Ukraine-Krieg - „Das Feuer mit Benzin löschen“

Rund eineinhalb Jahre dauert der Krieg in der Ukraine bereits an. Der Historiker und Militäranalyst Markus Reisner spricht im Interview über die historische Dimension des Konflikts, „Schwarze Schwäne“ – und über Szenarien aus der Hölle.

Svitlana Sushko trauert bei dem Besuch am Grab ihres jüngsten Sohnes, eines ukrainischen Soldaten, der letztes Jahr im Krieg gegen Russland getötet wurde / dpa
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Frank Lübberding ist freier Journalist und Autor.

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Oberst Markus Reisner ist Kommandant des Gardebataillons des österreichischen Bundesheers in Wien. Der promovierte Historiker wurde nach Ausbruch des Ukrainekriegs zu einem der gefragtesten Militäranalysten im deutschsprachigen Raum. Seit 2017 ist er Mitglied des militärhistorischen Beirats der Wissenschaftskommission beim österreichischen Bundesministerium für Landesverteidigung.

Herr Reisner, Kriegsberichterstattung hatte schon immer mit einem Problem zu kämpfen: Einerseits will sie objektiv informieren, andererseits gibt es politische Überzeugungen. Also neigt sie dazu, sich das militärische Geschehen aus der gewünschten Perspektive anzusehen. So waren alle vom Versagen der Russen in der Frühphase des Krieges überrascht. Dann gab es Ende Juni den Marsch des Wagner-Milizen-Chefs Jewgeni Prigoschin auf Moskau, womit auch niemand gerechnet hatte. Wie beeinflussen solche Ereignisse unseren Blick auf Russland?

Markus Reisner: Was viele aus meiner Sicht nicht verstehen: Wir haben eine sehr ernste Situation und immer noch nicht begriffen, was das möglicherweise bedeutet, auch für die nächsten Monate und Jahre. Es hilft nicht, dass man die Russen lächerlich macht, weil das dem Charakter der russischen Seele nicht gerecht wird. Natürlich kann es Ereignisse wie den Oktober 1917 geben oder wie den Mauerfall 1989 oder den Kollaps der Sowjetunion 1991. Die Historiker werden dann später sagen, das war völlig klar. Aber jetzt ist das nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Wir haben keine Indikatoren, die das mehr oder weniger voraussehen lassen würden. Es scheint eine sehr gefestigte Situation zu sein. Der „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau wurde nur von uns als Chance empfunden. Als zu Mittag des besagten Tages keine einzige russische Militäreinheit die Seiten gewechselt hatte und auch die Bevölkerung normal ihrem Tagesgeschäft nachging, war klar: Das wird nicht die erhoffte Revolution. Die russische strategische Kultur zeichnet sich historisch dadurch aus, dass sich die Leute in Zeiten der Krise um den Tyrannen scharen, egal wie brutal der ist. Aber für sie ist er Garant fürs Überleben. Diese Vorstellung passt nicht in unser Weltbild. Darum lehnen wir sie kopfschüttelnd ab.

In den Medien gab es nach den ersten Meldungen über Prigoschins Vorgehen unzählige Interpretationen des Ereignisses. Wir wussten aber fast nichts über die Hintergründe oder das reale Geschehen. Selbst die Akteure in Russland hatten wahrscheinlich kein klares Lagebild, sondern mussten improvisieren. Wie verändert diese Echtzeitkommunikation unseren Blick auf den Krieg?

