Putins Plan Teil 3 - Moskau spielt seine Karten aus

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Frontangriff Putins gegen die EU. Lesen Sie im dritten Teil unserer Serie „Putins Plan“, wie Russland die Ohnmacht Deutschlands ausnutzt und wie wir uns aus der Falle des Kreml befreien können.

Putins Vorbereitungen der letzten Jahrzehnte ermöglichen ihm eine freie Hand in der Außenpolitik. Mit fatalen Folgen / Alexander Glandien
Anzeige

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

So erreichen Sie Antonia Colibasanu:

Anzeige

Bei Angela Merkel ging Putins Taktik, persönliche Beziehungen zu nutzen, um Russlands Position in Europa zu stärken, nicht mehr auf. Als Merkel ihr Amt antrat, ging es ihr um die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands und darum, Europa zusammenzuhalten, damit Deutschland stabil bleibt. Sie schien wenig Zeit oder Interesse zu haben, Russlands Pläne für Europa zu verstehen. Aber Russland hatte Zeit, um umgekehrt die Pläne der Kanzlerin zu verstehen.

Nur wenige Monate nach Merkels Amtsantritt, im Januar 2006, führte ein Streit zwischen Russland und der Ukraine über die Gaspreise zu einer kurzzeitigen Aussetzung der russischen Lieferungen nach Europa, auch nach Deutschland. Mit der Einstellung der Energielieferungen wollte Russland die Europäer dazu zwingen, die russische Politik in der Ukraine zu unterstützen und die Orangene Revolution in der Ukraine abzulehnen. Stattdessen weckte der Vorfall auf dem gesamten Kontinent das Interesse an einer Diversifizierung der Energieversorgung und an einer Verringerung der Gesamtnachfrage. Die Europäische Union verabschiedete ehrgeizige Programme für alternative Energien und Energieeinsparungen, die auch Europas Pläne zur Eindämmung von Treibhausgasen vorantrieben.

Russische „Hilfe“

Die Europäer schienen entschlossen, sich alternative Energiequellen zu erschließen und die Abhängigkeit von russischem Gas und den russischen Pipelines durch die Ukraine zu verringern. So wurde in Brüssel plötzlich ein Pipelineprojekt namens Nabucco, das Anfang der 2000er Jahre vorgeschlagen wurde und Gas aus Aserbaidschan bringen sollte, intensiv diskutiert. Es sollte durch die Türkei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn in das österreichische Zentrum Mitteleuropas geleitet werden.

%paywall%

In Anbetracht der europäischen – und deutschen – Bedenken bot Russland ebenfalls „Hilfe“ an: Moskau schlug zwei Erdgasleitungen vor, um von der ukrainischen Route abzulenken: Nord Stream, die durch die Ostsee von Sankt Petersburg nach Deutschland führt, und South Stream, die durch das Schwarze Meer aus der Nähe von Noworossijsk nach Bulgarien führen sollte.

Zum Zeitpunkt ihres Vorschlags im Jahr 2007 war keines der beiden Projekte wirtschaftlich sinnvoll. Der Bau von langen Unterwasserpipelines nach Europa – einer Region, mit der die ehemalige Sowjetunion eine Landverbindung hat – erschien widersinnig, wenn man bedenkt, dass Festlandleitungen in der Regel weniger als ein Drittel der Kosten ihrer Unterwasseräquivalente verursachen. Ganz zu schweigen davon, dass Russland eigentlich keinen Grund hatte, sich mit neuen Projekten zu beeilen: Moskau hatte seine Erdgasexportpreise seit dem Jahr 2000 verdreifacht, was bedeutete, dass es jede Menge Profit machte.

Der Siegeszug des unwirtschaftlichen Nord Stream

Aber die Russen planten diese Projekte nicht mit Blick auf die Rentabilität. Und auch nicht mit wirtschaftlichem Verstand. Ihre Bedingungen waren aus kommerzieller Sicht aberwitzig: Russland fehlte die technologische Fähigkeit, die Leitungen zu bauen, doch Moskau hatte darauf bestanden, dass die Europäer die Rechnungen zahlen, während Russland das Projekt nach seiner Fertigstellung besitzen würde. Das Ziel der Russen bestand damals darin, Europa – und insbesondere Deutschland – dazu zu bringen, mit ihnen zu diskutieren. Und obwohl es wenig Sinn machte, über eines der beiden Projekte zu verhandeln, begannen die Diskussionen. South Stream wurde angesichts der Kosten für die äußerst tiefe unterseeische Pipeline schnell wieder verworfen. Für Russland war dies kein Verlust, da die Diskussion auch die Machbarkeit von Nabucco zunichtemachte.

