Ukraine-Krieg - „Putin ist kein Kommunist, er ist ein lupenreiner Imperialist“

Der Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends sprach bereits 2014, nach der Annexion der Krim, von einem Scheitern des russlandpolitischen Ansatzes „Wandel durch Annäherung“. Im Interview ordnet er den Überfall auf die Ukraine historisch ein, erklärt die unterschiedlichen Perspektiven Putins und des Westens auf Europa und prognostiziert innenpolitische Erschütterungen in Russland infolge des Ukraine-Kriegs. Ob es einen Putsch gegen Putin geben könnte, sei aber schwer zu sagen.

Das von der russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Bild soll russische Soldaten in der Ukraine zeigen / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Jan Claas Behrends ist Osteuropa-Historiker und Experte für Kriege im postsowjetischen Raum. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und lehrt an der Europa-Universität Viadrina.

Herr Behrends, wie unterscheidet sich der Ukraine-Krieg von anderen postsowjetischen Konflikten, in denen Russland intervenierte?

Der Ukraine-Krieg, wie wir ihn jetzt erleben, erinnert eher an einen klassischen Krieg zwischen zwei großen Staaten. Es ist kein begrenzter Konflikt, wie wir das in Moldawien gesehen hatten, in Tadschikistan oder auch im Donbas. Vorher waren es immer sogenannte hybride Kriege, in die irreguläre Akteure involviert waren: Söldner zum Beispiel oder so genannte russische „Friedenstruppen“. Aber hier haben wir es mit einer Auseinandersetzung zu tun, die mit „klassischen“ Mitteln geführt wird. Dafür steht beispielsweise der massive Einsatz von Panzern, Artillerie und Luftwaffe durch die Russen. Strukturell erinnert das eher an den Zweiten Weltkrieg als an die postsowjetischen Kriege, wie wir sie ab 1979 erlebt haben. Insofern ist der aktuelle Krieg in der Ukraine eine Zäsur.

Manche Experten behaupten, dass es Putins Plan war, seine „Spezialoperation“ so durchzuführen, wie es in Geheimdienstkreisen üblich ist: Schnell und unter Aufwendung minimaler Ressourcen. Ein konventioneller Konflikt soll angeblich nicht eingeplant gewesen sein.

Wir wissen noch nicht sehr viel über die Pläne zu diesem Krieg. Ein Ziel war sicher der Sturz der Regierung in Kiew und das Ende der ukrainischen Souveränität. Immer deutlicher wird, dass die russische Seite mit einem schnellen Sieg gerechnet hat. Das ist eine Fehleinschätzung gewesen. Wenn man sich ein wenig mit der Ukraine beschäftigt hat, vor allem in den Jahren seit 2014, dann konnte man wissen, dass ihre Armee sich stark verbessert hat. Durch das rotierende System im Donbas haben Tausende Soldaten Kampferfahrung gesammelt. Zudem ist die Motivation bei den ukrainischen Kämpfern, die ihr Land verteidigen, höher als bei der angreifenden russischen Armee, die wohl auch nicht vollständig über ihren Auftrag informiert wurde. Es ist nicht nur die Ausrüstung, sondern auch die Motivation der einzelnen Einheiten, die hier den Unterschied macht.

Anfang dieses Jahres intervenierten die russischen Streitkräfte in Kasachstan. Können Sie erläutern, womit wir es da zu tun hatten?

Das war eine Art Polizeieinsatz, in dem es darum ging, ein befreundetes Regime zu stützen. Die Unruhen brachen wegen einer gewissen sozialen Unzufriedenheit aus. Aber offenbar spielten auch Machtkämpfe innerhalb der kasachischen Elite eine Rolle. Russland trat hier als Ordnungsmacht auf. Ein ähnliches Szenario erlebten wir im Armenien-Aserbaidschan-Krieg, wo Russland den Krieg letzten Endes durch Einsatz seiner Macht beendet hat. In der Ukraine kann davon nicht die Rede sein. Dieser Krieg hat eine weit größere Dimension. Vielleicht hat sich die russische Führung aber auch deshalb mit der Ukraine verrechnet, weil die Operation in Kasachstan tatsächlich in wenigen Tagen erfolgreich beendet werden konnte. Damit war sie aus Putins Sicht erfolgreich.
 

