Oberst a.D. Ralph Thiele im Gespräch - „Es kann kein Zufall sein, dass so viele Fehlfunktionen gleichzeitig auftreten“

Nach dem Druckabfall in den Nord-Stream-Gaspipelines unter der Ostsee haben die dänischen Behörden drei Lecks an Nord Stream 1 und Nord Stream 2 festgestellt. Im Interview erklärt Ralph Thiele, Militärexperte und ehemaliger Bundeswehr-Oberst, warum er eine Sabotage für wahrscheinlich hält, wie leicht es ist, kritische Infrastruktur im Meer lahmzulegen – und wem der Nord-Stream-Zwischenfall am meisten nutzt.

Gasaustritt über Nordstream-Pipeline-Lecks in der Ostsee / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Ralph Thiele ist Militärexperte und ehemaliger Bundeswehr-Oberst.

Herr Thiele, angesichts dreier Lecks in Nord Stream 1 und Nord Stream 2 in der Ostsee, wird darüber spekuliert, ob es sich um Sabotage handeln könnte. Halten Sie das für plausibel? 

Definitiv. Einmal Zufall, zweimal Zufall, dreimal Absicht. Die Erfahrung im Umgang mit Pipelines zeigt, dass es kein Zufall sein kann, dass so viele Fehlfunktionen gleichzeitig auftreten. Auch die Menge des austretenden Gases – der Durchmesser an der Wasseroberfläche beträgt derzeit einen Kilometer – spricht nicht dafür, dass es sich um einen einfachen Defekt handelt. Nun könnte man lange mutmaßen, wer dahintersteckt.

Lassen Sie uns das gleich gemeinsam tun. Aber zuerst: Wenn wir von moderner Kriegsführung sprechen, geht es häufig um Technologie, um Hacker, die zum Beispiel Satellitensysteme lahmlegen. Drei Lecks in eine Pipeline zu hauen, um es mal salopp zu formulieren, scheint mir eine eher rustikale Variante zu sein. Warum würde eine solche Sabotage denn genau jetzt trotzdem Sinn machen? 

Etwas, was wir in der Öffentlichkeit immer nicht so im Blick haben, ist, dass sich die Kriegsführung entwickelt hat. Während wir in der deutschen Debatte doch sehr an den Panzern hängen, ist der Ukraine-Konflikt längst ein hybrider Krieg und war es auch vor dem russischen Einmarsch schon. Es gab Angriffe auf ukrainische Informationssysteme und Medien, auf die Bevölkerung, es gab Bestechungsversuche bei Politikern. Wir sehen heute zudem, dass die Nachrichtendienste sehr aktiv sind. Es gibt Fälle von deutschen Reisenden, die Russland versucht, umzudrehen, teilweise zu erpressen, damit sie für den Kreml arbeiten. Das alles sind hybride Erscheinungsformen des Krieges, neben dem, was kriegerisch im Lande stattfindet. Und kritische Infrastrukturen sind in hybriden Kriegen immer ein Hauptziel, also Transportwege, Satellitenverbindungen, Energieversorgung. Von daher macht in einem hybriden Krieg ein Angriff auf die Gasversorgung durchaus Sinn.  

Hinzu kommt der sehr kurze zeitliche Abstand zwischen der Ankündigung Putins einer Teilmobilmachung und den Lecks an Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Sehen Sie da einen Zusammenhang? 

Ein Zusammenhang ist durchaus denkbar. Wir haben mit der Teilmobilmachung einen Wendepunkt im Kriegsgeschehen, weil es eben eine deutliche Eskalation ist. Medial wird versucht, das Ganze so ein bisschen ins Lächerliche zu ziehen. Aber wenn wir mal nüchtern auf die Situation in der Ukraine schauen: Wenn an der Front jetzt 300.000 Mann mehr sind – spekuliert wird sogar über bis zu einer Million –, dann erreicht der Ukraine-Krieg eine neue Qualität. Auch, wenn die Soldaten, die aus der einfachen Bevölkerung kommen, schlechter vorbereitet und ausgebildet sind. Von daher findet hier eine Zuspitzung des Konfliktes statt. Hinzu kommen noch die nuklearen Drohungen. Die nächste Zuspitzung. Alle beteiligten Seiten sind daher alarmiert und überlegen sich, was man tun kann, um sich in dieser Situation neu aufzustellen. 
 

