Tod von Alexej Nawalny - „Man spuckt sie aus wie eine Mücke“

Putins wichtigster innerrussischer Gegner ist in Lagerhaft verstorben, die genauen Umstände sind noch unklar. Für den Herrscher im Kreml dürfte Alexej Nawalnys Tod sogar einen willkommenen Nebeneffekt haben: als Warnung an die Adresse aller Zweifler.

Archiv: Protest für die Freilassung Nawalnys / dpa
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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In der Sowjetunion nach Stalin war internationale Bekanntheit eine Art Überlebensgarantie für Dissidenten, die wegen ihrer Kritik am Regime in den Gulag gekommen waren. Der Journalist Alexander Ginsburg, der Ex-General Piotr Grigorenko, der Physiker Juri Orlow: Sie alle überstanden Zwangsarbeit, Entbehrungen, Schikanen, Zwangsbehandlungen mit Psychopharmaka, weil die Kremlchefs im Westen  nicht der Ermordung prominenter Regimegegner bezichtigt werden wollten. 

Doch Wladimir Putin schert sich nicht im geringsten um sein Ansehen in der Welt, sein Ruf ist bereits rettungslos ramponiert: Die Führer der westlichen Welt schneiden ihn seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, nie mehr wird er im Weißen Haus oder im Elysée-Palast empfangen werden, geschweige denn im Bundestag eine Rede halten. Überdies ermittelt der Internationale Gerichtshof in Den Haag gegen ihn wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Verweigerung medizinischer Betreuung

So dürfte ihm auch die Nachricht vom Tod seines schärfsten Kritikers unter seinen Landsleuten egal sein. Aus Putins Sicht könnte sie sogar einen willkommenen Nebeneffekt haben, denn sie ist eine Warnung an die Adresse aller Zweifler: Wer am Kremlchef und dem von ihm begonnenen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, der nur als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet werden darf, Kritik übt, spielt mit seinem Leben. Dass der Tod Alexej Nawalnys beabsichtigt war, wird sich schwerlich nachweisen lassen; dass er aber billigend in Kauf genommen wurde, steht angesichts der Schilderungen seiner Anwälte über Folterungen und die Verweigerung einer angemessenen medizinischen Betreuung außer Frage.

Nawalny war Putin und seinen engen Gefolgsleute überaus lästig geworden, weil er in journalistisch sehr gut gemachten Videodokumentationen die Korruption und hemmungslose Bereicherung der Kremlelite angeprangert hat, nicht ohne immer wieder darauf hinzuweisen, dass etwa ein Drittel der russischen Bevölkerung auf Sozialhilfe angewiesen ist. Den Film über Putins gigantisches Schloss auf einer Anhöhe über dem Schwarzen Meer haben auch Millionen Russen auf YouTube gesehen. Nawalny hatte ihn freigeschaltet, als er vor dreieinhalb  Jahren in Deutschland war: Nach der Vergiftung mit Nowitschok hatten ihm Spezialisten der Berliner Charité das Leben gerettet; Angela Merkel und der damalige Vizekanzler Olaf Scholz besuchten ihn während der Genesung, was zwar den deutschen Medien, nicht aber den russischen Geheimdiensten entgangen war.

Groteske Gerichtsprozesse

Nawalny attackierte allerdings unterschiedslos auch die superreichen Wirtschaftsführer. Von der Sache her war dies zweifellos gerechtfertigt, doch politisch war es eher unklug, denn gerade in diesen Kreisen gibt es große Unzufriedenheit mit dem Kurs Putins, der zur Abkoppelung Russlands vom Westen geführt hat. Hier hätte Nawalny durchaus Unterstützung für seine Forderung nach Reformen bekommen können. 
 

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Trotz aller Warnungen kehrte er Anfang 2021 nach Russland zurück, er wurde schon auf dem Moskauer Flughafen verhaftet. In einem ersten Prozess wurde er aufgrund einer offenkundig manipulierten Anklageschrift wegen Unterschlagung zu neun Jahren Lager verurteilt. Noch grotesker war der zweite Prozess vor einem Jahr: Wegen Terrorismus bekam der bekennende Pazifist zehn weitere Jahre Gulag. Auch diese beiden Strafprozesse zeigten, dass dem Kreml die öffentliche Meinung völlig gleichgütig ist, denn die Vorwürfe waren genauso erfunden wie die Behauptung, in Kiew regierten Faschisten, daher müsse die russische Armee die ukrainischen Brüder von diesen Nazis befreien.

Keine innenpolitischen Folgen

Der Tod Nawalnys wird Wut und Verbitterung der Gegner Putins verstärken, doch innenpolitische Konsequenzen wird er wohl nicht haben. Denn die bekanntesten Regimekritiker sind längst ins Exil gegangen, wo sie sich allerdings keineswegs sicher fühlen können. Denn wie unter Stalin bringen die Geheimdienste Moskaus immer wieder Gegner sogar im Ausland um. Oder die Dissidenten sitzen bereits im Gulag, wie der Menschenrechtler Wladimir Kara-Mursa, der Sanktionen gegen die Kreml-Elite öffentlich befürwortet hat. Nicht einmal unter dem Langzeit-Parteichef Leonid Breschnew und seinem Geheimdienstchef Juri Andropow, die gnadenlos mit Dissidenten umgegangen waren, hatte es für einen Vortrag oder für einen Aufsatz 25 Jahre Gulag gegeben wie im Falle Kara-Musas, der – wie Nawalny – vor seiner Verurteilung ebenfalls einen Giftanschlag knapp überlebt hatte.

Nach den Schilderungen ehemaliger enger Mitarbeiter, die in Ungnade fielen, ist Putin vom Wahn besessen, von der Vorsehung für die Wiederherstellung des russischen Imperiums auserwählt worden zu sein. In seinem nationalistischen Geschichtsbild sind die Ukrainer eigentlich Russen, doch der Westen habe sie zur Konfrontation mit Moskau aufgehetzt. Dass nach den jüngsten Berichten von der Front die russischen Streitkräfte die Ukrainer immer mehr in die Defensive drängen, stärkt seine Stellung weiter. Die russische Industrie ist auf Kriegswirtschaft umgestellt und produziert in großen Mengen Panzer, Artilleriemunition und Drohnen, denen Kiew nur die stets zu spät und in zu geringen Mengen eintreffenden Rüstungsgüter aus dem Westen entgegensetzen kann.

Schlimmste Konsequenzen

Wenige Tage nach dem Überfall auf die Ukraine drohte Putin allen Kritikern schlimmste Konsequenzen an. „Man spuckt sie aus wie eine Mücke, die einem in den Mund fliegt“, erklärte er in seiner bilderreichen Sprache. Nawalny war in seinen Augen eine dieser Mücken. Einige Mutige werden vielleicht zu einem Gedenken auf die Straße gehen. Doch dem Regime gefährlich werden können sie nicht. Weitaus gefährlicher als die Mitstreiter und Anhänger Nawalnys könnten für Putin die Komitees der Soldatenmütter werden, die das Ende des Kriegs gegen die Ukraine fordern. Es sind zu viele, um sie zu vergiften oder ins Gulag zu schicken, ganz abgesehen davon, dass Mütter auch in der russischen Tradition besonders verehrt werden.

Der Tod Nawalnys zeigt auch auf, wie tief die Gräben zwischen Moskau und dem Westen geworden sind, Putin hat jeglichen Dialog selbst abgeschnitten. Bundeskanzler Scholz und andere Berliner Spitzenpolitiker fanden keinerlei Gehör, als sie an ihn appellierten, in der Causa Nawalny Milde walten zu lassen. Scholz kam nun zu der erstaunlichen Feststellung, Russland sei „längst keine Demokratie mehr“. Die traurige Erkenntnis  für Berlin lautet wieder einmal: Man hätte besser auf Nawalny und alle anderen gehört, die schon vor vielen Jahren vor Putin gewarnt haben.

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