Stattdessen war Nord Stream auf dem Vormarsch – als die Gespräche zwischen Moskau und Berlin begannen, wurde das Projekt zu einem Geschäftsvorgang. Russland hielt sich in Sachen Handelsrecht an die Regeln. Deutschland unterstützte das Projekt aus eigenem wirtschaftlichen Interesse und trotz des Widerstands osteuropäischer Staaten wie Polen oder Rumänien. In Anbetracht der Tatsache, dass das Projekt vom ehemaligen Bundeskanzler Schröder geleitet wurde, verliefen die Dinge auf deutscher Seite reibungslos. Im August 2008 engagierte die Nord Stream AG den ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten Paavo Lipponen als Berater, um das Antragsverfahren für die Baugenehmigung in Finnland zu beschleunigen. Im Jahr 2011 war das Projekt fertig. Gerade noch rechtzeitig, denn im Mai 2011 verkündete die deutsche Bundesregierung die vollständige Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke bis 2022

Diese Entscheidung schuf die Voraussetzungen für die von Moskau erträumte deutsch-russische Partnerschaft. Im Jahr 2011 deckte Deutschland rund ein Drittel seines Strombedarfs aus der Kernenergie – die Abschaltung des gesamten Atomsektors eröffnete ein vielseitiges Machtspiel um die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Der deutsche Plan sah vor, die gesamte Atomindustrie durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Dies war jedoch wirtschaftlich nicht machbar. Atomstrom kostet weniger als ein Drittel im Vergleich zu Windkraft und weniger als ein Zwanzigstel im Vergleich zu Solarstrom. Ein Drittel der gesamten deutschen Stromerzeugung innerhalb eines Jahrzehnts durch erneuerbare Energien zu ersetzen, war also mit zu hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden und eindeutig unmöglich.

Russland die letzte Alternative

Damit standen Deutschland drei weitere Optionen offen. Die erste ist Frankreich, wo die Bevölkerung für die Kernenergie ist und das Deutschland mit Atomstrom versorgt, seit es begonnen hat, seine eigenen Reaktoren vom Netz zu nehmen. Aber französischer Atomstrom ist teuer. Die zweite Option ist Polen. Der polnische Vorteil war seinerzeit die Kohle – ein Brennstoff, der seit den 1990er Jahren in ganz Europa schrittweise aus dem Verkehr genommen wird. Aber Deutschland hat Polens alte, politisch unkorrekte Entscheidung für diese Brennstoffquelle scharf kritisiert – neben anderen Dingen, für die Deutschland Polen kritisiert hat. Der Kauf von polnischer Kohleenergie war für die Deutschen ethisch fragwürdig. 

Der dritte Akteur in diesem Spiel ist Russland, dessen Plan ziemlich einfach war. Mit der 2012 in Betrieb genommenen Nord-Stream-1-Pipeline, die alle Transitstaaten zwischen den Russen und den Deutschen umgeht, würden es die Hälfte des Stromes ersetzen, den Deutschland bis 2011 aus der Kernenergie bezogen hat – und das viel billiger. Russland gab der Bundesrepublik und der deutschen Industrie ein Gefühl der Sicherheit; es wurde für Deutschland weniger riskant, im Falle eines russischen Konflikts mit der Ukraine, Weißrussland oder Polen von der Versorgung abgeschnitten zu werden. Da die Abhängigkeit der deutschen Industrie von russischem Gas zunahm, war der Vorschlag für Nord Stream 2 logisch und wurde von Berlin positiv aufgenommen, das darin eine Chance sah, den gesamten Gasbedarf direkt von Russland nach Deutschland zu leiten. Aus Moskaus Sicht würde Nord Stream 2 den Russen lediglich ein Druckmittel gegenüber der Ukraine verschaffen – und gegenüber Weißrussland und Polen, die seit dem ersten Tag gegen das Projekt protestiert haben.

