Gespräch über Russland - „Nicht auszuschließen, dass nach Putin ganz radikale Kräfte ans Ruder kommen“

Der Historiker und Russlandexperte Dietmar Neutatz spricht im Interview über die politische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Russlands, die Ideologie des Kreml, die lange Vorgeschichte des Ukrainekriegs – und über die russische Volksseele.

Motorradfahrer bei einer Militärparade zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland / picture alliance
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Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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Dietmar Neutatz, Jahrgang 1964, ist Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Schwerpunkte sind die Geschichte Russlands und der Sowjetunion vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sowie die Mentalitätengeschichte des Stalinismus. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Träume und Alpträume – Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“ (C. H. Beck).

Herr Neutatz, war der 7. Oktober 2023, der Tag des Hamas-­Massakers gegen Israel, für Putins Regime ein guter Tag? 

Wir wissen, dass mediale Aufmerksamkeit sich nicht beliebig lange auf hohem Niveau halten lässt. Wenn ein anderer Brennpunkt in den Fokus gerät, kommt Putin das gerade recht. Es spielt ihm auch in die Hände, dass Israels militärische Antwort auf den Terror ein gewisses Konfliktpotenzial in die westlichen Gesellschaften trägt. 

Ist Putin nur ein Taktiker und Zyniker der Macht oder hat er wirklich eine Vision von Russlands historischer Mission? 

Ein zynisches und skrupelloses Verhältnis zur Macht hat er in jedem Fall. Er ist aber von Anfang an mit dem Willen angetreten, Russland wieder stark zu machen. Mittlerweile scheint er von der Mission erfüllt zu sein, als derjenige in die Geschichte einzugehen, der das Russische Imperium nach einer Phase des Zerfalls wiederhergestellt hat. In seiner Rede im Februar 2022, in der er den Angriff auf die Ukraine rechtfertigte, schien er geradezu aufgewühlt zu sein von dem, was er sagte. Aber wir können nicht in ihn hineinschauen.

Er holte damals weit aus und sprach von der alten „Rus“ im frühen Mittelalter, um vermeintlich zu belegen, dass die Ukraine zu Russland gehöre. 

Geschichte und Geschichtspolitik sind für ihn seit rund zehn Jahren ein ganz wichtiges Thema. 2012 wurde als „Jahr der russischen Geschichte“ ausgerufen. Damals setzte eine geschichtspolitische Offensive ein, die Geschichte ganz gezielt für eine expansive russische Politik instrumentalisiert. Rückblickend kann man feststellen: Die russische Gesellschaft wurde seit 2012 mental auf einen Angriffskrieg vorbereitet.

Bei Putin erscheint die russische Geschichte wie ein großes Heldenepos. Setzt er sich damit bewusst vom Westen ab, wo die eigene Geschichte tendenziell negativ betrachtet wird als Aneinanderreihung von unmoralischen Verbrechen? 

In dem Geschichtsbild, das in Russland mit großem Aufwand über Multimedia-Ausstellungen, Schulbücher, Denkmäler und Filme unters Volk gebracht wird, kommt die russische Geschichte in der Tat als eine kontinuierliche Reihe von siegreichen Kämpfen und unhinterfragter Expansion daher. In dieser Erzählung spielen starke Herrscher und Kriegshelden eine zentrale Rolle, während das Auftreten einer Opposition immer als Krisenphänomen dargestellt wird. Für die Gegenwart wird daraus gefolgert, dass Russland Großmacht und Imperium sein muss und insbesondere durch den Sieg über Hitler-Deutschland 1945 einen Anspruch auf einen Machtbereich hat, der Nachbarländer miteinschließt. Im Denken Putins gibt es eine Hier­archie von Mächten. Großmächte haben demnach das Recht, über andere zu bestimmen. Putin publizierte 2015 aus Anlass des Jahrestags des Sieges einen Artikel, in dem er sinngemäß an die Siegermächte von damals appellierte: Erinnern wir uns an die gemeinsame Leistung von damals und lasst uns wieder an einem Tisch über alle Probleme reden. Das ist seine Vorstellung: Wir, die Großmächte, lösen die Probleme über die Köpfe der anderen hinweg und teilen die Welt unter uns auf. Die Interessen der betroffenen Länder, etwa der Ukraine, sind da völlig nebensächlich. 