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Im Unterschied zur Intervention in Kasachstan wird der Einsatz in der Ukraine geschichtspolitisch legitimiert. Mit welcher Ideologie haben wir es da eigentlich zu tun? Und was können Sie darauf als Osteuropa-Historiker entgegnen?

Putins gesamtes Denken ist imperial geprägt. Darin besteht der Grundkonflikt zwischen dem Westen und dem heutigen Russland. Russland sagt: Wir beanspruchen Osteuropa als Einflusssphäre für uns. Insbesondere gilt das für den postsowjetischen Raum, auch darüber hinaus für Finnland oder Polen. Die postsowjetischen Staaten, beispielsweise die Ukraine, aber auch Belarus, das Baltikum und die Länder Zentralasiens sind aus russischer Sicht nur teil-souveräne Gebilde. Deshalb ist man im Kreml davon überzeugt, dass man sowohl über deren Innenpolitik als auch über deren außenpolitische Orientierung mitbestimmen darf. Die westliche Position lässt sich umgekehrt auf die Formel bringen, dass beispielsweise Lettland genauso souverän ist wie Portugal oder andere westeuropäischen Staaten. Bündnisse oder politische Systeme können frei gewählt werden – das ist die Ordnung von 1989. Aber gerade dieses System bekämpft Putin.

Was treibt ihn an?

Für ihn ist dieser Raum historisch durch Russland gewachsen. Russische Hegemonie, so sagt er, sei dort die natürliche geopolitische Ordnung. Was die Ukraine angeht, so geht seine Obsession mit ihrer Geschichte noch darüber hinaus. Sie fügt sich nahtlos in Vorstellungen aus dem Zarenreich im 19. Jahrhundert ein. Putin glaubt an eine organische Einheit der orthodoxen Völker, insbesondere der Belarusen, Russen und den Ukrainer. Er hält es für seine Mission, diese mit dem Ende der Sowjetunion verlorene Dreieinigkeit wiederherzustellen. Das ist nicht bloß rhetorisch gemeint. Wie wir sehen, ist er bereit, seine imperiale Vision mit militärischen Mitteln durchzusetzen. So lässt sich seine Feindschaft zum Westen erklären. Den Westen sieht er letztendlich als die Macht, die diese organische Einheit zerstört hat. Die westliche Versuchung habe seine „ukrainischen Brüder“, wie er es wohl formulieren würde, auf den falschen Weg geführt. Ihr eigentlicher Platz sei in der orthodoxen Welt als Vasall Russlands. Insgesamt haben sind Putins historische Vorstellung primär vom 19. Jahrhundert, aber auch von Stalin geprägt. Putin ist jedoch kein Kommunist wie Stalin, er ist ein lupenreiner Imperialist.

Sie sprachen schon 2014 vom Scheitern des russlandpolitischen Ansatzes „Wandel durch Annäherung“. Von welchen Irrtümern war bislang die deutsche Russlandpolitik geprägt? 

Der Grundirrtum bestand darin, dass man geglaubt hat: Je mehr man Russland in unser Handelssystem einbindet, desto größer würden die wechselseitigen Abhängigkeiten werden. Die Kriegsgefahr sollte dadurch sinken. Besonders die energiepolitische Verflechtung hätte zu Frieden und Stabilität in Europa beitragen sollen. Doch wer so denkt, der irrt, weil er Putins Motive nicht versteht. Schon 2014 konnte man sehen, dass die Nord-Stream-1-Pipeline den russischen Konflikt mit der Ukraine möglich gemacht hat, weil der Kreml nicht mehr allein auf die Infrastruktur in der Ukraine angewiesen war: Moskau konnte weiter Gas verkaufen, auch wenn es in der Ukraine intervenierte. Bei den beiden Nord Stream Pipelines geht es also nicht bloß um wirtschaftliche Verflechtungen, wie es unsere frühere Bundeskanzlerin stets behauptete.

Sondern?