Ganz wesentlich, denn es fehlt jede Tiefe. Wir eilen von Nachricht zu Nachricht, werden zudem mit Informationen geflutet. Es bleibt kaum Zeit zur Reflexion und zum Diskurs. Wir nehmen in kurzer Zeit jenes Erklärungsmodell als „wahr“ an, das am besten in unser eigenes Wertebild passt. Dadurch ergeben sich zwei Probleme. Erstens werden wir einfach zu beeinflussen. Und zweitens, und das ist das Schlimmere von beidem: Der Staat verliert zunehmend die Deutungshoheit. Man glaubt ihm nicht mehr. Seine Antworten sind zu kompliziert, und wir haben zu wenig Zeit, um sie zu verstehen. Das ist das perfekte Schlachtfeld der Zukunft. Im Informationsraum tobt bereits ein Krieg um die Interpretation von Nachrichten. Das gab es grundsätzlich schon immer, aber das Problem ist der Faktor Zeit. Nachrichtenüberfluss und Kurzlebigkeit verändern die Meinungsbildung zu unseren Ungunsten. Man verliert den Überblick, ist verunsichert und sucht nach einfachen Antworten. Dies trifft vor allem auf Zeiten des Krieges zu. Nur wenige Leitmedien sind heute noch in der Lage, ein Stimmungsbild vorzugeben. Jeder holt sich in Echtzeit, was er hören will.

Wir sind seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs mit Ihren nüchternen militärischen Analysen bekannt geworden. Ansonsten dominiert eine Sichtweise, die ihn vor allem aus der nachvollziehbaren Verurteilung des russischen Angriffs bewertet. Wie ist das aus historischer Perspektive zu verstehen?

Völkerrechtlich ist die Situation wohl eindeutig. Aber das muss nicht heißen, dass dies alle so sehen. Man sagt, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie folgt denselben Mustern. So sieht man in diesem Konflikt auch wieder eine Dehumanisierung oder das Absprechen der Satisfaktionsfähigkeit des anderen einem selbst gegenüber. Und man schließt kategorisch aus: Mit denen kann man nicht reden. Erstens seien die völlig falsch abgebogen, zweitens müsste man ja Zugeständnisse machen. Das kennen wir auch aus der Vergangenheit, wo der Gegner entmenschlicht worden ist: Mit denen können wir nicht reden, denn wir sind die Guten.

 

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Erst im Verlauf des Konflikts hat man dann gesehen: So wird das nicht funktionieren, man muss also aufeinander zugehen. Und alle Kriege, trotz der Tatsache von Kapitulationen, haben in letzter Konsequenz am Verhandlungstisch geendet. Ein weiteres Beispiel: Wir erleben eine Lagerbildung in Europa. Wie gehen wir damit um? In manchen Lagern ist es zu einer absoluten Verschärfung in der Rhetorik gekommen, wo das Reden miteinander ausgeschlossen wird. Und die Kriegsparteien leben das seit einem Jahr. Die Russen nennen die Ukrainer „Faschisten“ und „Schweine“, die Ukrainer die Russen „Orks“. Es ist eine komplett verfahrene Situation.

Der amerikanische Politikwissenschaftler John Mears­heimer hat schon zu Beginn des Krieges gesagt, mit einer 190 000 Mann starken Interventionsarmee könne Russland die Ukraine nicht besiegen; ihr würden die Mittel fehlen, um das Land zu besetzen. Offenbar erwarteten die Russen ursprünglich die Kapitulation der Ukraine: Menschen stehen mit Blumen an der Straße und begrüßen ihre Befreier; Moskau setzt eine andere Regierung ein, verschwindet wieder aus Kiew – und alles wird gut. Es kam bekanntlich anders. Hatten die Russen überhaupt einen richtigen Kriegsplan?

Den kennt man mittlerweile aus den erbeuteten Unterlagen der einmarschierten Verbände. Man wollte das Land nicht zerstören, sondern eine Art „moderate Invasion“ mit Skalierung der Waffen. Wir setzen nur das ein, was notwendig ist, schieben also den Regler hoch, wenn es notwendig wird. So hat man erst im Oktober vergangenen Jahres beschlossen, auch die kritische Infrastruktur anzugreifen.

Was jeden überrascht hat.