Wie wird in diesem Geschichtsbild die Frühphase der Sowjetunion mit Hunderttausenden Hinrichtungen und anderen Verbrechen betrachtet? 

Der Massenterror, die schrecklichen Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft, die Hungersnot von 1932/1933, all das wird nicht verschwiegen. Aber es wird eingebettet in ein Narrativ, das in den Zweiten Weltkrieg mündet. Und mit dem Sieg 1945 wird das dann sozusagen rückwirkend legitimiert: Die Opfer der 1930er Jahre seien notwendig gewesen, um die Sowjetunion stark zu machen, damit sie im Zweiten Weltkrieg standhalten konnte. Das ist ein altes sowjetisches Rechtfertigungsmuster: den siegreichen Krieg zu nutzen, um die Verbrechen der 1930er Jahre zu rechtfertigen und auch diesem Leiden einen Sinn zu geben.

Apropos Sinngebung: Der Angriff auf die Ukraine wird vom Putin-Regime ja damit gerechtfertigt, dass dort angeblich Nazis an der Macht seien. Das erscheint aus westlicher Perspektive völlig absurd. Was sind für Putin Nazis oder Faschisten? 

Seit den 1930er Jahren war in der Sowjetunion Nazi oder Faschist der Feindbegriff schlechthin. Für einen Faschisten gibt es keine Rechtfertigung, der muss bekämpft werden. Diese Rhetorik ist also ein raffinierter Propagandatrick zur Diffamierung der Ukraine. Das hat wenig mit dem zu tun, was wir als Nationalsozialismus oder Faschismus verstehen. Nazis und Faschisten sind im Sprachgebrauch von Putin alle Ukrainer, die ihr Land als ein von Russland unabhängiges betrachten und nicht bereit sind, sich Russland unterzuordnen. Entnazifizierung ist eine Chiffre für die Liquidierung der unabhängigen und selbstbestimmten Ukraine, für ihre Vernichtung als Nation. 
 

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Zum Rezept der Putin-Herrschaft gehörte zu Anfang vor allem die Aussicht auf Stabilität und steigenden Wohlstand. Erwarten das die Russen heute nicht mehr? 

Sein ursprüngliches Versprechen, die Wirtschaft zu modernisieren und so eine nachhaltige Grundlage für Wohlstand zu schaffen, ist etwa seit der Finanzkrise von 2008 gescheitert. In den Jahren 2010 bis 2012 gingen Putins Umfragewerte entsprechend nach unten. Es gab in Moskau Massenproteste gegen ihn. Ökonomisch war er also nur begrenzt erfolgreich. Russland hat weiterhin große Einnahmen aus den Exporten, aber das sind vor allem Öl, Gas und Holz. Das ist die Exportstruktur eines Entwicklungslands. Aber trotzdem sind in den mehr als 20 Jahren seiner Herrschaft die Lebensverhältnisse in großen Teilen des Landes besser geworden. Auch in den letzten Monaten gelingt es der russischen Wirtschaft erstaunlich gut, die westlichen Sanktionen zu kompensieren. Es gibt in den Geschäften keinen Mangel an Waren. Und Stabilität im Sinne öffentlicher Ordnung und Sicherheit, was auch zu Anfang sein Versprechen war, ist ebenfalls gegeben. Das liegt in der Natur einer Diktatur. Der Krieg hat sogar Effekte, mit denen wir nicht gerechnet hatten: In den strukturschwachen Regionen sieht man positive Auswirkungen des Krieges, weil jetzt sehr viel Geld in die Dörfer fließt. Putin bezahlt nämlich die angeheuerten Soldaten sehr gut. Wenn sie ums Leben kommen, erhalten die Angehörigen hohe Entschädigungssummen. Für viele sozial schwache Familien ist es attraktiv, wenn ein Sohn oder der Ehemann, der vielleicht sonst für nichts taugt oder gar im Gefängnis war, sich zum Militär meldet.

