Besorgnis um das Atomkraftwerk Saporischschja - „Eine Geisel in russischer Hand“

Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja ist durch die Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe der Reaktorblöcke extrem gefährdet. Diese müssten sofort eingestellt werden, um eine Katastrophe zu verhindern. Wir haben mit der Atomkraft-Expertin und Buchautorin Anna Veronika Wendland gesprochen.

Ein russischer Soldat bewacht die Anlage im Süden der Ukraine / dpa
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Anna Veronika Wendland ist Technikhistorikerin, Expertin für nukleare Sicherheit und Buchautorin.

Frau Wendland, Vertreter der Internationalen Energiebehörde konnten sich in den vergangenen Tagen das Atomkraftwerk persönlich anschauen. Mit welchen Eindrücken sind die Experten zurückgekehrt?

Ihr Abschlussbericht ist sehr besorgniserregend. Die Anlage ist inzwischen auch von ihrer regulären Netzverbindung abgeschnitten und nur noch ein letzter Block produziert Strom für den Eigenbedarf des Kernkraftwerks. Das heißt, das Atomkraftwerk befindet sich auf der letzten Stufe vor einer möglichen Notstromversorgung. Doch Strom ist in einem Atomkraftwerk für die Nachkühlkette und die Reaktoren unerlässlich.

Dennoch wird weiterhin rund um das Atomkraftwerk gekämpft?

Wir wissen, dass die russische Armee aus direkter Nähe des Atomkraftwerks die andere Seite des Flusses Dnjepr immer wieder beschießt. In dieser Region ist ein Stausee und gegenüber dem Kernkraftwerk liegt die ukrainisch kontrollierte Stadt Nikopol. Die Russen hoffen natürlich, dass ihr Feuer wegen der brisanten Situation nicht erwidert wird. Die Ukraine hat auch keinerlei Motiv, ihr eigenes Kernkraftwerk anzugreifen. Dennoch bleibt die Lage angespannt.

Ein Kriegsgeschehen in direkter Nähe zu einem Atommeiler, was macht das so gefährlich?

Beschüsse rund um ein Kernkraftwerk können jederzeit dazu führen, dass die Netzanbindung komplett gekappt wird. Militärfahrzeuge oder gar Waffen, die die Russen in den Maschinenhäusern zweier Blöcke lagern, haben dort aber schlicht nichts zu suchen. Militärgerät und Munition bergen ein Brandrisiko, da es im Maschinenhaus brennbare Flüssigkeiten wie beispielsweise Wasserstoff oder Turbinenöl gibt.

Wie sind die Arbeitsbedingungen für die ukrainischen Mitarbeiter unter der russischen Besatzung des Atomkraftwerks?

Die russischen Soldaten setzen die Belegschaft permanent unter Druck. Die Techniker werden täglich terrorisiert. Es ist bewundernswert, wie die Mitarbeiter unter diesen Bedingungen die Anlage am Laufen halten. In so einer extremen Angstsituation ist es naheliegend, dass Fehler gemacht werden können. Die Situation ist unhaltbar.

Mit welchem Worst Case müssen wir rechnen?

Noch ist Block 6 in der Lage den Eigenbedarf des gesamten Kraftwerks zu decken. Bei einem Ausfall des Blocks wäre eine Schnellabschaltung die Folge. Alle notwendigen Prozesse müssten dann über die Notstromaggregate laufen. In Fukushima kam es 2011 durch das Versagen dieser Notstromdiesel zur Kernschmelze. Das könnte im schlimmsten Fall auch in Saporischschja passieren.
 
Wenn das eintreffen würde: Hätte das dann auch unmittelbare Folgen für Westeuropa und für Deutschland?

Für Deutschland hätte das wohl wenig direkte Folgen. Es wäre keine spontane Explosion eines Reaktors wie in Tschernobyl, wo wirklich gewaltige Mengen Strahlung sofort freigesetzt wurden, die dann mit den Winden nach Europa kamen. Das Wetter und die Konzentration freigesetzter radioaktiver Stoffe spielt bei Reaktorunfällen auch immer eine große Rolle. In der Ukraine selbst müssten große Gebiete rund um das Atomkraftwerk evakuiert werden. Doch sehen wir am Beispiel Fukushima auch, dass es, anders als in Tschernobyl, wohl keine Strahlentote geben würde.

Wer trägt Ihrer Einschätzung nach, die Verantwortung für die Notsituation des ukrainischen Atommeilers?

Anna Veronika Wendland / Wendland

Ganz eindeutig Russland. Gäbe es keinen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, hätten wir keinen Beschuss und keine terrorisierenden Soldaten auf dieser Anlage. Dann gäbe es folglich auch kein Sicherheitsproblem.

Gibt es Sofortmaßnahmen, die das Sicherheitsrisiko entschärfen könnten?

Zwingend notwendig sind ein Abzug der Russen und eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen in einem großen Umkreis um die Anlage. Eine Abwesenheit von Krieg bedeutet auch, dass die bauliche Integrität wieder gewährleistet wäre. Was nicht beschossen wird, wird nicht zerstört. Ukrainische Techniker könnten dann auch das Atomkraftwerk wieder mit dem regulären Landes- und Reservenetz verbinden.

Auch der UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat auf die Errichtung einer Sicherheitszone und den Rückzug des Militärs gedrängt. Aber für wie realistisch halten Sie das denn?

Die Anlage ist eine Geisel in russischer Hand. Mit dieser Geisel können sie die Ukraine und ihre Verbündeten effektiv erpressen. Warum sollten sie diesen Hebel einfach aus der Hand geben? Daher bin ich eher skeptisch, dass Russland auf die Forderungen eingehen wird. Putin spielt auch mit der westlichen Angst vor einem möglichen Atomunfall. In ganz Europa, aber vor allem in Deutschland gibt es nun den Reflex, dass hinterfragt wird, ob es die Verteidigung der Ukraine angesichts eines drohenden Atomunfalls wirklich wert ist.

Und was glauben Sie, wie weit würde Russland noch gehen?

Ich weiß es nicht. Wir sehen, die Russen haben im Laufe dieses Krieges Gräueltaten verübt und jegliche Konventionen gebrochen. Also, warum sollte ich davon ausgehen, dass die Russen sich plötzlich in Humanisten verwandeln? Bei Russland muss derzeit leider immer mit dem Schlimmsten gerechnet werden. Bei einem Reaktorunfall wären auch Russland und die von ihm eroberten Gebiete stark betroffen. Das Problem ist nur, dass der russischen Führung ja selbst die eigenen Leute völlig egal sind.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

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