gewisse Gefahr durch die russischen Raketen. Aber das ist die neue Normalität, vielleicht für Jahre. Daran müssen wir uns gewöhnen.“

Maryna Vasylenko hat sich an die Sirenen und die Gefahr eines Raketenangriffs gewöhnt. Sie ist sich so gut wie sicher: Sie will bleiben. „Als ich am Tag nach meiner Ankunft durch die sonnige Stadt zu unserem Büro gelaufen bin und meine Kollegen zum ersten Mal wiedergesehen habe, habe ich geweint vor Freude“, sagt sie, eine Zigarette rauchend auf dem grünen Gras vor der Pure&­Naive Wine Bar an der Iwan-Franko-­Straße. „Es fühlt sich an, als wäre die ganze Stadt jetzt mein Zuhause.“

Die Bilder dieses Textes stammen vom Autor Moritz Gathmann.

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

 

 

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