Trotz der relativ hohen Verluste für die russische Armee scheint es, vom Prigoschin-Putsch abgesehen, kaum Desertionen von Soldaten oder Massenproteste zu geben. Kann man dennoch hoffen, dass die Russen irgendwann gegen Putins Regime rebellieren? 

Es gab zu Anfang des Krieges begrenzte Proteste. Aber die Reaktion des Staates war so rigoros, dass solche Aktionen derzeit kaum möglich sind, zumal die Strukturen der Opposition systematisch zerschlagen wurden. Schon seit der ersten Amtszeit Putins wurden Journalisten ermordet. Potenzielle Oppositionsführer sind inhaftiert, Organisationen der Zivilgesellschaft verboten. Die russische Gesellschaft hatte schon in den Jahrzehnten der Sowjetunion gelernt, dass man besser den Mund hält. Man spricht vielleicht zu Hause oder mit vertrauenswürdigen Freunden offen, aber duckt sich sonst lieber weg und wartet ab, was passiert. Denn auf der falschen Seite zu stehen, kann schnell gefährlich sein. Wer will, kann sich im Internet aus dem Ausland informieren. Aber das tun nur begrenzte Kreise. Kritische Zeitungen wurden verboten. Und das staatliche Fernsehen ist sehr viel einflussreicher als bei uns. Diejenigen, die das anschauen, leben in einer komplett anderen Informationswelt. 

In der früheren sogenannten Völkerpsychologie galten „die Russen“ als besonders leidensfähig. Im Zweiten Weltkrieg verkündete das Sowjetregime dann den „Massenheroismus“. Gibt es eine historisch gewachsene Einstellung zum Krieg, die sich vom Westen unterscheidet? 

So eine Völkerpsychologie funktioniert nicht wirklich. Aber richtig ist die Beobachtung, dass die russische Kriegführung gegenüber den eigenen Soldaten immer extrem rücksichtslos war und ist. Das bestätigen auch die Zahlen aus dem Zweiten Weltkrieg. Offiziell sind 8,7 Millionen Rotarmisten gefallen, aber das ist sicher eine nach unten manipulierte Zahl, neuere Berechnungen gehen von eher 19 bis 20 Millionen aus. 

Das wäre mehr als das Vierfache der Verluste der deutschen Armee. 

Die Erklärung dafür sehe ich aber nicht völkerpsychologisch. Allein schon demografisch hatte die Sowjetunion riesige Menschenreserven. Die Kriegführung war nicht nur eine Frage des Patriotismus und Heroismus. Das ist die Eigendarstellung. An der ist natürlich auch etwas dran. Viele haben sich aufgeopfert. Aber gleichzeitig spielte auch der stalinistische Repressionsapparat eine Rolle. Im Zweiten Weltkrieg standen hinter den sowjetischen Soldaten sogenannte Sperrabteilungen, die auf jeden schossen, der nicht vorwärtsstürmte. Standrechtlich erschossen wurden 158 000 Rot­armisten, eine Million wurden zu Lagerhaft oder Strafbataillon verurteilt. Da relativiert sich die Opferbereitschaft. In anderen Ländern wäre so eine brutale Kriegführung gar nicht möglich gewesen. Doch in der Sowjetunion hat das keinen Widerstand in der Bevölkerung ausgelöst. Erstens weil diese Zahlen gar nicht bekannt wurden, und zweitens weil es ein Existenzkampf war, an dessen Ende eben der große Sieg stand. Dieser Sieg von 1945 hat alle Opfer gerechtfertigt. Der Sieg ist wirklich ein ganz zentraler Angelpunkt für das Selbstverständnis sowohl der späten Sowjetunion als auch des heutigen Russland. Deswegen wird dieser Sieg auch so intensiv in Erinnerung gerufen.

