Putins Plan Teil 2 - Deutschland im Fadenkreuz

Der Krieg in der Ukraine folgt auf Jahrzehnte, in denen Russland die Staaten Europas systematisch von sich abhängig gemacht hat. Lesen Sie im zweiten Teil unserer Serie „Putins Plan“, warum Deutschland das wichtigste Puzzleteil in Putins Plan gegen den Westen ist.

In Putins Plan gegen den Westen ist Deutschland das wichtigste Ziel / Alexander Glandien
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Die frühen 1990er Jahre waren im Westen voller Hoffnung: Die wirtschaftlichen Verflechtungen sollten automatisch Frieden und Wohlstand bringen. Dies war das Motto und die Begründung für die EU-Erweiterung. Ehemalige UdSSR-Satelliten wurden Teil der europäischen Gemeinschaft. Trotz der sozioökonomischen Probleme, mit denen Ostdeutschland konfrontiert war, konnte sich das wiedervereinigte Deutschland de facto zum Wirtschaftsführer der Europäischen Union entwickeln.

Deutschland wurde zum Vorbild sowohl für die west- als auch für die osteuropäischen Länder. Die starken grundlegenden Wettbewerbsvorteile, die Westdeutschland während des Kalten Krieges entwickelt hatte, sowie seine geografischen Merkmale und seine Lage machten Deutschland zum Handelszentrum Europas. Es konnte sowohl vom wachsenden gemeinsamen Markt als auch von den billigen Arbeitskosten in den neuen EU-Mitgliedstaaten und in der EU-Nachbarschaft profitieren.

Im Osten alles anders

Im Osten waren die 1990er Jahre ganz anders. Sie waren geprägt von Schmerz und sozio­ökonomischer Krise. Der Zusammenbruch der UdSSR bedeutete, dass die russische Führung eine Reihe schwieriger Entscheidungen darüber treffen musste, was zu bewahren und was aufzugeben war. Die Nahrungsmittelproduktion? Die Eisenbahnlinien? Die Raketentruppen? Die Luftstreitkräfte? Das Bildungssystem? Der Energie- und Gesundheitssektor? Obwohl viele dieser Bereiche von strategischem Wert waren, fehlten schlicht die Mittel, um sie alle zu finanzieren. Die Infragestellung führte zu Hyperinflation und Arbeitslosigkeit, zu einem insgesamt instabilen Umfeld, in dem die Mittel für alles gekürzt worden zu sein schienen.

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Das war es, was Putin erlebt hatte. Dies war der Kontext, in dem Putin an die Macht kam – unterstützt von der Wirtschafts- und Geheimdienst­elite des Landes. Die Priorität des Kreml bestand darin, ein stabiles Land wieder aufzubauen; Putins Priorität war es, politisch zu überleben, was letztlich ein Spiegelbild einer stabilen Wirtschaft und Gesellschaft ist. Bei der Konsolidierung seiner Macht verstand Putin das Bedürfnis der Menschen nach Ordnung und Stabilität und wusste, dass die Ressourcen Russlands begrenzt sind. Der Kreml musste die Nachrichtendienste, mit denen Russland in der Welt agierte, weiter finanzieren. Putin musste sie sich unterwerfen, um an der Macht zu bleiben.

 

 

Im Wettlauf mit der Demografie

Putin wusste auch, dass Russlands wichtigstes Problem die schlechte demografische Situation war. Die sozioökonomische Misswirtschaft unter früheren Präsidenten führte zu einem Rückgang der russischen Geburtenrate. Ganz zu schweigen von den Überlegungen junger Russen, ihre Heimat in Richtung Westen zu verlassen. Die russische Ethnie war in Gefahr. Der Wiederaufbau Russlands war ein Wettlauf mit der Zeit – und für den neuen Führer im Kreml von größter Dringlichkeit. Es galt also, Prioritäten zu setzen: Jede andere Determinante der russischen Macht – vom Militär bis zur Wirtschaft – lief auf Sparflamme. 

Aus diesem Grund waren Wachstum und Wiederaufschwung in Russland von Beginn an für Putins Präsidentschaft ein Muss. Vor allem aber ist dies der Grund, warum die Mentalität des Kalten Krieges in Russland nie endete. Im Zuge des Wiederaufbaus seines Landes musste Putin den Westen bekämpfen – und Deutschland zu erobern, das war der Schlüssel zu allem.
Russland hat den aktuellen Krieg lange im Voraus geplant. Weil Putin so gut verstand, warum der Westen den Kalten Krieg gewann und die UdSSR ihn verlor, wusste er, dass er ähnlich wie der Westen handeln musste, wenn er eine Chance haben wollte, das zurückzugewinnen, was die UdSSR seit den 1990er Jahren verloren hatte.