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Putin ist dafür bekannt, erst eine Nebelkerze zu zünden und dann in die Offensive zu gehen. Gleichzeitig profitiert die Ukraine von diesen Lecks insofern, dass es dem Westen nochmal deutlicher vor Augen führt, dass die Gasabhängigkeit von Russland problematisch ist. Aber wer profitiert denn nun mehr von diesem Zwischenfall? Russland oder die Ukraine? 

Strategisch betrachtet, verliert Putin Handlungsoptionen dadurch, dass diese zwei Pipelines beschädigt sind. Warum verliert er Handlungsoptionen? Der Westen wackelt, wir Deutschen wackeln. Und andere Länder in Europa wegen der Themen Strom, Gas und Ölpreise auch. Selbst Unruhen sind mittlerweile denkbar. Da hat Putin mit den Gaslieferungen ein wichtiges Druckmittel. Indem diese Pipelines nicht mehr zur Verfügung stehen, verliert Putin Optionen. Das spricht also nicht dafür, dass es Russland nutzt. 

Was spricht denn dafür? 

Würde ich das unter dem Thema Falsche-Flagge-Operation einordnen und als Beginn weiterer Attacken auf norwegische und britische Gasvorkommen, dann könnte Putin das machen, was Hybrid-Akteure gerne machen: durch Leugnen und getarnte Operationen den Verdacht in andere Richtungen lenken. Schließlich könnte er dann sagen, er sei doch zuerst betroffen gewesen, daher müsse dahinter ein anderer Akteur stecken. Das müsste man sich also über die Zeitachse anschauen, was da weiter passiert. Was wir bei hybriden Akteuren aber auch sehen müssen, sind Stellvertreter. Hier kommen möglicherweise auch wirtschaftliche Akteure ins Spiel. 

Inwiefern? 

Das ist etwas, was wir gerne übersehen. Ein wesentlicher Grund des Erfolges der Ukraine gegen die russische Aggression war die Involvierung eines privaten Akteurs. Mit seinem Starlink-System, zu dem hunderte Satelliten gehören, hat Elon Musk die Ukrainer befähigt, die Panzer der Russen zahlreich zu zerstören. Ein wirtschaftlicher Akteur, der sich aus eigenem Entschluss anbietet, der Ukraine zu helfen, könnte auch bei den Nordstream-Pipelines aktiv gewesen sein. Auch Firmen könnten involviert sein, die hoch entwickelt sind, weil sie etwa Unterseekabel verlegen, reparieren und so weiter. Das Spektrum der mutmaßlichen Verdächtigen ist also breit. Aufgrund der steigenden Gaspreise gehören zum Beispiel auch Gasfirmen zum Kreis der Verdächtigen. 
 

Hören Sie auch den Cicero-Podcast mit Ralph Thiele:


Welche Variante halten Sie denn für am wahrscheinlichsten? 

Ich tue mich aktuell schwer damit, Russland hier als Hauptverdächtigen zu sehen. Das würde sich aber ändern, wenn jetzt weitere Anschläge auf andere Pipelines folgen würden. Dann würde Russland für mich ins Zentrum rücken. Im Augenblick gehe ich davon aus, dass es ein Sympathisant der Ukraine war, wenn nicht gar die Ukraine selbst. 

Wegen der Einmaligkeit? 

Wegen der Einmaligkeit und auch wegen des Effekts. Der Effekt ist einfach, dass man den wackeligen westlichen Regierungen die Möglichkeit nimmt, zurückzufallen auf diese Nordstream-Varianten der Gasversorgung. Das macht sozusagen uns die Entscheidung leichter, die Ukraine weiter zu unterstützen. 

Aber träfe die Ukraine damit nicht auch die eigenen Verbündeten? 

