Putin-Interview - Die Legenden des Kreml-Chefs

Im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson behauptet Wladimier Putin, er sei zu Verhandlungen über das Ende des Krieges in der Ukraine bereit. Diese wie auch seine anderen Aussagen sollte man vor dem Hintergrund von Putins bisherigen Lügen betrachten.

Tucker Carlson interviewt Wladimir Putin, 06.02.2024 / picture alliance
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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„In wenigen Wochen könnte der Krieg in der Ukraine beendet sein“, erklärte Wladimir Putin im Interview mit Tucker Carlson. Immerhin ging er mit dieser Behauptung nicht so weit wie Donald Trump, der großspurig angekündigt hatte, im Falle seines Wahlsieges die Einstellung der Kämpfe „innerhalb weniger Stunden“ zu bewirken.

Beide erwähnten allerdings nicht, dass ein derartiges Kriegsende die Kapitulation der Ukraine bedeuten würde, die überdies dann das russisch besetzte Territorum aufgeben müsste. Putin würde auf diese Weise für den vor zehn Jahren begonnenen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg belohnt werden, dessen erste Phase die Kremlpropaganda mit einigem Erfolg im Westen als Aufstand russischsprachiger Separatisten im Donbass verkauft hatte. Tucker Carlson, bekannt als Manipulator und höchst umstrittener Anhänger Donald Trumps, nickte dazu; die Botschaft vom Friedenswillen des Kremls richtet sich an die amerikanischen Wähler.

In Moskau verfolgt man sehr genau die kritischen Stimmen, die von US-Präsident Joe Biden die Einstellung der finanziellen und militärischen Unterstützung Kiews verlangen; russische Internettrolle versuchen auf vielerlei Weise, die angeblich korrupte und faschistische Führung um Präsident Wolodymyr Selenskyj in Misskredit zu bringen. So wiederholte auch Putin in dem Interview, das Carlson über das Medienportal X verbreitete, die Version von den Nazis, die in Kiew regieren würden. Doch bekanntlich stammt der im Gegensatz zu Putin durch freie Wahlen legitimierte Selenskyj aus einer jüdischen Familie, die den Tod mehrerer ihrer Mitglieder im Holocaust zu beklagen hatte. Das Schlagwort vom „faschistischen Kiewer Regime“ ist also eine groteske Verdrehung der Tatsachen. Der Verband der jüdischen Gemeinden der Ukraine unterstützt Selenskyj und wirft Putin vor, wider besseres Wissen die Unwahrheit zu verbreiten.

Vor allem an das europäische Publikum sind die Beteuerungen des Kremlchefs gerichtet, den Krieg, den er nach wie vor als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet, nicht auszuweiten. Die Nachbarn Russlands könnten beruhigt sein: „Wir haben kein Interesse an Polen, Lettland oder einem anderen Land.“ Doch fügte er hinzu: „Es sei denn, Polen greift uns an.“ Warschauer Kommentatoren erinnerten sogleich an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Auch Hitler hatte behauptet, das Deutsche Reich sei von Polen angegriffen worden, sein schnarrendes „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“ ging in die Geschichtsbücher ein. Ohnehin gilt Putin als notorischer Lügner: 2009 sicherte der Kreml zu, die russischen Truppen aus Transnistrien, dem völkerrechtlich zu Moldawien gehörenden Gebietsstreifen auf dem Ostufer des Dnjestr, abzuziehen – sie stehen bis heute da und bedrohen auch die nur 100 Kilometer entfernte ukrainische Schwarzmeermetropole Odessa. Vor zehn Jahren scheiterte der Versuch russischer Kommandos, die Hafenstadt unmittelbar nach der Annexion der Krim unter Kontrolle zu bringen.

 

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Wenige Tage zuvor hatte Putin noch erklärt: „Niemand hat die Absicht, die Krim zu annektieren.“ Man fühlte sich an einen weiteren Deutschen erinnert, an Walter Ulbricht mit dem berühmten Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Nicht anders war es, als die russischen Streitkräfte Ende 2021 riesige Kontingente an der Grenze der Ukraine zusammenzogen. In Sorge vor einer Ausweitung des russisch-ukrainischen Kriegs, in dem sich bislang die Kämpfe auf den Donbass beschränkt hatten, flogen – anstatt gemeinsam unklugerweise nacheinander – der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz nach Moskau, um Putin von seinen offenkundigen Plänen abzubringen. Die Bilder von den Begegnungen am überlangen Tisch im Kreml gingen um die Welt. Doch Putin log beiden ungeniert ins Gesicht: Er versprach, die Truppen abzuziehen. Diese Erfahrungen mit einem notorischen Lügner bedeuten, dass kein westlicher Regierungschef auf seine Zusagen bauen kann.  

