Pressekonferenz des russischen Präsidenten - Putins Bürgersprechstunde

Vier Stunden lang stellte sich Wladimir Putin im russischen Fernsehen den Fragen von Zuschauern und nutzte die Gelegenheit für Propaganda. Dabei ließ er sogar einen KI-generierten virtuellen Doppelgänger auftreten.

Es kann nur einen geben: Putin in seiner jährlichen Pressekonferenz / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

So erreichen Sie Thomas Urban:

Anzeige

In der Presseabteilung des Kremls kann man sich freuen: Die Episode mit dem Doppelgänger Wladimir Putins während der sogenannten Bürgersprechstunde des Kremlchefs beschäftigt die gesamte Weltpresse. Die staatlichen Fernsehsender hatten am Donnerstag Putins traditionelle Jahresendpropagandashow ausgestrahlt, dabei dürfen Bürger live aus dem Publikum im Saal, per Telefon oder per Mail Fragen stellen. Was spontan aussieht, ist im Detail orchestriert. Wie in früheren Jahren dauerte die Show wieder vier Stunden, Putin liebt lange Monologe, in denen er sich seiner Erfolge rühmt und seine Gegner, nämlich den dekadenten „kollektiven Westen“, attackiert.

Kernstück dieses Szenarios war der auf dem Riesenbildschirm im Saal eingeblendete kurze Auftritt eines Fragestellers, der wie eine etwas jüngere Ausgabe von Putin aussah und dessen Stimme auch wie die des Kremlchefs klang. Der Mann stellte sich als Student aus Sankt-Petersburg vor und wartete mit einer provokativen Frage auf: „Stimmt es, Wladimir Wladimirowitsch, dass Sie viele Doppelgänger haben?“ Putin entgegnete: „Nach meinem Dafürhalten darf nur eine Person aussehen wie ich und mit meiner Stimme sprechen. Und diese Person bin ich.“

Damit war die Frage aber nicht beantwortet. Warum ließ Putin diesen Studenten älteren Semesters aus seiner Heimatstadt auftreten? Wollte er sich über all die Spekulationen in den westlichen Meden über Doppelgänger lustig machen? Oder wollte er in seiner zynischen Art etwas anderes ausdrücken, um die Ecke gedacht: Er wisse, dass alle wüssten, dass er nicht die Wahrheit sage, wenn er die Existenz von Doppelgängern leugne, aber es sei ihm egal, wenn man ihn im Westen für einen Lügner halte. Putin liebt es bekanntlich, wenn die Kremlastrologen im Ausland über ihn rätseln. Vermutlich war die verwirrende Doppelgängerepisode nicht seine Idee, sein Humor ist nämlich nicht doppelbödig, sondern brachial direkt, oft zotig, so wie er auch ausländische Staatsgäste, die ihn nach seinen Absichten fragen, ganz direkt belügt.

Putin geht von der falschen Formel aus: russischsprachig gleich russisch

Gelogen waren nun auch seine neuen Ausführungen zur WSO, wie die russische Abkürzung für die „Militärische Spezialoperation“, den Angriffskrieg gegen die Ukraine, lautet. Denn es ist eben keine begrenzte Operation, wie er erneut behauptete; westliche Militärexperten sind nach der Auswertung aller verfügbaren Daten zu dem Ergebnis gekommen, dass bislang mindestens 100.000 russische Soldaten gefallen sind, zehnmal so viel wie die Verluste der Sowjetarmee im Afghanistankrieg (1979–1989).

Allerdings ist anzunehmen, dass die Begründung für den völkerrechtswidrigen Angriff aus Putins Sicht nicht gelogen ist, sondern er vielmehr fest der eigenen Propaganda glaubt: Die Ukrainer seien keine Nation, sondern neben Russen und Belarussen Teil des „dreieinigen“ großen Russlands. Ranküne des Westens – die Adelsrepublik Polen-Litauen, Österreich-Ungarn, Nazi-Deutschland, die Nato – hätten die Abspaltung dieses unveräußerlichen Teil der russischen Erde betrieben, er habe nun die Aufgabe, „historische Gerechtigkeit“ herzustellen.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

