Proteste gegen Rentenreform in Frankreich - Sand im Getriebe

Trotz der im internationalen Vergleich eigentlich maßvollen Rentenreform-Vorschläge gehen Millionen Franzosen auf die Straße, um gegen die Pläne von Emmanuel Macron zu protestieren. Dabei ist der objektive Druck auf Frankreichs Sozialsysteme groß.

Demonstration gegen Macrons Rentenreform-Pläne / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Der Französischen Republik stehen aufregende Wochen, vielleicht auch Monate bevor. Wieder einmal versucht sich die politische Obrigkeit an einer Rentenreform. Emmanuel Macron hatte sie noch vor seiner Wiederwahl als Präsident angekündigt – und setzte sich dennoch durch. Der Kern des Vorhabens ist eine Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre für ungefähr zwei Drittel der Franzosen. In Deutschland gelten ab dem Geburtsjahr 1964 schon heute 67 Jahre.

Trotz der im internationalen Vergleich eigentlich maßvollen Reformvorschläge gehen nun Millionen Franzosen auf die Straße, um gegen Macron und dessen Pläne zu protestieren – angeführt von den Gewerkschaften und dem linken Parteienbündnis „Nouvelle union populaire écologique et sociale“ (NUPES). Macrons Partei „Renaissance“ (RE) verfügt über keine eigene Mehrheit im Parlament und ist daher auf das Wohlwollen der konservativen „Les Républicains“ (LR) angewiesen.

Rund 20.000 Änderungsanträge liegen vor

Der französische Publizist und Philosoph Michel Onfray, gewissermaßen ein Richard David Precht von rechts, hält Macrons Pläne ohnehin für illegitim. Erstens sei die Mehrzahl der Franzosen gar nicht zur Präsidentschaftswahl gegangen. Dadurch hätten mehr Franzosen Macron nicht gewählt als gewählt. Zweitens hätten die meisten seiner Wähler gar nicht für ihn, sondern gegen Marine Le Pen vom „Rassemblement National“ (RN) gestimmt. Und drittens würden die Großdemonstrationen nun untermauern, dass der Souverän selbst gegen die Reform sei. 

Marcon bleibe, ist Onfray überzeugt, daher nur ein Ausweg: Er müsse die Entscheidung über die Rentenreform mittels Referendum in die Hände des Volkes legen, so wie es schon der große Charles de Gaulle im Jahre 1969 getan hatte und nach seiner Niederlage bei einer Volksabstimmung zurück trat. Sowohl NUPES als auch der „Rassemblement National“ haben inzwischen Anträge auf Durchführung einer Volksabstimmung ins Parlament eingebracht. Aber diese Initiativen fanden keine Mehrheit.

Der französischen Nationalversammlung liegen inzwischen rund 20.000 Änderungsanträge gegen das Vorhaben Macrons sowie seiner Premierministerin Élisabeth Borne vor. Sie alle im Parlament gründlich zu behandeln würde Monate, vielleicht Jahre dauern. Das Kalkül dahinter ist klar: Es soll so viel Sand ins Getriebe der Parlamentsmaschine gestreut werden, dass sich die Verfahren verzögern und am besten ganz ins Stocken geraten. Und die dadurch gewonnene Zeit wollen Opposition und Gewerkschaften vor allem nutzen, um die Straße immer weiter gegen Macron zu mobilisieren. 

Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit leidet

Dabei könnte ein Blick auf die Fakten hilfreich sein, um vor allem Frankreichs Gewerkschaften zur Vernunft zu bringen. Frankreich hat zwar grundsätzlich den Vorteil einer deutlich höheren Geburtenrate als in anderen europäischen Ländern, aber auch hier steigen durchschnittliche Lebenserwartung und damit die Kosten des Rentensystems langfristig an. Vor allem aber ist die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme nicht in erster Linie eine demografische, sondern eine wirtschaftliche Herausforderung.

Nach Angaben von Eurostat ist der Spitzenreiter bei Sozialausgaben schon heute keines der ansonsten hoch gepriesenen skandinavischen Länder, sondern mit 35,2 Prozent Frankreich. Der europäische Durchschnitt liegt bei 30,4 Prozent. Die hohen Sozialausgaben schlagen sich auch in der Staatsquote nieder: Während sich der Durchschnitt der europäischen Länder auf ungefähr 50 Prozent des BIP beläuft, nähert sich Frankreich bereits einem Wert von 60 Prozent an. 
 

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Das wäre dann nicht problematisch, wenn Frankreichs Wirtschaft ausreichend wettbewerbsfähig wäre. Aber wie kein anderes europäisches Land schöpft es wegen starker Gewerkschaften schon seit vielen Jahren bei den jährlichen Löhnerhöhungen die durch das Produktivitätswachstum gegebenen Spielräume aus. Alle anderen europäischen Länder hingegen bleiben bei den Lohnzuwächsen hinter den Produktivitätsfortschritten zurück. Die Folge: Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit leidet immer mehr. Im Jahr 2022 erzielte es mit 164 Mrd. Euro folgerichtig das höchste Handelsbilanzdefizit seit dem Zweiten Weltkrieg.

Objektiver Druck ist groß

Während Frankreichs Gewerkschaften also höhere Lohnsteigerungen durchsetzen als im Rest Europas üblich, verteuern sich französische Produkte relativ immer mehr – und immer mehr Franzosen kaufen mit ihren soliden Einkommen lieber ausländische Güter. Frankreichs Bemühungen nach einem finanzpolitischen Umbau der EU bis hin zur Vergemeinschaftung der Schulden erklären sich auch aus dieser makroökonomischen Schieflage. Während Deutschland noch vor 20 Jahren als der „kranke Mann Europas“ galt, geht die rote Laterne Schritt für Schritt an die französische Republik über. Nur Spaniens und Griechenlands Arbeitslosenquote ist noch deutlich höher.

Auch wenn die demografische Entwicklung Frankreichs daher weitaus günstiger verlaufen wird als im europäischen Ausland, ist der objektive Druck auf Frankreichs Sozialsysteme groß. „Machen wir die Reform nicht, hält unser Rentensystem, die Solidarität zwischen den Generationen als Kern unseres Sozialmodells, nicht stand“, beschreibt Premierministerin Borne das Problem. Und sie und ihr Präsident haben gegenüber Parlament und Öffentlichkeit ein starkes Instrument in der Hand.

Innerhalb von fünfzig Tagen

In Artikel 47.1 der französischen Verfassung nämlich ist geregelt, dass das Parlament bei Gesetzen zur Finanzierung der Sozialversicherung innerhalb von fünfzig Tagen eine Entscheidung treffen muss. Geschieht dies nicht, kann der Inhalt des Gesetzes „durch eine gesetzesvertretende Verordnung in Kraft gesetzt werden“. Präsident und Premierministerin können notfalls also auch gegen den Willen von Parlament und Öffentlichkeit handeln. 

Dass Macron in einer zweiten Amtszeit zu einer solchen Eskalation bereit sein dürfte, scheint wahrscheinlich. Andernfalls müsste er durch eine weitere Erhöhung der Staatsquote oder durch zusätzliche Schulden die steigenden Sozialkosten bedienen. Und das würde nur jenen Abwärtsstrudel beschleunigen, in dem sich Frankreich ohnehin längst befindet.

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