Also ein starker Gegensatz nicht nur zum deutschen Blick auf 1945, sondern auch zu den westlichen Siegermächten, wo das Ende des Krieges eine Mentalitätszäsur hin zum Postheroismus und Pazifismus bedeutete.

Ja, aber das hat auch einen faktischen Hintergrund. Der Krieg des nationalsozialistischen Deutschland gegen die Sowjetunion war ein Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Die Bevölkerung wusste: Sie wollen uns als Land auslöschen und versklaven. Daraus resultierte nicht nur ein besonders großer Abwehrwillen im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie es im russischen Sprachgebrauch heißt, sondern auch eine besondere Bedeutung des Sieges. Bemerkenswert ist allerdings, dass das Erinnern im heutigen Russland weniger auf die Opfer und das Leid gerichtet ist, sondern auf den siegreichen, heldenhaften Kampf. Das ist der Mittelpunkt der Geschichtspolitik von Putin, verbunden mit dem Appell insbesondere an die Jugend, den Helden von damals nachzueifern. 

Kommen wir zur nächsten großen Zäsur des 20. Jahrhunderts: War der Zusammenbruch des sow­jetischen Imperiums in den Jahren 1989 bis 1991 möglicherweise für die Russen nicht so epochal, wie damals im Westen gedacht? 

Es war in jeder Hinsicht eine epochale Zäsur: das Ende der Sowjetunion als Supermacht, das endgültige Scheitern des Gegenmodells zum liberalen, kapitalistischen Westen. Und es war eine Wende zu Freiheit, Demokratie – die Chance, dass Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ganz normale Länder werden. In den 1990er Jahren entwickelte sich erstmals von unten eine Zivilgesellschaft mit demokratischen Ansätzen. Das muss man auch unbedingt dem putinschen Narrativ entgegenhalten, das behauptet, der Untergang der Sowjetunion sei eine Katastrophe gewesen. Putin lädt diese Zäsur negativ auf, indem er die 1990er Jahre als finstere Zeit des Chaos, der Unsicherheit, der Kriminalität, des Zerfalls der Staatsmacht darstellt. Darauf baut er sein Gegenprogramm auf, Russland autoritär zu regieren und auf diese Weise wieder stark zu machen. 

Warum wurde Russland im Gegensatz zu anderen einst kommunistischen Staaten nicht zu einem Teil des globalen Westens? 

Russland war auf dem Weg und hat sich in der urbanen Lebensweise dem Westen angenähert. Ein Problem war die abstürzende Wirtschaft als Spätfolge der sowjetischen Misere. Der Tiefpunkt war 1995 erreicht. Als Putin an die Macht kam, war Russland schon in einer Aufschwungphase. Aber die Demokratie war diskreditiert durch das jelzinsche System der Korruption und der Verflechtung von ökonomischer und politischer Macht. Die Macht einer kleinen Schicht von Oligarchen, die auf dubiosen Wegen zu riesigen Vermögen kamen, war vielen zuwider. Putin war angetreten, damit aufzuräumen. Er hat sich so viel Zustimmung verschafft, indem er exemplarisch einige dieser einflussreichen Oligarchen vor Gericht stellen ließ und den anderen signalisierte, sich nicht in die Staatsmacht einzumischen, sondern sich ihr unterzuordnen. So funktioniert das Putin-System seither. Kein Oligarch wendet sich mehr gegen ihn, weil sie wissen, dass es ihr Ende wäre.

Sehen sich heutige Russen als Europäer?

Das ist eine schwierige Frage, die auch im russischen Sprachgebrauch immer wieder irritierend beantwortet wird. Man spricht oft von Europa als dem anderen, meint aber Westeuropa. Man konstruiert da also einen Gegensatz: Europa und wir. Andererseits ist Russland de facto ein Teil der europäischen Kultur. Und Russland wollte ja auch bis in die Amtszeit von Putin hinein ein Teil Europas sein. Gorbatschow sprach von „Unserem gemeinsamen Haus Europa“, und diese Vorstellung war auch danach präsent. Erst seit den letzten zehn oder 15 Jahren sind viele in eine Abwehrhaltung gerutscht, die von der staatlichen Propaganda befeuert wird. Und die ist im Bunde mit der russisch-­orthodoxen Kirche, der alles zuwider ist, was im Westen gerade Hochkonjunktur hat: Individualismus, Gender, sexuelle Vielfalt. Das stellt auch Putin immer als Schreckensbild dar: Schaut euch den dekadenten Westen an, so wollen wir doch nicht werden! 