Nicht neu sind Putins weitschweifende Exkurse in die Geschichte. Einmal fragte der überforderte Carlson: „Können Sie uns sagen, in welcher Zeit? Ich verliere den Überblick, wo wir uns gerade in der Geschichte befinden.“ Der Hobbyhistoriker Putin legte dem verdutzten Carlson seine Geschichte vom Kosakenhetman Bohdan Chmelnyzkyj nahe: Dieser habe im 17. Jahrhundert den Anschluss des Kernlands der heutigen Ukraine an das Zarenreich betrieben.

Putin bestreitet das Existenzrecht der unabhängigen Ukraine

In Kiew ist man gegenteiliger Meinung: Chmelnyzkyj habe ein zeitlich begrenztes Bündnis mit dem Zaren geschlossen, um sich der nach Osten vordringenden Polen zu erwehren, Moskau habe dann einfach seine Truppen auf dem Territorium der Verbündeten stehen lassen, die Führer der Kosaken entmachtet und deren demokratische Traditionen abgeschafft. Im Westen nahezu unbekannt, ist es ein zentrales Thema im russisch-ukrainischen Historikerstreit, der den Krieg begleitet – Chmelnyzkyj gilt in Kiew als tragischer, betrogener Held, der den Fehler begangen hat, sich mit den Russen einzulassen.

Erneut wiederholte Putin die Version, dass es keine historischen Gründe gebe, die Ukraine als Staat anzuerkennen; sie sei ein „künstliches Gebilde“, erfunden von seinem Namensvetter, dem Oberbolschewiken Lenin. Allerdings hatte sich in Kiew vor der Besetzung der Stadt durch die Rote Armee im Russischen Bürgerkrieg eine ukrainische Regierung gebildet, die die staatliche Unabhängigkeit ausgerufen hatte; es waren wackere Sozialdemokraten. Lenin ließ sie deportieren, einige wurden im „roten Terror“ der Bolschewiken ermordet. Vor allem hat die russische Regierung seit dem Zerfall der Sowjetuninon 1991 viele Male die staatliche Existenz der Ukraine vertraglich zugesichert – weswegen die Kremlpropagandisten die Legende von den Separatisten im Donbass erfinden mussten, bei denen es sich in Wirklichkeit um Soldaten der russischen Streitkräfte und Kommandos der Geheimdienste Moskaus handelte.

Die alte Lüge vom Versprechen der Nato

Nicht fehlen durfte die Klage, der Westen habe Russland zugesagt, die Nato nicht nach Osten auszudehnen, sei dann aber wortbrüchig geworden. Dabei hatte kein geringerer als Michail Gorbatschow diese auch bei der deutschen Linken wie extremen Rechten populäre Version mehrmals in deutlichen Worten widerlegt. Bedrohlich für die Nachbarstaaten klingt es, wenn Putin erneut von „berechtigten Interessen Russlands“ spricht. Denn diese liegen nach seiner Lesart jenseits der russischen Grenzen. Es sind imperialistische Ansprüche, die in allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken entschieden zurückgewiesen werden, nicht nur im Baltikum, sondern auch im Kaukasus und in Mittelasien.

So lässt sich das von Carlson pompös angekündigte zweistündige Interview in einem Satz zusammenfassen: Im Osten nichts Neues! Putin lässt keinerlei Friedenswillen erkennen, vielmehr setzt er darauf, die westlichen Gesellschaften und Regierungen spalten zu können. Für die Ukraine sowie die ehemaligen Ostblockstaaten, die heute der Nato angehören, ist dies nicht überraschend. Auch die Regierenden in Berlin dürften sich in ihrer Skepsis bestätigt sehen. Nur Sahra Wagenknecht, die sich wiederholt mit krassen Fehleinschätzungen der Politik Putins blamiert hat, wird wohl weiter dem Westen vorwerfen, die Chancen auf Frieden in der Ukraine mutwillig zu ignorieren – und sich damit in eine Reihe mit manchen AfD-Politikern sowie dem Trump-Unterstützer Tucker Carlson stellen.

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