Seit dem Scheitern des Invasionsplans kämpfen die Russen mit den Folgen. Sie versuchen krampfhaft, vor allem mehr Soldaten an die Front zu bekommen. In der Not gab es die Teilmobilisierung der Reservisten, um die entsprechenden Kräfte zu haben. Das war der Übergang in die zweite Phase im Donbass. Das Problem besteht aber bis heute. Was wäre anders gewesen, wenn 500 000 oder 600 000 Mann einmarschiert wären? Es gibt gute Quellen, die sagen, es habe einen Plan A und einen Plan B gegeben. Der Plan A war so verlockend, weil er nur auf den militärischen Berufskader zurückgreifen musste. Der Plan B hätte dagegen die Teilmobilisierung erforderlich gemacht, die man aber vonseiten des russischen Präsidenten nicht umsetzen wollte: Man hätte schon vor Kriegsausbruch die Bevölkerung einbeziehen müssen.

Was nicht geschehen ist.

Wie ein Boxer, der schon in der ersten Runde Treffer kassieren musste, versuchten die Russen deshalb, in die Offensive zu gehen. Das haben sie mit dem Heranführen frischer Kräfte gemacht. Jetzt haben wir zwischen 350 000 und 400 000 Mann auf russischer Seite, das Doppelte wie vorher. Aber natürlich nicht in der gleichen Qualität, weil sie viele Leute verloren haben. Was übrigens auch für die Ukraine gilt. Darum ist der Vergleich mit der Situation des Jahres 1915 im Ersten Weltkrieg plausibel. Er wurde in diesem Jahr zum Krieg der Reservisten; der Reservist auf der einen Seite hat gegen den Reservisten auf der anderen Seite gekämpft. 1915 war aber vor allem das Jahr der Ernüchterung. Die Annahmen aus dem ersten Kriegsjahr 1914 hatten sich als Irrtum erwiesen. Und wir stehen heute quasi vor dem Sprung in das Kriegsjahr 1916: Der Westen muss Entscheidungen treffen, also etwa über die Erfordernisse einer Kriegswirtschaft. Strategie ist eine Mischung aus „ends, ways and means“. Man definiert ein Endziel, das eigentlich immer der Richtungspunkt bleibt. Dann überlegt man sich die Wege dorthin und welche Mittel eingesetzt werden sollen. Das Jahr 1916 war das Jahr der elenden Offensiven – ein Fegefeuer, das Hunderttausende Leben gefordert hat.

Also läuft es auf einen Zermürbungskrieg hinaus?

Was die Russen jetzt für sich in Anspruch nehmen, ist der Faktor Zeit. Sie sagen, wir müssen einfach nur durchhalten, denn der Westen wird es sicher nicht so lange aushalten wie wir. Sie werden versuchen, mit China, Indien, der Türkei, dem Iran, mehr oder minder mit der südlichen Halbkugel, ein Arrangement zu treffen. Und es gibt unterschiedliche Zahlen dazu: 60 Prozent der Staaten weltweit unterstützen die westlichen Sanktionen, 40 Prozent nicht. Wie das auch immer berechnet wird und wie genau die Zahlen lauten: Es sind genug da, dass die Russen ihre Wirtschaft auf lange Sicht noch am Leben halten können. Und wenn nicht der berühmte Schwarze Schwan auftaucht, wird das so bleiben.

Der Schwarze Schwan?

Ein Ereignis, das alle Annahmen über den Haufen wirft. Wie der Oktober 1917 in Russland während des Ersten Weltkriegs. Und damit kommen wir zum Westen. Aus meiner Sicht gibt es nur einen Akteur, der eine Strategie hat – eine, die auch wirklich hinterlegt ist. Die Amerikaner handeln als eine Hegemonialmacht, die zunehmend unter Druck kommt. Das Vorgehen der Russen soll keine Schule machen, wo jemand gegen jede Regel handelt, gegen das Völkerrecht und gegen den UN-Sicherheitsrat, weil er glaubt, das stehe ihm zu. Jetzt kann man argumentieren, die Amerikaner handelten nicht anders. Was geschah im Kosovo, in Libyen, im Irak und in Afghanistan? Klar. Aber man darf eines nicht vergessen: Die Amerikaner sehen sich als die letzte Supermacht, die nach dem Kalten Krieg übrig geblieben ist. Für sie gibt es nur amerikanische Interessen in dieser Welt. Das mag uns gefallen oder nicht. Tatsache ist aber auch: Die Europäer haben zugelassen, dass es nur amerikanische Interessen in Europa gibt.

