Rentenstreit in Frankreich - Wie weiter mit Regierung und Reform?

Der parlamentarische Widerstand ist knapp gescheitert: Nur neun Stimmen fehlten beim Misstrauensvotum gegen Premierministerin Borne. Die Proteste gegen die französische Rentenreform dürften aber weiter an Größe, Wucht und Härte zunehmen.

Gewaltsamer Protest gegen die französische Rentenreform / picture alliance
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Stürmische Tage in der Assemblée Nationale in Paris. Nach den Tumulten vom Donnerstag, als Premier Élisabeth Borne die Rentenreform auf Geheiß ihres Chefs Emmanuel Macron per Dekret (Artikel 49.3) und am Parlament vorbei durchsetzte, folgte gestern am frühen Abend dann Teil zwei mit Misstrauensvoten gegen die Regierung – und implizit natürlich gegen Präsident Macron. 

Um 19:01 Uhr verkündete die Parlamentspräsidentin das Ergebnis des ersten, fraktionsübergreifenden Misstrauensantrags. 287 Abgeordnete beschieden Élisabeth Borne, sie solle aus dem Amt entfernt werden. Damit fehlten lediglich neun Stimmen, dann wären die Rentenreform und mit ihr die Regierung gescheitert. Kaum jemand hatte damit gerechnet, es könnte derart knapp werden. Und bei genauer Betrachtung wird die schallende Ohrfeige immer nur noch heftiger. 

Macrons Vabanquespiel hat funktioniert

Denn die Parteien pro Rentenreform hätten ganz sicher weniger Stimmen als die 278 aufbringen können. Viele ihrer Abgeordneten glänzten selbst in dieser Krisensituation mit Anwesenheit. Die Oppositionskräfte hatten zwar die relative Mehrheit des Parlaments. Aber ähnlich wie in Deutschland verlangt auch die französische Verfassung bei einem Misstrauensvotum eine konstruktive, also absolute Mehrheit. Und dafür hätte es 287 Stimmen bedurft.

Macrons Vabanquespiel hat also vorerst funktioniert. Extrem knapp zwar, aber es ist aufgegangen. Denn man muss betonen: Der Weg, den Macron beschritten hat, ist legal. Der Präsident darf qua Verfassung so verfahren. Nur ist es eben weder besonders klug noch demokratisch. Und so gingen unmittelbar nach Bekanntgabe der Abstimmung im Parlament hunderte von Demonstranten auf die Straße. Bereits um 19:10 Uhr brannten auf der Place Vauban – nur gut einen Kilometer von der Assemblée entfernt – die ersten Barrikaden aus Müllsäcken. Und davon gibt es in Folge des nun bereits zehntägigen Streiks der Müllmänner mehr als reichlich.

Die Regierung ist angezählt

Gewalt ist immer ein Thema bei französischen Demonstrationen. Gestern hieß es wörtlich: „Wenn der Präsident uns mit Gewalt bedroht, dann kriegt er auch Gewalt zurück.“ Allein in Paris brachte die Nacht 142 verhaftete Demonstranten und elf verletzte Polizeibeamte. Die Regierung ist mehr als angezählt. Auch wenn Élisabeth Borne nicht müde wird zu betonen, sie werde weitermachen, ist es lange nicht ausgemacht, ob sie diese Woche politisch überleben wird. Das gilt nicht einmal für den heutigen Tag. Parallel zur Rücknahme der Rentenreform wird ihr Rücktritt landauf landab gefordert.
 

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Auch wenn die Möglichkeiten des parlamentarischen Widerstands gegen die Rentenreform vorerst ausgeschöpft sind, das echte Leben dürfte anders werden. Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu prognostizieren, dass die Streiks und Demonstrationen an Größe, Wucht und Härte deutlich zulegen werden. Schon am Donnerstag dürfte es bei landesweiten Demonstrationen krachen. Die Menschen sind wütend, über die Rentenreform selbst und erst recht über das Verfahren, ein wichtiges Sozialgesetz mangels eigener Mehrheit ohne Abstimmung per Dekret durchzupeitschen.

Aber das, da dürfte Macron richtig spekulieren, geht irgendwann vorüber. Die Proteste werden höchstwahrscheinlich abebben. Mehrmals pro Woche die Arbeit zu verweigern, muss man sich eben auch leisten können. Und Streikkassen mit Ausfallgeld gibt es in Frankreich kaum, schon weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad hierzulande bei unter 6 Prozent liegt.

Macron hat seine Glaubwürdigkeit verloren

Das Problem ist ein anderes: Bei dem Versuch, sein zentrales Wahlversprechen zu halten, hat Macron seine Glaubwürdigkeit verloren. Und das ziemlich komplett. 2017 wurde ein junger, frischer, 39-jähriger Mann zum Präsidenten gewählt, eben weil er ankündigte, Frankreich zu modernisieren und zusammenzuführen und dabei das Sozial-, Gesundheits- und Wirtschaftssystem zu erneuern. Mehr noch: Er versprach, die politische Kultur Frankreichs wiederzubeleben und so den weiteren Aufstieg von Marine Le Pen zu verhindern. Bei seiner Wiederwahl im vergangenen Jahr bekundete er, den Ärger der Franzosen verstanden zu haben und sich stärker bemühen zu wollen, der Präsident aller Franzosen zu sein.

Davon ist nichts, aber auch gar nichts geblieben. Und das Durchpeitschen der Rentenreform qua Dekret ist ein Sündenfall. Macron hat jetzt zwar sein Wahlversprechen, die Rentenkassen zukunftsfest zu machen, gehalten, aber zu welchem Preis? Ja, der Paragraph 49.3 ist legal, der Präsident darf das tun, aber davon wird der Vorgang kein Jota demokratischer. Von wegen politische Kultur wiederbeleben. 