Zweckbündnisse mit dem Westen

Während seiner ersten Amtszeit als Präsident konzentrierte sich Putin auf die inneren Angelegenheiten, indem er die Macht in den russischen Regionen rezentralisierte. Er zentralisierte die Wirtschaft und das politische System und ging hart gegen die Militanz im russischen Kaukasus vor. Putin führte ein autokratisches Regime ein und folgte damit dem Beispiel früherer erfolgreicher russischer Führer. Sobald Russland stabil war, konnte Putin sich auf das nahe Ausland konzentrieren.

Um zu verhindern, dass Länder, die näher an den russischen Grenzen liegen, Partnerschaften mit dem Westen eingehen und unter westlichen Einfluss geraten, hat die russische Führung in der Vergangenheit vor allem zwei Taktiken angewandt. Die erste Taktik besteht darin, das russische Militär zu mobilisieren, um ausländische Einflüsse direkt oder indirekt zurückzudrängen, indem Militärbündnisse (mit ehemaligen Sowjetstaaten wie Kasachstan und Weißrussland) geschlossen werden. Die zweite Taktik ist raffinierter. Sie zielt auf die Schaffung von Zweckbündnissen in Europa ab, die Russland letztendlich helfen würden, die gesamteuropäische Einheit zu spalten. Durch solche Bündnisse würde Russland auch wirtschaftliche, finanzielle und technologische Vorteile erlangen und gleichzeitig versuchen, die Einflussmöglichkeiten des Westens an seiner Peripherie zu verringern.

Diese zweite Taktik steht im Einklang mit dem Mantra des Kreml aus dem Kalten Krieg: Wenn die westeuropäische Fähigkeit, Einfluss nach Osten zu projizieren, neutralisiert werden kann, dann kann der amerikanische Einfluss aus Europa eliminiert werden. Aus diesem Grund haben sich amerikanische Präsidenten seit Ronald Reagan (ausdrücklich oder unausgesprochen) gegen jede Ausweitung der Handels- und Energieverbindungen zwischen Europa und Russland ausgesprochen. Doch als der Kalte Krieg endete und die Amerikaner kein Mitspracherecht in der europäischen Politik mehr hatten, sah Russland die Gelegenheit gekommen, seine Taktik umzusetzen. Gleichzeitig hatte Russland aus den Erfahrungen des Kalten Krieges gelernt, dass wirksame Bündnisse die Form eines Netzwerks annehmen müssen, das sowohl auf politischen als auch auf wirtschaftlichen Abhängigkeiten beruht. Daher hat Russland einige der Methoden und Taktiken übernommen, die die USA angewandt hatten und die ihnen zum Sieg im Kalten Krieg verhalfen.

Hauptziel Deutschland

Um seinen Einfluss in ganz Europa zu vergrößern, war die Bundesrepublik für den Kreml das wichtigste Land, an das er herantreten konnte – so, wie es Westdeutschland für die USA während des Kalten Krieges gewesen war. Nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren hat sich der Fokus Deutschlands auf die Europäische Union verlagert. Die EU ist für Berlin von strategischer Bedeutung, da sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Fundament der deutschen Beziehungen zu Frankreich bildet. Während Deutschland zum zweitgrößten Exporteur der Welt aufgestiegen ist und in viele Länder exportiert, hat sich Europa zu seinem wichtigsten Kunden entwickelt. Die Freihandelszone, die das Fundament der Europäischen Union bildet, ist auch das Fundament der deutschen Wirtschaft: Die deutschen Industrieanlagen haben deutlich mehr produziert, als es dem inländischen Verbrauch entsprochen hätte. Deutschland brauchte deshalb ein geeintes Europa als Absatzmarkt – und deshalb war die Bundesrepublik das Land, das der Kreml unbedingt auf seine Seite ziehen wollte.

Deutschland war auch ein Land, das die Russen gut kannten. Ostdeutschland stand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Kontrolle der UdSSR. Russland kannte die sozioökonomischen Probleme, mit denen Berlin in den östlichen Bundesländern konfrontiert war: Viele waren selbst verschuldet, und viele ähnelten den Problemen, mit denen Russland auf eigenem Boden zu tun hatte. Zugleich verstand Moskau die deutsche Politik außerordentlich gut. Aufgrund der Art und Weise, wie die UdSSR während des Kalten Krieges verdeckt gearbeitet hatte, konnte Moskau immer noch auf seine alten Verbindungen in Berlin und im ganzen Land zurückgreifen. Der Kreml wusste: Wenn es ein Land in der westlichen Welt gab, in dem er erfolgreich politische Kriegsführung betreiben konnte (und sollte), dann war das wahrscheinlich die Bundesrepublik.

Reizendes Russland

Außerdem hat Putin eine persönliche Verbindung zu Deutschland: Er war während seiner KGB-Zeit in Dresden stationiert; in den frühen 2000er Jahren engagierte er sich dann persönlich für die Pflege der bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Er nutzte seine Deutschkenntnisse, um eine enge Freundschaft mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder aufzubauen, der damals eine wirtschaftliche Chance für den Ausbau der Beziehungen zu Russland sah. Schließlich war Russland nicht nur ein Energieproduzent, sondern vor allem auch ein potenzieller Markt für deutsche Technologie und ein Standort für umfangreiche deutsche Investitionen. Während Schröders Kanzlerschaft boomte der Handel zwischen den beiden Ländern, und Russland bot Deutschland als Energiepartner besondere Vorteile.

Vor allen anderen Sektoren war Energie der Schlüsselbereich – und Erdgas am wichtigsten, wenn es um die russische Strategie ging, den Einfluss in Europa auszuweiten. Es ist einzigartig unter den verschiedenen Industrierohstoffen. Aufgrund seines gasförmigen Charakters und wegen der immensen Mengen, die für den Betrieb großer Industrien benötigt werden, kann es nur über Pipelines effizient transportiert werden. Wenn die Pipelines erst einmal gebaut sind und die Industrieanlagen mit Erdgas versorgt werden, wird es extrem schwierig und teuer, Erdgas gegen andere Energieträger auszutauschen.

Russland braucht mehr

Die aus der Zeit des Kalten Krieges stammende Infrastruktur lieferte Europa etwa ein Viertel des benötigten Erdgases und Erdöls. Diese Abhängigkeit stellte bereits sicher, dass Moskau in den europäischen Hauptstädten Gehör finden würde – doch mit der Entwicklung Europas (in den frühen 2000er Jahren stand die EU-Erweiterung erst am Anfang) brauchte Russland mehr. Die Ausweitung der europäischen Abhängigkeit von russischem Gas war das Einfallstor: Europa würde sich Russland unterordnen müssen, da Russland unverzichtbar für die wirtschaftliche Stabilität Europas sein würde.

Um dies zu erreichen, brauchte der Kreml Deutschland an seiner Seite: Es war die größte Volkswirtschaft, der wichtigste Energieabnehmer Russlands und ein Land, das ein wichtiges (wenn nicht sogar das wichtigste) Mitspracherecht bei der Gestaltung des EU-Rechtsrahmens und der Wirtschaftspolitik hatte. Ganz zu schweigen davon, dass die Bundesrepublik eine bedeutsame Rolle mit Blick auf wichtige EU-Infrastrukturprojekte spielte und dafür sorgte, dass genügend Mittel für diese Projekte zur Verfügung standen.

Schröder auf Putin-Linie

Deutschland begann – ganz nach Putins Plan –, Russlands Position in Europa in politisch-strategischen Fragen zu unterstützen. Gerhard Schröder führte die einzige westliche Regierung an, die die Orangene Revolution in der Ukraine 2004/2005 nicht unterstützte. Der deutsche Kanzler führte auch den europäischen Widerstand gegen die Bemühungen der USA an, den Nato-Beitrittsprozess für die Ukraine und Georgien einzuleiten. Dieses Verhalten ergab sich letztlich aus dem wachsenden wirtschaftlichen und energiepolitischen Bedürfnis Deutschlands, die Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten. 

Als seine Freundschaft mit Putin wuchs, erwarb Schröder sogar ein Anwesen außerhalb Moskaus und bat Putin um Hilfe bei der Adoption zweier russischer Kinder. Auch wenn Schröder 2005 nicht mehr zum Bundeskanzler gewählt wurde, blieb seine Freundschaft zu Putin – und seine Nützlichkeit für ihn – ungebrochen. Der ehemalige Bundeskanzler nahm einen Posten beim staatlichen russischen Erdgasunternehmen Gazprom an, um das Nord-Stream-Projekt zu leiten – eine Pipeline, die den deutsch-russischen Beziehungen dienen und Russlands Einfluss auf die Energieversorgung der Ukraine, Weißrusslands und Polens erhöhen sollte.

Dieser Text ist der zweite Teil der Titel-Geschichte der Mai-Ausgabe des Cicero. Den ersten Teil des Beitrags können Sie hier nachlesen: https://www.cicero.de/aussenpolitik/putins-plan-teil-1-wirtschaftskrieg-ukraine-europa-russland Zum dritten Teil geht es hier: https://www.cicero.de/aussenpolitik/putins-plan-teil-3-moskau-spielt-seine-karten-aus

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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