Präsidentschaftswahlen in Frankreich - Macrons Vorsprung schmilzt 

In der letzten Woche vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich macht die Rechtspopulistin Marine Le Pen in Umfragen Boden gut - trotz ihrer Russlandnähe. Der Wahlausgang könnte knapp werden. Staatschef Emmanuel Macron berichtigt hastig seinen Kurs – allerdings nach links. 

35.000 seiner Anhänger bejubeln Emmanuel Macron bei seinem Wahlkampfauftritt in der La-Défense-Arena / dpa
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Die Präsidentschaftswahl ist in Frankreich alle fünf Jahre der Höhepunkt und Wegweiser des politischen Lebens – sozusagen die Königswahl aller französischen Urnengänge. Eine Königswahl ist es aber auch, weil der Präsident – auf die erste Präsidentin wartet das Land bis heute – eine enorme Machtfülle hat. Sie ist der Kerninhalt der Verfassung, die sich der Widerstandsheld des Zweiten Weltkriegs, Charles de Gaulle, 1958 selber auf den Leib schneiderte. 

Als der „Président-Général“ 1969 im Zuge der 68er-Studentenunruhen abtrat, schlüpften seine Nachfolger problemlos in das weite Kleid des Wahlmonarchen. Georges Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing, François Mitterrand und Jacques Chirac waren noch Landesväter alter Schule; sie waren noch für eine fast monarchische Amtszeit von sieben Jahren gewählt. Im neuen Jahrtausend wurde die Mandatsdauer auf fünf Jahre reduziert. Nicolas Sarkozy, François Hollande und seit 2017 Emmanuel Macron verkörperten nicht mehr unbedingt den Stil des Altherrenpolitikers, sondern waren jüngeren Zuschnitts. Allein, der präsidialen Macht bedienen sie sich ebenfalls ohne falsche Hemmungen. 

Und die Damen der politischen Schöpfung? Mit der Sozialistin Ségolène Royal kandidierte 2007 erstmals eine Politikerin mit reellen Wahlchancen. Aber sie beging den gleichen Fehler wie Marine Le Pen 2017: Im entscheidenden TV-Duell vor der Stichwahl attackierte sie ihren männlichen Widersacher zu frontal. Sarkozy ließ Royal gönnerhaft anrennen und sich verschleißen. Vor fünf Jahren reüssierte Macron mit derselben Taktik gegen Le Pen. 

Nur der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon könnte das Duell noch stören

In der Ausgabe 2022 – der erste Wahlgang findet am Sonntag statt, die Stichwahl fällt auf den 24. – tritt immerhin ein Drittel Frauen an. Doch die Konservative Valérie Pécresse und die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, sind weit abgeschlagen. Wahlchancen hat nur Marine Le Pen. In den Umfragen hat sie in der letzten Woche bis auf fünf Prozent zum bisherigen Favoriten Emmanuel Macron aufgeschlossen. Er kommt auf 27, sie auf 22 Prozent. Was den zweiten Wahlgang betrifft, liegt sie mit 47 Prozent schon fast im Bereich der Fehlerquote. 

Die zwei Widersacher von 2017 haben damit beste Chancen, auch am kommenden Sonntag in die Stichwahl einzuziehen. Nur der „unbeugsame“ Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon (17 Prozent Umfragestimmen) könnte das Duell noch stören. Der Rechtsaußen Éric Zemmour und der Grüne Yannik Jadot liegen dagegen wie Pécresse und Hidalgo unter zehn Prozent. 

Gefährlich für Macron würde es, wenn Le Pen sogar den ersten Wahlgang für sich entscheiden würde. Das würde ihr Aufwind verleihen – und die Vorzeichen im Vergleich zu 2017 umkehren. Die Pariser Medien kommentieren bereits, der Staatschef sei „in der Defensive“. Bisher hatte der Präsident versucht, sich als Staatenlenker in Kriegszeiten aus der Wahlpolitik herauszuhalten. Vor dem ersten Wahlgang ließ er sich auf kein TV-Streitgespräch ein; sein vor zwei Wochen vorgestelltes Wahlprogramm präsentierte er wie nebenbei. 

Macron verspricht seinen Wählern alle Arten sozialer Wohltaten

Am vergangenen Samstag organisierte Macron seine erste und einzige Wahlveranstaltung vor dem ersten Durchgang. Was als Pflichtübung gedacht war, diente ihm nun aber zu einer Kursberichtigung. Vor 35.000 Anhängern nahm er in der La-Défense-Arena westlich von Paris nicht etwa Kurs nach rechts, wo bisher der Schwerpunkt der ganzen Kampagne gelegen hatte. Vielmehr predigte er Solidarität und Gleichheit, sozialen Fortschritt und öffentlichen Dienst – alles linke Anliegen. In einem zweistündigen Soloauftritt bemühte er immer wieder das neue Schlagwort des Wahlkampfs, die „Kaufkraft“. Steigende Preise für Benzin, Heizöl oder Nahrungsmittel liegen gerade den Schlechterverdienenden schwer auf – und die wählen häufiger Le Pen als Macron, der das Stigma eines „Präsidenten der Reichen“ trägt. 

Macron bestätigte in La Défense zwar, dass er das Rentenalter von 62 auf 65 Jahre erhöhen und die Arbeitszeit verlängern wolle. Neu gedenkt er aber die Mindestrente von 1000 auf 1100 Euro zu erhöhen. Erwerbstätigen verspricht er eine steuerfreie Kaufkraftprämie von bis zu 6000 Euro im Jahr. Dazu will er 50.000 Pflegekräfte einstellen, nachdem er schon 10.000 Polizisten angeworben hatte. 

Im Wahlkampf 2017 hatte Macron noch den Abbau von 50.000 Beamtenstellen versprochen. Das ist nun vergessen. Sparen ist out. Allein für die Stabilisierung der Strom- und Gaspreise hat Macron bereits 20 Milliarden Euro locker gemacht, wie er seinen Anhängern in Erinnerung rief. Alleinerziehenden Müttern verspricht er mehr Hilfen, den Arbeitslosen höhere Zulagen. 

Eingebrochen ist in den Umfragen nur Zemmour

Diese Bevölkerungskategorien neigen alle Le Pen zu. Die Rechtspopulistin war die erste gewesen, die vor allen anderen erkannte hatte, dass das Thema Kaufkraft für einen Großteil der Wählerschaft von erstrangiger Bedeutung ist – noch vor der Ukraine oder der Pandemie. Das zahlt sich nun für sie aus. 

Und der Ukraine-Krieg? Vorteil für Macron? Le Pen und Mélenchon, die beiden Herausforderer des wiederkandidierenden Präsidenten, gelten als russlandfreundlich und müssen sich gegen Vorwurf verteidigen, allzu lange auf der Seite nachmaliger Kriegsverbrecher gestanden zu haben – oder insgeheim immer noch zu stehen. Als Moskau die Invasion der Ukraine startete, kommentierten Pariser Medien, Le Pen, Zemmour und Mélenchon hätten sich selber disqualifiziert, ja „erledigt“. 

Eingebrochen ist in den Umfragen aber nur Zemmour. Das ist doch sehr erstaunlich: Le Pen und Mélenchon – die sich notabene aus der Kommandostruktur der Nato zurückziehen wollen – schadete ihre Russland-Affinität nicht. Zöge sie oder er ins Elysée ein, hätte dies weitreichende Folgen für die europäische Haltung im Ukraine-Krieg. Mit Frankreich im Westen und Ungarn im Osten der EU stünden zwei Mitgliedstaaten auf der Seite Moskaus. Sowohl Le Pen als auch Mélenchon haben zudem klar gesagt, dass sie die deutsch-französische Freundschaft schlicht aufkünden würden. 

Der Wahlkampf steht ganz im Zeichen steigender Energie- und Nahrungsmittelpreise

Der Grund für die Nachsicht der französischen Wähler gegenüber der „Putinistin“ Le Pen kann nur vermutet werden. Die Vorsteherin des Rassemblement National (RN) versteckt ihre langjährige Nähe zu Wladimir Putin hinter Zemmour, der sich sogar einen „französischen Putin“ gewünscht hatte. Die heute sehr moderat auftretende Extremistin ist Putin in Wirklichkeit noch enger verbunden: Vor der Präsidentenwahl 2017 hatte sie ihn im Kreml persönlich besucht und ihm ihre „Bewunderung“ ausgedrückt. Dazu steht sie in seiner Schuld: Von einer kremlnahen Bank erhielt sie einen „Kredit“ über neun Millionen Euro, den sie bis heute nicht zurückerstattet hat. 

Nach dem Massaker von Butscha hat sich Le Pen klar von Putin distanziert: Sie spricht von „Kriegsverbrechen“ und ist – anders als Zemmour – für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. Vor allem aber profitiert sie davon, dass der Wahlkampf heute ganz im Zeichen steigender Energie- und Nahrungsmittelpreise steht. Sie machen vor allem unteren Einkommenskategorien zu schaffen – und das sind in erster Linie Le-Pen-Wähler. 

Dieser Umstand erklärt wohl, dass Le Pen nicht zurückgefallen ist, sondern im Endspurt noch zulegt. Und zwar stärker als Macron, Mélenchon und alle anderen Widersacher. Vor fünf Jahren noch undenkbar, scheint Le Pens Sieg nun ähnlich möglich wie Donald Trumps Triumph 2016 in den USA. Und das Erstaunlichste: Die meisten Franzosen zucken darob nur mit den Schultern. Das zeigt, dass die Wähler den Kopf derzeit ganz woanders haben. Die Demoskopen rechnen mit einer rekordhohen Stimmenthaltung. 

Le Pen gibt sich heute samtweich und geläutert

Spät, aber dramatisch schlagen die Macronisten Alarm. „Natürlich kann sie gewinnen!“, rief der frühere Premierminister Edouard Philippe aus; und Transportministerin Elisabeth Borne fügte an: „Stellen wir uns einen Moment lang vor, Marine Le Pen wäre 2017 gewählt worden. Die Franzosen hätten russische und chinesische Vakzine gekriegt. Und zur Heilung das umstrittene Hydroxychloroquin.“ 

An der Populistin prallt das ab. Sie, die früher so laut wie ihr Vater Jean-Marie Le Pen schimpfte und giftete, gibt sich heute samtweich und geläutert, ohne je ihr Reizwort Immigration zu benützen. Macron dagegen, der Gentleman-Kandidat, zeigt nun Nerven und greift seine Gegnerin direkt an, indem er sie als „Clan-Erbin“ bezeichnet und behauptet: „Sie belügt die Leute.“ 

Der Präsident folgt damit auch seiner erprobten Strategie, ein Duell zwischen Le Pen und ihm zu konstruieren – auf der Überzeugung beruhend, dass sie von rechtsaußen nie auch nur in die Nähe der 50-Prozent-Schwelle kommen würde. Dieses politische Kalkül datiert allerdings von 2017. Fünf Jahre später wirkt es überholt. 

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