Macron hat persönlich nichts zu verlieren, weil er nicht ein drittes Mal gewählt werden kann, aber er hat gleichwohl jedes Vertrauen verspielt. Ein Bärendienst für seine politischen Freunde. Und: Was will er noch tun in den kommenden drei Jahren seiner Amtszeit? Wen zu welchem Zweck zusammenführen? Und das alles für eine bestenfalls halbgare Reform.

Lame Duck mit 45

Der erste Anlauf zur Rentenreform 2018 war klüger und sozialer. Damals wollte Macron die sogenannten „Sonderregime“ (40 eigenständige berufsständische Rentensysteme mit zum Teil weitreichenden Privilegien) beseitigen und über ein Punktesystem vor allem Geringverdiener und Frauen begünstigen. Damals war die Gewerkschaft CFDT an seiner Seite. Davon ist nichts geblieben. Die Mehrheit der Menschen ist überzeugt, die Pariser Eliten wollten sie „gnadenlos auspressen“. Selbst wenn er will, wird Macron nicht mehr viel an Politik durchsetzen können. Lame Duck mit 45. 

Mittwochmittag um 13 Uhr will Macron sich im Fernseh-Interview äußern und seine weiteren Pläne verkünden. Man darf gespannt sein. Was will er sagen? Ich habe verstanden und ziehe die Reform zurück: geht nicht. Nun beruhigt euch mal – die Rentenreform ist beschlossene Sache, ihr habt verloren und ich gewonnen: geht ebenso wenig. Ein nachgeholtes Referendum, ob im Parlament oder als Volksbefragung, kann er nur verlieren, ist also auch ausgeschlossen. Man muss gespannt sein – jedenfalls die Menschen, die überhaupt noch gewillt sind, zuzuhören –, ob Macron zu Aller Überraschung ein Kaninchen aus dem Hut zaubern kann. Bis dahin geben sich die Spitzenpolitiker im Élysée-Palast die Klinke in die Hand, auch um zu eruieren, welches Personal an diesen Plänen beteiligt ist. 

Vertrauen im Sinkflug

Schaden genommen hat in jedem Fall die Demokratie. Das Vertrauen der Menschen in Politiker wie das System als solches befindet sich im Sinkflug, wenn nicht im freien Fall. Es wiederherzustellen, dafür war Macron angetreten. Nun hat er es noch schwerer geschädigt als zuvor. Einzahlen wird das alles bei Marine Le Pen. Sie stilisiert sich in der Rolle der „einzig legitimen Vertreterin des Volkswillens und Stimme der normalen Menschen gegen Die-da-oben“. Und sie findet zunehmend Gehör. Auch weil sich alle anderen Parteien in der Reformdebatte nicht mit Ruhm bekleckert haben.

Macrons Partei Renaissance hat weder eine Mehrheit noch vorzeigbare Kandidaten. Die jungen Leute, die seinem integrativen Politikentwurf vor sieben Jahren enthusiastisch zugejubelt haben, sind längst wieder verschwunden. Die Konservativen, bei der letzten Wahl marginalisiert, haben sich jetzt endgültig blamiert.

Im Senat stimmten die Republicain geschlossen für die Rentenreform (die sie ja auch selbst mit ausgehandelt hatten), aber einen Tag später im Parlament konnte sich nur noch die Hälfte der Abgeordneten dazu durchringen, dem nämlichen Text zuzustimmen, um drei Tage später dann in großen Teilen gar das Misstrauen zu erklären. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Éric Ciotti hat offensichtlich weder eine Linie noch seine insgesamt 61 Abgeordneten im Griff. Man stelle sich vor: Über die Hälfte der 92 FDP-Mandatsträger würde nicht mit dem Fraktionschef stimmen. Christian Dürr wäre seinen Job los.

In babylonischer Gefangenschaft

Die Linke wiederum fühlt sich gerade sehr stark. Sie irrt. In babylonischer Gefangenschaft zum Harakiri-Kurs des Jean-Luc Mélenchon kann sie zwar Aufmerksamkeit erregen, aber nicht Politik gestalten. Beispielhaft deutlich wurde das am vergangenen Donnerstag, anlässlich der Einbringung des Verfahrens nach Artikel 49.3: Als Borne die Assemblée betrat, war augenblicklich klar, dass alle auf genau dieses Szenario vorbereitet waren. Die Abgeordneten von La France Insoumis schwenkten (gegen die Geschäftsordnung) Plakate mit der Losung „Nein zu 64 Jahre“, pfiffen und buhten. Andere verließen bereits bei ihren ersten Worten und noch bevor überhaupt klar war, was sie sagen würde, den Plenarsaal. 

Schließlich unterzogen sie Borne der Peinlichkeit, gegen die Nationalhymne ansprechen zu müssen. Perfekt orchestriert, aber letztlich ohne entscheidende Wirkung. Und wenn es um die Einbringung von Inhalten geht, dann ist die Linke von Mélenchons Gnaden ebenso hohl wie Ciottis Konservative. Mit einer Erhöhung der Luxussteuer für Superreiche wird man die Rente für alle eben nicht zukunftsfest ausgestalten können.

Klar ist: Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken. Und also ist Emmanuel Macron verantwortlich und in der Pflicht. Er muss trag- und mehrheitsfähige Politikangebote vorschlagen. Daran werden ihn die Großdemonstrationen am Donnerstag machtvoll erinnern.

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