Vonseiten Russlands ist Nord Stream primär ein geopolitisches Projekt, ein Teil der negativen Ukrainepolitik. Wenn das Kanzleramt auf die Polen gehört hätte, auf die Balten oder auch auf die Amerikaner, dann hätte man in Berlin natürlich wissen können, dass das eine Lebenslüge der deutschen Russlandpolitik war. Schon 2014 hätte man nach der Annexion der Krim eine kritische Bilanz ziehen sollen. Seitdem haben wir schließlich Krieg in der Ukraine – direkt an der Ostflanke der Nato. Das Versprechen von Frieden und Stabilität in Europa, das das eigentliche Ziel der Ostpolitik war, wurde schon damals verfehlt. Dennoch hat Frau Merkel an ihrer Linie festgehalten. 

Jan Claas Behrends / privat

Daran ist eine gewisse Putin-Lobby in Deutschland nicht unbeteiligt gewesen. Die prominentesten Beispiele in der aktuellen Debatte heißen Gerhard Schröder und Manuela Schwesig, Stichwort: Klimastiftung. Wie schätzen Sie die Rolle solcher Akteure ein?

Es ist in den letzten 20 Jahren ein Projekt des Kreml gewesen, sich Einfluss in Westeuropa zu kaufen. Wir wissen nicht bis in alle Verästelungen, wer alles Teil dieses Netzwerkes geworden ist. Die Russische Föderation ist ein Staat, der durch seine Oligarchen, aber auch durch seine Geheimdienste versucht, das westliche System zu schwächen. Indem der Kreml Korruption exportiert, weitet er seinen Einfluss bei uns, aber auch in Frankreich, Tschechien oder Italien, konsequent aus. Und dagegen hat man sich zu wenig gewehrt. Da muss der gesamte Westen mehr Resilienz aufbauen und konsequenter handeln. Die Beschlagnahmung von Yachten, Wertgegenständen und Immobilien können da nur der erste Schritt sein.

Neben der wirtschaftlichen Verflechtung gab es – in unterschiedlicher Intensität – auch eine kulturelle, wissenschaftliche und militärische Kooperation mit Russland. Wie wirkt sich darauf der russische Angriffskrieg auf die Ukraine aus?

Was wir jetzt erleben, ist in allen Bereichen – von Kultur über Wissenschaft bis hin zum Militär – ein Zusammenbruch der bisherigen Beziehungen. Unter welchen Bedingungen sollten diese Verbindungen in Zukunft wiederaufgenommen werden? Solange Putin regiert, ist es unrealistisch, dass man zu einer vollständigen Wiederherstellung der vielfältigen Kontakte kommt. Hinzu kommt: Viele unserer Kooperationspartner in der Wissenschaft haben in den letzten zwei Wochen Russland verlassen und sind Exilanten geworden. Man muss nun primär für die Ukrainer Strukturen schaffen, die hier als Flüchtlinge ankommen, aber mittelfristig auch für die Russen, die hier in der Europäischen Union Asyl suchen – damit wenigstens ein Teil dieser beiden Gruppen seine Arbeit hier fortsetzen kann. 

Bekanntlich setzen manche Beobachter ihre Hoffnung auf eine Palastrevolte im Kreml. Sie als Historiker kennen dazu sicherlich genug Beispiele aus der russischen und sowjetischen Geschichte. Wäre das eine realistische Möglichkeit?

Russland hat, historisch betrachtet, ein Problem mit der zivilen Machtübergabe. Es gibt keinen Mechanismus zur Übertragung der Macht, weil es keine freien Wahlen gibt. Eine Regierung kann in der Regel nicht abgewählt werden. In den letzten 100 Jahren sind die Machthaber in der Regel entweder im Amt verstorben oder weggeputscht worden. Wir wissen zudem noch nicht, wie dieser Krieg ausgeht. Da sollte man nicht zu früh eine Prognose abgeben. Aber wir wissen: Die Kriege, in denen Russland unterlag, wie im Krimkrieg im 19. Jahrhundert, im Krieg von 1905 gegen Japan oder 1979-89 in Afghanistan, haben stets innenpolitische Erschütterungen nach sich gezogen. Es ist möglich und wahrscheinlich, dass in der russischen Elite die Unzufriedenheit wächst.

Und dann?

Letzten Endes brauchen Sie für eine Palastrevolution eine Verschwörer-Gruppe, die sich traut, zur Tat zu schreiten. Das ist ein Geschehen, in das ich als Historiker keinen Einblick habe. Es ist schwer zu sagen, ob es einen Putsch geben wird oder nicht. Diese Entscheidung trifft eine kleine Gruppe an der Spitze der russischen Elite.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

 

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