Freie Hand für Moskau

Russland wollte sich eine deutsch-russische Partnerschaft sichern, um Polen und eigentlich ganz Europa zu neutralisieren. Es ist kein Zufall, dass es seit 2012 immer schwieriger wurde, eine antirussische Politik im europäischen Einflussbereich durchzusetzen – Deutschland, das de facto die EU anführt, hatte einfach kein Interesse daran, diese zu betreiben. Es ist auch kein Zufall, dass sich die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland seither abgekühlt haben. Die Vereinigten Staaten waren auf die Neutralität Deutschlands in ihren Beziehungen zu Russland angewiesen, da sie sonst dem russischen Einfluss in Europa nicht begegnen konnten.

Die enge deutsch-russische Partnerschaft ermöglichte es Moskau, in allen europäischen Angelegenheiten freie Hand zu haben – nicht nur in der Energiepolitik. Ein praktisches Beispiel ist die EU-Strategie für den Donauraum, mit der 2010 ein Ausbau der Schifffahrtsroute zwischen dem Schwarzen Meer und Europa betrieben werden sollte – und die einen frühen Tod starb. Die ursprünglichen Vorschläge liefen darauf hinaus, die Donau vollständig schiffbar zu machen und zusätzliche Festlandskanäle wie den Donau-Bukarest-­Kanal zu schaffen. All dies stand jedoch im Widerspruch zur russischen Strategie am Schwarzen Meer. Der Krieg in der Ukraine ist der beste Beweis dafür, warum ein solches EU-Projekt in den Augen Moskaus niemals verwirklicht werden durfte. Wäre die Donau nämlich vollständig schiffbar gewesen, hätte dies Europa ein größeres Druckmittel gegenüber Russland verschafft, zumal der Krieg in der Ukraine die Handelsströme vom Schwarzen Meer auf dem Landweg blockiert oder umgeleitet hat (und sie dadurch viel teurer geworden sind).

Was auf dem Spiel steht

Aus diesem Grund ist die bestehende Energieabhängigkeit zwischen Deutschland und Russland nur ein Teil des größeren Problems, mit dem der Westen angesichts des derzeitigen Wirtschaftskriegs konfrontiert ist. Die Energieabhängigkeit macht es für den Westen schwierig, Russland kurzfristig erhebliche Sanktionen aufzuerlegen. Ohne das russische Gas wird die deutsche Wirtschaft zusammenbrechen – und mit ihr die europäische Stabilität. Deshalb ist Russland immer noch in der Lage, mit seinen Energieexporten Kasse zu machen und seine Wirtschaft anzukurbeln. Zu gegebener Zeit werden Lösungen gegen diese Abhängigkeit gefunden werden – auch wenn kostspielige neue Infrastrukturen gebaut werden müssen, um neue Energiequellen wie Flüssiggas aufzunehmen.

Das komplexe Netzwerk, das Russland in Deutschland (und Europa im Allgemeinen) aufgebaut hat und das sowohl die Politik als auch die Wirtschaft umfasst, wird jedoch zum Schlüssel des aktuellen Konflikts. Russland verfügt über gute Kontakte und gute Kenntnisse über das westliche Wirtschaftsleben. Der Kreml hat Jahre investiert, um unsere Schwachstellen zu kennen. Russland begann den derzeitigen Wirtschaftskrieg mit der Unterbrechung der Lieferungen aus den ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer in voller Kenntnis der europäischen Schwachstellen, unserer Verwundbarkeiten. Wenn wir den russischen Krieg in der Ukraine wirklich stoppen und Russlands Aktionen in wirtschaftlicher Hinsicht entgegenwirken wollen, sollten wir damit beginnen, all die Projekte, die im vergangenen Jahrzehnt eingestellt wurden, neu zu überdenken.

Wir müssen dringend eine übergeordnete Perspektive einnehmen, unsere strategischen Fehler einsehen und erkennen, was auf dem Spiel steht: unser wirtschaftliches Leben, unser Wohlergehen.

Dieser Text ist der dritte Teil der Titel-Geschichte der Mai-Ausgabe des Cicero. Den ersten Teil des Beitrags können Sie hier nachlesen: https://www.cicero.de/aussenpolitik/putins-plan-teil-1-wirtschaftskrieg-ukraine-europa-russland Zum zweiten Teil geht es hier: https://www.cicero.de/aussenpolitik/putins-plan-teil-2-deutschland-im-fadenkreuz

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige