100 Jahre Türkei - „Die Frauen in der Türkei werden nicht still sein“

Vor 100 Jahren hat Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik ausgerufen. Im Interview spricht Gizem Weber, Projektkoordinatorin am Deutsch-Türkischen Institut für Arbeit und Bildung, über die Geschichte der Türkei und die jüngsten politischen Entwicklungen.

Feierlichkeiten am Mausoleum des türkischen Staatsgründers Atatürk zum 100-jährigen Bestehen der Türkei / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Am 29. Oktober 1923 rief Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik aus. Seine Anhänger feiern die Gründung der damals strikt laizistischen Republik weiterhin als erste feministische Staatsgründung des Nahen Ostens. Mit der Schaffung der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter und umfangreichen Bildungsreformen strebte Atatürk langfristig eine westliche Demokratie an. Für die jüngere Generation gebildeter Türken werden Atatürk und seine kemalistischen Prinzipien vor dem Hintergrund eines zunehmend autoritären Regierungskurses zur einzigen politischen Alternative.  

Gizem Weber, 1984 im westtürkischen Izmir geboren und aufgewachsen, studierte Medienwissenschaften und Journalismus in der Türkei und in Frankreich. Nach ihrem Studium spezialisierte sie sich in einem Masterstudium auf Gender Studies und war gleichzeitig als Moderatorin beim türkischen Staatsfernsehen tätig. Seit 13 Jahren lebt sie in Deutschland und hat im März 2015 die Stelle der Projektkoordination am Deutsch-Türkischen Institut für Arbeit und Bildung e.V. (DTI) in Mannheim übernommen. Dort koordiniert sie Bildungsprojekte für deutsch-türkische Jugendliche und unterstützt diese bei ihrer beruflichen Qualifikation. 

Frau Weber, feiern Sie das 100-jährige Jubiläum der Türkei? 

Ja, ich feiere! Das 100-jährige Jubiläum der Türkei markiert einen bedeutenden Meilenstein in der Geschichte des Landes. Es erinnert an die Gründung der modernen türkischen Republik im Jahr 1923 unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk. Ich denke, die Jubiläumsfeier trägt dazu bei, das Bewusstsein für die Geschichte und die Bedeutung der Gründung der Türkischen Republik zu fördern. 

Ein Pfeiler von Atatürks Ideologie war der „Revolutionismus“. Die von ihm begonnene kulturelle Revolution sollte fortgeführt werden und die Türkei sich stets Richtung Westen entwickeln. Sehen Sie diesen Revolutionismus in der jüngeren Generation?

Historisch gesehen hat Atatürk den Revolutionismus als einen seiner Kerngrundsätze in Bezug auf die Modernisierung der Türkei und die Umgestaltung der Gesellschaft gefördert. Ob diese Ideale und Prinzipien in der jüngeren Generation lebendig bleiben, hängt von der Bildung, den politischen Diskussionen und dem kulturellen Kontext ab. Sein Erbe ist historisch wie gegenwärtig, innertürkisch und transnational kontrovers, ambivalent und facettenreich.

Als Symbolfigur des türkischen Nationalbewusstseins oder als umstrittener Reformer hat seine Aktualität selbst ein Jahrhundert später noch nicht abgenommen. Der Ursprung der Republik in einer Einparteienherrschaft und dem auf Modernisierung setzenden Autoritarismus unter Staatsgründer Atatürk ist bis heute für viele politische wie gesellschaftliche Phänomene maßgeblich.

Was ist heute von Atatürks Traum eines modernen, laizistischen Staats geblieben?

Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, hatte eine visionäre Agenda für die Umgestaltung des Landes. Sein Traum bestand darin, die Türkei in einen modernen, laizistischen und demokratischen Staat zu verwandeln, der auf westlichen Werten und Prinzipien basiert. Einige Elemente seines Traums sind auch heute noch in der Türkei präsent, während andere in den Jahren seit seinem Tod 1938 Gegenstand von Veränderungen und Debatten waren.

Atatürk war zudem ein entschiedener Verfechter der Trennung von Religion und Staat. Dieses Prinzip ist in der türkischen Verfassung verankert und bleibt ein wichtiger Bestandteil der türkischen Gesellschaft und Politik. Zudem führte er weitreichende Reformen im Bildungs- und Rechtssystem durch, um die Türkei zu modernisieren. Die Türkei ist formell eine parlamentarische Demokratie. Allerdings gab es in den letzten Jahren politische Kontroversen und Entwicklungen, die die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit in Frage stellen. 

 

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Gerade Frauen und Minderheiten wie die türkischen Aleviten feiern Atatürk weiterhin für die Gleichstellung der Geschlechter und den Säkularismus. Wie empfinden westlich orientierte Frauen und andere Gruppen, die traditionell dem Kemalismus nahestehen, die aktuelle religiöse und politische Positionierung der Türkei?

Einige sind über die zunehmende Präsenz von Religion in der Politik und im öffentlichen Leben besorgt. Was die aktuelle politische Stimmung betrifft, ist die Gleichstellungspolitik der Türkei sehr regressiv. Das haben wir letztlich bei dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützen soll, erlebt. Aber es gibt auch eine sehr starke, laute, selbstbewusste Zivilgesellschaft in der Türkei, die sich gegen diese Entwicklungen positioniert.

Die Geschichte der modernen Frauenrechtsbewegung in der Türkei ist eng verknüpft mit der Gründung der türkischen Republik vor einhundert Jahren. Schon Staatsgründer Atatürk führte zahlreiche gleichstellende Maßnahmen durch: Das Wahlrecht für Frauen führte die Türkei vor Frankreich und Italien ein. Mitte der 1930er-Jahre war das aktive und passive Wahlrecht für Frauen keine Selbstverständlichkeit, nicht einmal für westliche Demokratien. Die Frauen in der Türkei werden nicht still sein und sich auch in Zukunft nicht unterordnen.

Gizem Weber / DTI

100 Jahre nach der Gründung stehen sich in der Türkei wie auch in der deutsch-türkischen Diaspora viele verschiedene Gruppierungen misstrauisch gegenüber: konservativ geprägte muslimische Türken, liberale westlich orientierte Türken, Minderheiten und andere. Woher kommt dieses gegenseitige Misstrauen?

Ich denke, das hat komplexe Ursachen und kann nicht auf eine einzige Quelle zurückgeführt werden. Politische Meinungsverschiedenheiten und ideologische Differenzen haben in der Türkei zu tiefen Gräben geführt. Diese Spaltungen betreffen viele Aspekte des politischen Lebens, einschließlich der Haltung zur Regierung, der Rolle der Religion in der Politik und der Interpretation der Geschichte.

In türkischen Schulbüchern wurde die Evolutionstheorie gestrichen, die Erfolge Atatürks teilweise gekürzt. Kennt die jüngere Generation Atatürk? 

Als ich zu der „jüngeren Generation“ in der Türkei gehörte, war Atatürk für mich die gesamte Summe aller positiven Werte, was Staat, die Gesellschaft und auch das Miteinander betrifft. Meiner Beobachtung nach wird Atatürk von vielen Jugendlichen heute sogar mehr geschätzt als jeder andere bisherige Staatpräsident. Viele junge Türkinnen und Türken sehen keine Zukunft mehr in dem Land – gerade weil sie die Ideale, die sie mit seinem Namen verbinden, politisch nicht erfüllt finden.  

Allerdings beherrscht kein Präsident der Türkei die Massen so gut wie Erdogan, er erfreut sich hier wie dort großer Beliebtheit. Besteht für die Türkei Hoffnung auf eine Rückkehr zu kemalistischen Prinzipien?

Für mich bleiben die Meinungen und Ansichten der türkischen Bevölkerung entscheidend. Die Oppositionsparteien und -gruppen spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der politischen Agenda. Nach dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar 2023 im Südosten der Türkei mit über 50.000 Toten steht das Land vor gewaltigen Herausforderungen; an vielen Orten schließt sich an das unmittelbare Leid und den schrecklichen Verlust tausender Menschenleben die Frage, wie ein nachhaltiger Wiederaufbau funktionieren und umgesetzt werden kann. Ob das politische System auf diese gewaltigen Herausforderungen adäquat reagiert, wird über eine mögliche Rückkehr zu kemalistischen Prinzipien mitentscheiden. 

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen. 

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