Russland in der Offensive - Und was, wenn die Ukraine verliert?

Die Ukraine hat sich bisher auf dem Feld überraschend gut geschlagen. Doch Russland geht in die Offensive und verfügt über viel größere Reserven als sein Gegner. Deshalb stellt sich die Frage: Wie würden die USA im Fall einer ukrainischen Niederlage reagieren? Eine direkte Konfrontation mit Putins Armee wäre dann jedenfalls nicht mehr ausgeschlossen.

Gräberfeld in der Nähe der umkämpften ukrainischen Stadt Bachmut / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Vor kurzem habe ich über die russischen Vorbereitungen für eine Großoffensive in der Ukraine geschrieben: eine Zangenbewegung, die die ukrainischen Streitkräfte von Norden und Süden her einschließen würde. Inzwischen wird allgemein über ein solches Vorgehen Russlands in den nächsten Monaten diskutiert, wenn auch auf viele verschiedene Arten; die meisten davon weichen von meiner Version ab.

Die wichtigste Frage ist jedoch, ob die Ukrainer einen solchen Angriff abwehren könnten. Im vergangenen Jahr hat die Ukraine auf dem Schlachtfeld viel besser abgeschnitten als erwartet, Russland dagegen viel schlechter. Aber Großmächte können sich den Luxus leisten, früh zu stolpern, da sie aufgrund ihrer Größe über die nötigen Ressourcen verfügen, um sich von ersten Niederlagen zu erholen. Die Erfolge schwächerer Mächte wiederum erweisen sich mitunter als Schein-Siege. Und obwohl Russland theoretisch durchhalten und die Ukraine durch schieres Weitermachen ins Taumeln bringen könnte, wäre dies nur ein letzter Ausweg. Das ist die Ungewissheit des Krieges.

Tritt Weißrussland in den Krieg ein?

Weißrussland scheint darüber nachzudenken, in den Krieg einzutreten, und obwohl ein entsprechender Nutzen begrenzt wäre, könnte Weißrusslands Wissen über das Kräfteverhältnis in der Ukraine für Moskau von Vorteil sein. Russische Flugzeuge (sowie Geheimdienstmitarbeiter, wie ich vermute) operieren jetzt in Moldawien – und Rumänien als dessen Nachbar und gelegentlicher Beschützer ist in Alarmbereitschaft. Die Ängste sind groß. Frankreich und andere europäische Länder haben ihre Staatsangehörigen aufgefordert, aus Belarus auszureisen, und die USA haben ihre Bürger ermahnt, Russland zu verlassen.

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Wenn die Ukrainer keinen wirksamen Widerstand mehr leisten können, und wenn die Flanken, die Weißrussland und Moldawien darstellen, einen Weg nach Polen und Rumänien öffnen: Was werden die Vereinigten Staaten dann tun? Europa wird auf Gedeih und Verderb dem Beispiel Washingtons folgen. Das Worst-Case-Szenario wäre natürlich jener militärische Konflikt, der während des Kalten Krieges vermieden wurde. Dieser Krieg hat nie stattgefunden, weil Russland nicht die Macht hatte, die Nato (und damit Amerika als wichtigsten Geldgeber) anzugreifen, geschweige denn zu besiegen. Die Russen waren angesichts des Risikos eines Scheiterns und der noch riskanteren, wenn auch unwahrscheinlichen Möglichkeit eines nuklearen Schlagabtauschs nicht zu einem Angriff bereit.

Die Risiken einer Intervention

Dennoch müssen die USA die Risiken einer Intervention bedenken. Sollte Russland die Ukraine besetzen, würde Wladimir Putins Reich faktisch an Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien grenzen. Es ist kein Geheimnis, dass Putin, ein ehemaliger KGB-Agent, den Zusammenbruch der Sowjetunion als geopolitische Katastrophe betrachtet. Was bedeutet, dass er den Verlust der russischen Macht in Mitteleuropa ebenso bedauerlich finden könnte. Eine Rückkehr zu den Grenzen des Kalten Krieges nach dem Sieg über die Ukraine würde die geopolitische Position Russlands wieder ausgleichen. Und es würde die Frage aufwerfen, ob und wann Russland noch weiter gen Westen vordringen könnte. Ein solches Szenario würde Europa in eine Lage versetzen, die es sich nie hätte vorstellen können: mit einem feindlichen und mächtigen Feind an seiner Grenze zu leben – und mit einem nicht immer berechenbaren Amerika, das seine Grenzen sichert.

Auch jetzt würde eine russische Besetzung von Teilen Europas die Kontrolle der USA über den Atlantik bedrohen – etwas, wofür Washington zwei Weltkriege geführt hat. Unter diesen Umständen wäre eine direkte amerikanische Intervention auf ukrainischem Boden leichter zu rechtfertigen. Schließlich könnte es in der Ukraine leichter manövrieren und hätte ein Netz von Verbündeten in der Nähe und in Not.

Direkter Angriff auf russische Truppen

Sollte die Verteidigung der Ukraine zusammenbrechen, müssten die USA einige rasche Entscheidungen treffen (oder bereits getroffene Entscheidungen schnell umsetzen). Sie könnten Truppen in die Ukraine entsenden, um einen russischen Rückzug zu erzwingen, oder sie könnten einen Kampf ablehnen. Ein direkter Angriff auf russische Truppen mit begrenzten Kräften kann ein langwieriger, schmerzhafter und ungewisser Einsatz sein. Aber wenn man das Ergebnis akzeptiert und nichts unternimmt, öffnet man Russland die Tür, Europa wieder neu zu ordnen. Ein zweiter Kalter Krieg wäre dann ein notwendiges, aber unerwünschtes Ergebnis. Eine Stärkung der Ukraine vor ihrem möglichen Zusammenbruch wäre daher die risiko- und kostenärmere Option.

Wenn die Ukraine fällt, werden die USA gezwungen sein, sich unmittelbar mit Russland auseinanderzusetzen. Ein direkter Kampf in der Ukraine wird eine Option sein – was bedeutet, dass damit auch innenpolitische Schmerzen verbunden sind. Denn Präsidenten werden selten dafür belohnt, dass sie sich einer Bedrohung entgegenstellen, deren Potential sich noch nicht manifestiert hat (auch wenn sie unvermeidlich ist).

Ich sage natürlich nicht die baldige Niederlage der Ukraine voraus. Ich spiele lediglich alle Optionen für den Fall durch, dass die Ukraine fällt. Die Vorsicht – und die bevorstehende russische Offensive – gebieten es.

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