Für die Menschen in der DDR und den anderen früheren Ostblockstaaten war die westliche Popkultur ein wichtiger Anreiz, der zur Wende von 1989 beitrug.

Das war in der Sowjetunion genauso. Auch da haben sich ab den 1960er Jahren viele Leute westliche Popmusik besorgt. Sogar im kommunistischen Jugendverband wurden Diskotheken eröffnet. Popkultur gibt es auch weiterhin in Russland. Das ist kein Widerspruch. Die alltägliche Lebensweise unterscheidet sich wenig von unserer. Wenn Sie durch Moskau gehen, haben Sie das Gefühl, in einer modernen, westlichen Stadt zu sein – die gleiche Konsumkultur. Die Wendung gegen den Westen betrifft nur ganz bestimmte Elemente, die aber jetzt stark in den Vordergrund gerückt werden.

Empfinden es diese westlich lebenden Russen nicht als schmerzhaft, dass sie durch Putins Politik nun international zu einer Art Ausgestoßene geworden sind?

Ja, das ist bei vielen so. Aber die große Masse, die der offiziellen Propaganda folgt, sieht das als Produkt der westlichen Politik. Seit Jahren wird gepredigt, dass der Westen Russland übel mitspiele und man sich das jetzt nicht mehr gefallen lassen dürfe. Ich erinnere mich an Gespräche mit Russen nach den ersten Sanktionen wegen der Annexion der Krim 2014. Ich wurde gefragt: „Was habt ihr nur gegen uns? Warum hetzt ihr gegen uns, wir könnten doch gut miteinander leben?“ Überhaupt keine Einsicht, dass die Ursache auf der russischen Seite liegt. Sondern die Vorstellung, der Westen wolle Russland schaden. Aber natürlich gibt es auch Russen, die Ursache und Wirkung in die richtige Reihenfolge bringen. Und die sind höchst unglücklich damit, was da seit über zehn Jahren in Russland abläuft. Einer hat mir kurz nach Kriegsausbruch geschrieben, er habe jetzt Angst, dass Russland zu einem großen Nordkorea werde. 

Gehen wir noch mal in die Geschichte zurück. Die Machtübernahme der Bolschewiki 1917 war nur möglich durch die Niederlage des Zarenreichs im Ersten Weltkrieg. Könnte das eine Parallele zu heute werden? Ein verlorener Krieg als Auslöser eines politischen Umsturzes? 

Denkbar ist das durchaus. Aber Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Es gibt bestimmte Muster. Dass ein katastrophal verlaufender Krieg einen inneren Umsturz auslöst, das hatten wir tatsächlich in Russland 1905, nach der Niederlage gegen Japan, und dann 1917. Aber wie der heutige Krieg enden wird, ob es tatsächlich eine Niederlage Russlands geben wird, kann man noch nicht abschätzen. Wenn er vielleicht eingefroren wird und so noch Jahre andauert, wird das eher keinen Umsturz auslösen. Kritisch würde es für Putin, wenn er gezwungen wäre, die annektierten Gebiete wieder zurückzugeben. Das wäre ein klarer Misserfolg, der die Stimmung kippen lassen könnte. Ich vermute, Putin spekuliert darauf, dass eher dem Westen vorher der Atem ausgeht und die Unterstützung für die Ukraine bröckelt, sodass sie dann kollabiert und er sie vollständig unter seine Kontrolle bekommt. 

Dietmar Neutatz / Foto: Jeannette Petri

Also ist der heutige Krieg, so schrecklich er auch ist, nicht so schmerzvoll, dass die Russen Putin die Gefolgschaft aufkündigen?

Das ist ein wichtiger Punkt. Putin hat keine Generalmobilmachung mit der Einberufung von Millionen Männern befohlen. Die in der Ukraine kämpfen, sind Vertragssoldaten, die sehr gut bezahlt werden. In den großen Städten wird kaum rekrutiert, sondern dort, wo es für viele tatsächlich attraktiv ist. 

Gibt es denn irgendeine Perspektive dafür, wie es nach einem Ende Putins weitergehen könnte? 

Schwierig. Ich halte für den Fall eines Sturzes von Putin einen Machtkampf verschiedener Gruppierungen für wahrscheinlicher als einen schnellen Übergang zur Demokratie.

Also eine Phase der Diadochenkämpfe hinter verschlossenen Türen? 

Möglicherweise ein Kampf innerhalb der Eliten, aber vielleicht auch regionale Konflikte. Auch einen offenen Bürgerkrieg kann man nicht ausschließen. Aber ich schätze, dass die breite Bevölkerung nicht aktiv wird, sondern abwartet, wer sich durchsetzt. Einen Favoriten sehe ich da nicht. Wenn es gut läuft, formiert sich eine zivilgesellschaftlich-demokratische Kraft. Die könnte sich dann um einen aus dem Lager entlassenen Alexei Nawalny bilden. Der ist eine mögliche, aber nicht unumstrittene Identifikationsfigur für die Opposition. Das demokratische Lager ist seit vielen Jahren in verschiedene Gruppierungen gespalten. Und es gibt auch andere Akteure. Der Putschversuch von Prigoschin im Sommer hat ja erstaunliche Zustimmung gefunden in den Orten, wo er auftauchte. Man kann auch nicht ausschließen, dass nach Putin ganz radikale Kräfte ans Ruder kommen, denen Putins Politik zu weich und inkonsequent ist. 

Eine prowestliche große Demonstrationsbewegung nach dem Muster von 1989 sehen Sie nicht voraus? 

Im Moment jedenfalls sehe ich dafür keine Grundlage. Aber wenn Putin diesen Krieg deutlich verliert, würde ich so etwas nach dem Muster der Farbenrevolutionen in der Ukraine oder Georgien auch für Russland nicht ausschließen. Das ist im Übrigen einer der Gründe für den Krieg, der viel zu oft übersehen wird. Es geht nicht nur um das Imperiale, es geht auch darum, dass Putin seit der Orangenen Revolution die Sorge hat, dass das ukrainische Beispiel einer mobilisierten Zivilgesellschaft, die am Westen orientiert ist, nach Russland überschwappt und die von ihm errichtete korrupte Diktatur aus den Angeln hebt. Schon allein deshalb muss in seiner Logik die demokratische, westorientierte Ukraine zerstört werden.

Haben sich Ihre persönlichen Kontakte zu Russen durch den Krieg verändert?

Institutionelle Kooperationen und Kontakte zu Universitäten wurden abgebrochen. Ich habe aber weiter Kontakt zu Freunden und Kollegen, von denen ich weiß, wie sie denken und wie sehr sie unter dem Krieg leiden. Man muss in der Kommunikation aufpassen. Man kann Menschen sehr schnell schaden, da in letzter Zeit Gesetze erlassen wurden, die sehr willkürlich anwendbar sind. Da genügt ein falsches Wort über den Zweiten Weltkrieg, um jemanden ins Gefängnis zu bringen. 

Lieben Sie Russland?

Liebe ist ein zu starkes Wort. Ich habe seit den 1980er Jahren viele Reisen nach Russland gemacht, habe dort auch gelebt, Menschen getroffen, die mir sympathisch waren, große Gastfreundschaft erlebt, Freunde gewonnen. Das bewirkt schon eine emotionale Verbundenheit. Von daher tut mir weh zu beobachten, wie sich Russland unter Putin entwickelt hat. 

Das Gespräch führte Ferdinand Knauß. 

 

 

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