Ein relevanter Aspekt.

Wer ist verantwortlich für diesen Zustand? Ist es die Verantwortung der Europäer, ihre Sicherheitspolitik selbst in die Hand zu nehmen? Oder ist die Ursache in dem Sinne zu interpretieren, dass die Amerikaner machen, was sie wollen in Europa, solange sie dort kein Hindernis haben? In Europa werden amerikanische Interessen durchgesetzt, die sie als Hegemon für sich in Anspruch nehmen. Man darf eines nicht vergessen: Auch die Amerikaner kommen mittlerweile massiv unter Druck. Das ist das böse Erwachen für die Europäer in dieser Situation. Wir müssen uns ernsthafter die Frage stellen: Wollen wir als Europäer in dieser Sicherheitspolitik eigenständig werden oder nicht? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat aus meiner Sicht sehr wohl recht, wenn er diese strategische Autonomie befürwortet. Nehmen wir Nord Stream I und II: Es ist eigentlich völlig egal, wer die Pipelines gesprengt hat. Aber ist es nicht ein Wahnsinn, dass ein wesentliches Element für die Energieversorgung Europas von jemandem zerstört wird? Und wir haben nicht einmal eine Ahnung, wer das war. Beziehungsweise scheuen uns davor, es zu sagen. Das zeigt, wie handlungsunfähig wir in dieser Sache sind.

Für einen Friedensschluss existieren mehrere Möglichkeiten. Einerseits die totale Niederlage der Ukraine, andererseits der Schwarze Schwan etwa mit einer Revolution in Russland. Und dann gibt es den Kompromissfrieden. Dabei geht es um die Frage, wie die territoriale Integrität der Ukraine garantiert werden kann. Manche halten das Koreaszenario mit einem bloßen Einfrieren des Konflikts für das schlimmste Szenario, weil es das Spannungsverhältnis auf unbestimmte Zeit fortsetzt.

Wenn die Russen nicht vorher zusammenbrechen, wird es darauf hinauslaufen. Aber beide Seiten sind nach wie vor davon überzeugt, dass sie gewinnen können. Wann immer der Westen eine gewisse Schwäche zeigt, merkt man das an der russischen Rhetorik. Sie sagen: Unser Friedensplan wäre, wir annektieren alles bis zum Dnepr. Den Rest können Sie in Europa haben. Das war erst vor kurzem wieder zu hören. Und Selenskyj sagte vor kurzem, er hätte früher mit der Offensive beginnen wollen, wenn sie nur ausreichend Gerät gehabt hätten; jetzt seien die Russen vorbereitet.

Sie erwähnten den Ersten Weltkrieg als Referenzpunkt. Im Jahr 1915 waren die Erwartungen auf einen schnellen Sieg zerstoben. Im folgenden Jahr gab es Initiativen des Papstes, um einen Friedensschluss auszuloten. Sie schlugen fehl, der Krieg endete erst zwei Jahre später. Damals war die Katastrophe, dass es ab 1916 keinen Kompromiss mehr geben konnte. Beide Seiten hatten so viel investiert, wie sollte da ein Kompromiss überhaupt noch aussehen? Zudem wurde der Krieg ideologisch aufgeblasen, etwa in der britischen Kriegspropaganda mit der Charakterisierung der Deutschen als Hunnen.

Wenn wir diesen Moment übersehen, gibt es kein Zurück mehr.

Aber wie können wir diesen Moment verhindern?

Zuerst einmal müssen wir begreifen, dass es so ist. Aber trotzdem versuchen, über verschiedene Kanäle Kompromisse auszuloten. Wir sind aber jetzt in so einer aufgeheizten Stimmung, dass der Kompromiss nicht zugelassen wird. Sie sehen das gerade in Deutschland an der Reaktion auf die Vorschläge von Sahra Wagenknecht und anderen. Wobei die Russen auch noch nicht so weit sind, um das überhaupt zuzulassen. Das ist das Dilemma: Wenn wir schon vorher in die Knie gehen und einen Kompromiss schließen, ziehen die Russen daraus die Schlussfolgerung, sie hätten gewonnen. Das ist die Kunst, auf diese Sensorik einzugehen. Gleichzeitig dürfen die Amerikaner nicht versuchen, die Russen in die Enge zu treiben, damit es nicht eskaliert. Keiner kann absehen, was es bedeutet, wenn die kleine Entourage um den russischen Präsidenten möglicherweise sagt: Es ist so weit – und sie drücken den Knopf.

Ein Szenario aus der Hölle.

Denken Sie an den Zweiten Weltkrieg. Hitler sagte: Wenn Deutschland nicht siegt, hat das deutsche Volk kein Recht zu überleben. Das kann man in der heutigen Lage schwer abschätzen. Auf der anderen Seite sind die Russen immer noch stark genug, dass ein Nachgeben als Schwäche interpretiert würde. Deshalb wäre ein regelmäßiger Austausch auf diplomatischen Ebenen so wichtig. Es gibt diesen Austausch zwar auf der militärischen Ebene – Russen und Amerikaner telefonieren regelmäßig, davon bin ich überzeugt. Das ist übrigens die gute Nachricht im Vergleich zu den Zeiten der Kuba­krise 1962. Wir standen damals an der Schwelle zum Atomkrieg, und daraus hat man gelernt.

Sie haben die westliche Militärhilfe an die Ukraine immer so charakterisiert: Sie soll das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Ukraine sicherstellen, aber gleichzeitig nicht zur weiteren Eskalation des Krieges führen. Das erinnert an einen Drahtseilakt. Im April 1917 geriet die französische Armee in ihre schwerste Krise während des Ersten Weltkriegs; ganze Truppenteile verweigerten die Angriffsbefehle. Sie sollten zu Tausenden in den Tod stürmen, um die Deutschen bestenfalls wenige Kilometer zurückzudrängen. Sehen Sie heute bei den ukrainischen und russischen Soldaten eine vergleichbare Tendenz, die eigenen Opfer für sinnlos zu halten? 

Am 4. Juni hat die entscheidende Phase der ukrainischen Offensive begonnen. Trotz des Einsatzes von deutschen Leopard-Kampfpanzern und amerikanischen Bradley-Kampfschützenpanzern, also dem besten vom Westen gelieferten Gerät, ist die erste Welle nach wenigen Kilometern in den Vorpostenstellungen der Russen hängen geblieben. Warum? Weil nicht alle Fähigkeiten vorhanden waren, um eine derartige komplexe Operation durchzuführen. Keine Boden-Boden-Raketen, keine Kampfflugzeuge. Nun ringt man um die Deutungshoheit hinsichtlich des Zieles und des Charakters der Offensive. Selenskyj verweist darauf, dass das eigentliche Ziel die Abnutzung sei – und das dauere eben. Das stimmt zwar grundsätzlich. Aber wenn es nicht schnell geht, wird man auch selbst schwere Treffer einstecken müssen. Das erinnert an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs von 1916 bis 1917. Ein Massensterben um wenige Kilometer Boden. Wir fiebern in den Medien einer Offensive entgegen, die in Wirklichkeit Tausende junger Menschen das Leben kostet. Der Erfolg bleibt aus, neue Waffen sollen es richten: Streumunition, Boden-Boden-Raketen. Das macht alles nur Sinn, wenn es rasch geht. Sonst bleibt es für die Ukrainer zu viel, um zu sterben, und zu wenig, um zu leben. Der Westen muss entscheiden, was er will.

Die Medien müssten doch die von Ihnen geschilderten Dilemmata beschreiben, stattdessen wird die Kriegsrhetorik weiter angeheizt. 

Es gibt diese aufgeheizte Stimmung, wo man berechtigterweise darauf hinweist, dass diese Weltordnung außer Rand und Band gerät. Das ist das große Dilemma, das hier mitschwingt. Wir haben die UN-Charta, wir haben das internationale Völkerrecht, auf das man sich nach den Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs geeinigt hat. Wir haben sogar den Begriff des Krieges tabuisiert und ihn durch „bewaffneten Konflikt“ ersetzt. 