In der Tat gehörte Kiew von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 zum Machtbereich Moskaus. Doch haben seinerzeit 90 Prozent in der Ukrainischen Sowjetrepublik für die Unabhängigkeit gestimmt, darunter 85 Prozent im überwiegend russischsprachigen Donbas, von dem Putin wahrheitswidrig behauptet, dass dort die russische Bevölkerung härtesten Repressionen ausgesetzt gewesen sei und deshalb habe „befreit“ werden müssen. Auf der Krim, wo die ethnischen Russen erst seit der Massendeportation der Krimtataren und der Krimukrainer wegen angeblicher Kollaboration mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg die größte Bevölkerungsgruppe stellten, waren es 54 Prozent. Zum Zeitpunkt der Annexion 2014 machten die Russen knapp über die Hälfte der Bevölkerung aus, nicht aber die „überwältigende Mehrheit“, wie Putin nun in seiner Bürgersprechstunde erneut behauptet hat, ganz abgesehen davon, dass lediglich elf Prozent bei den letzten freien Regionalwahlen auf der Halbinsel für Parteien votierten, die den Anschluss an Russland propagierten. Denn man fürchtete auf der Krim, dass die in allen ehemaligen Sowjetrepubliken verhassten „Moskowiter“ ihnen ihre Hotels, Weinberge und Strände wegnehmen wollten. Man hatte sich gut mit dem Autonomiestatut arrangiert, das Kiew zugestanden hatte.

Putin geht von der schlicht falschen Formel aus: russischsprachig gleich russisch. Auch die Österreicher reden bekanntlich Deutsch, die Wallonen Französisch, doch in beiden Regionen würde es auf heftigen Protest stoßen, wenn Berlin oder Paris den Anspruch erhöben, sie ihrem Machtbereich einzugliedern. Doch Putin bekräftigte nun erneut, dass er die Russische Welt (Russki mir) einen werde, alle Gebiete mit russischsprachiger Bevölkerung also wieder unter Moskauer Kontrolle bringen möchte. In Kiew sagt man dazu: Sein Anspruch sei so, als ob die Italiener von heute Spanien und Frankreich an ihr Land anschließen wollten, weil deren Territorien einst zum römischen Imperium gehört hatten.

Putin verhehlte nicht, dass der Krieg noch lange dauern könnte

Dass Putin weiterhin die Wiedergeburt des russischen Imperiums anstrebt, machte er unmissverständlich klar: Er versicherte den Millionen an den Bildschirmen, dass die WSO erst beendet werden könne, wenn die Ukraine „entnazifiziert“ und „entmilitarisiert“ sei. Diese Vokabeln hatte er bereits unmittelbar nach dem Überfall auf das Nachbarland am 24. Februar 2022 angeführt, als er noch geglaubt hatte, dass Kiew nach fünf Tagen erobert sein würde.

Es war allerdings an diesem Donnerstag ein großes Eigentor. Denn auf dem gleichzeitig tagenden EU-Gipfel hatte der ungarische Premier Viktor Orbán mit Verweis auf Putins angebliche Verhandlungsbereitschaft zunächst versucht, den Beschluss über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldawien zu verhindern. Nun machte Putin aber klar, dass er an Verhandlungen überhaupt nicht interessiert ist – und nahm damit Orbán sein Hauptargument. Dieser gab seinen Widerstand auf, wahrscheinlich auch, weil gleichzeitig – angeblich unabhängig von der Ukraine-Frage – bislang blockierte zehn Milliarden an EU-Geldern für Budapest freigegeben wurden.

Putin verhehlte nicht, dass der Krieg, den er nicht so nannte, noch lange dauern könnte. Der Auftritt des Doppelgängers war Teil dieser Botschaft. Denn dieser fragte Putin nach seiner Einschätzung von künstlicher Intelligenz. Es war damit eigentlich klar, dass dieser angebliche Student aus Sankt-Petersburg, über den manche Kremlbeobachter spekulierten, ein KI-Produkt war. Putin wollte damit demonstrieren, dass russische IT-Experten bei KI ein gefährliches Niveau erreicht haben und diese als Instrument in seinem Propagandakrieg einsetzen werden, der den „kollektiven Westen“ verwirren und somit schwächen soll. Für den Westen aber bedeutet diese Botschaft: den Schutz der digitalen Infrastruktur noch mehr zu stärken. Und vor allem: die Ukraine sowie das ebenfalls bedrohte Moldawien weiter unterstützen.

Anzeige