Ein Kompromiss ist nur möglich, wenn beide Seiten das Gefühl haben, etwas erreicht zu haben. Sollte der Westen den Russen deshalb zugestehen, dass sie etwas erreicht haben?

Beide Seiten brauchen etwas, das sie gegenüber ihren Bevölkerungen verkaufen können. Ein Waffenstillstand hat einen großen Vorteil: Man muss nicht zugeben, verloren zu haben. Die russische Seite könnte etwa behaupten: „Wir waren gerade am Gewinnen, machen jetzt aber eine kurze Pause.“ Und die Ukraine hätte das Narrativ: „Wir haben gewonnen, weil wir die Russen aufgehalten haben.“ Die Russen würden antworten: „Wir haben die Ukraine demilitarisiert und uns das geholt, was uns zusteht.“ Hier könnte man allerdings auch Parallelen ziehen zur Situation im Ersten Weltkrieg, Stichwort Dolchstoßlegende: Der betrogene Sieg, den man eigentlich vor Augen gehabt hätte, der einem aber genommen worden ist. Das wurde bekanntlich zum Nährboden für Nationalismus und auch für den Nationalsozialismus.

Was wäre denn heute die Dolchstoßlegende?

Die Russen könnten sagen: Wir hätten eigentlich gewonnen – aber aufgrund listiger Umtriebe ist es den Ukrainern gelungen, uns mit westlicher Hilfe diesen Sieg zu nehmen. Darum müssen wir uns jetzt auf die nächsten fünf, zehn bis 15 Jahre vorbereiten, um noch einmal einzugreifen und uns das zu holen, was uns zusteht.

Und aus der ukrainischen Sicht? Nehmen wir den früheren ukrainischen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk. Er hat schon vor Monaten eine Dolchstoßlegende vorbereitet: Die Ukraine hat nicht die Waffen bekommen, die sie für einen Sieg gebraucht hätte. Das wäre auch so ein Narrativ.

Der Westen macht schon bei Weitem mehr, als überhaupt denkbar war. Es ist nicht so, dass man einfach einen Panzer schickt; die Besatzung muss erst noch ausgebildet werden. Dieser Krieg ist wie fast alle Kriege in den vergangenen Jahrhunderten: Entweder sie wurden in den ersten Wochen und Monaten entschieden, oder es ist zu einem langen Konflikt gekommen. Beide Seiten müssen immer wieder neue Ressourcen zur Verfügung stellen, Soldaten ausbilden und so fort. Es ist wie ein Feuer, das man löschen möchte, wo man aber immer wieder Benzin hineinschüttet. Man hat nie ausreichend Wasser, man versucht immer, das Beste daraus zu machen.

Aufgrund Ihrer historischen Expertise rechnen Sie mit einem langen Krieg in der Ukraine, aber den berühmten „Großen Kladderadatsch“ wie die Russische Revolution von 1917 erwarten Sie nicht? 

Wer kann das ausschließen? Aus derzeitiger Sicht müsste man das ausschließen. Aber wenn Sie im September 1917 dem deutschen Generalstab diese Frage gestellt hätten, dann hätte der eine oder andere gewusst, dass Lenin von uns Richtung Russland geschickt wird – doch keiner hätte geahnt, dass es diese Ausmaße annimmt. Historiker erwecken immer den Eindruck, als wenn alles linear und voraussehbar gewesen wäre. Aber Geschichte verläuft nie linear. Wir sind wie Eintagsfliegen ohne historisches Gedächtnis. Würde die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs noch leben, wäre der eine oder andere wegen dieser Erfahrung in ernsthafte Verhandlung gegangen.

Die Generation von Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher hätte anders reagiert?

Die hätten vielleicht gesagt, wenn ein Politiker nach Brüssel fährt: Du weißt, was ich erlebt habe. Das möchte man nie mehr haben. Es ist egal, wie du zurückkommst, aber wir brauchen einen Kompromiss. 

Das Gespräch führte Frank Lübberding.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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