Nicht wirklich. Die Ukrainer sind da sehr aggressiv, übrigens auch unterstützt durch die baltischen Staaten, Polen und so weiter. Mit denen ist man sich ziemlich einig, dass es sich nicht gehört, angesichts der russischen Invasion über Nordstream Gas aus Russland zu beziehen. Und die betroffene Infrastruktur gehört ja Russland. Von daher wäre das also eine antirussische Sabotage, keine antiwestliche. 

In Ordnung. Für so eine Sabotage muss man aber erstmal herankommen an die Pipeline. Wie werden solche Pipelines denn überwacht? Sie verlaufen ja durch mehrere Länder und damit unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche, oder? 

Wir müssen davon ausgehen, dass diese Sabotage mit Hilfe eines U-Bootes und vielleicht Kampfschwimmern erfolgt ist, die Sprengladungen an den Pipelines angebracht haben. Dafür sprechen jedenfalls die Nachrichten, die es derzeit über die drei Lecks an Nord Stream 1 und Nord Stream 2 gibt. Mehrheitlich verlaufen diese Pipelines durch internationale Gewässer. Was gleichermaßen für Pipelines auf dem Land und Pipelines unter See gilt: Man kann diese überwachen und schützen. Über Land etwa mit Sensoren, Kameras, Drohnen oder Flugzeugen. Unter Wasser ist das aufwändiger, gerade bei so einer Pipeline auf einer ganz langen Strecke. Da gibt es Defizite. Man müsste im Grunde unter See das Gelände vermessen und einspeichern, um dann über eine Art Veränderungsdetektion festzustellen, wenn sich Schiffe oder U-Boote der Pipeline nähern. An der Stelle sind wir noch nicht. Aber gerade diese Anschläge jetzt werden das verändern. Die Technologie jedenfalls gibt es bereits. 

Leck-Übersicht

Habe ich Sie richtig verstanden? Sie sagen, dass derzeit im Prinzip jeder, der über die entsprechenden technischen Möglichkeiten verfügt, einfach an diese Pipelines herantauchen und Teile davon sprengen kann? 

So ist das, ja. Aber das gilt nicht nur für die Nordstream-Pipelines. Sie müssen nur nach Nigeria schauen: Da passiert so etwas fast jeden Tag – und zwar an Land. Pipelines sind eben lang und insbesondere dann, wenn das Gebiet drum herum nicht gesichert ist, auch zugänglich. Das gilt insbesondere für Pipelines unter Wasser. 

Im Zuge des Ukraine-Krieges – Sie hatten darüber auch mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier im Podcast gesprochen – wird deutlich, dass der Westen das Gespür für Themen wie Geopolitik oder Kriegsführung in den vergangenen Jahrzehnten so ein bisschen verloren hat. Gehört dazu auch das Verständnis, dass man kritische Infrastruktur besser vor Angriffen schützen muss? 

Ja. Mit der Entwicklung der Technik, die immer preiswerter und immer zugänglicher wird, kann an unserer kritischen Infrastruktur theoretisch jederzeit irgendjemand wirken. Wir rechnen damit, dass, wenn das Quantencomputing demnächst besser wird, Hacker in Echtzeit und von überall auf der Welt die Energieversorgung oder Staudämme übernehmen können. Das ist echt ein heißes Thema. Technik ermöglicht den Angriff und erfordert den Schutz. Da gibt es insbesondere bei uns noch große Mängel.  

Abschließend noch kurz ein Blick in die Ukraine: Wie bewerten Sie denn den aktuellen Stand dieses Konflikts, auch angesichts der Teilmobilmachung und der nuklearen Drohung? Wohin wird sich dieser Krieg jetzt entwickeln?  

Wir sind leider in einer stetigen Eskalation. Das ist etwas, was mich besorgt. Nicht derart wie bei den Leuten, die Angst haben vor Russland oder sogar heimlich mit Russland sympathisieren. Das ist nicht der Punkt. Aber wer Verantwortung trägt und nicht auf die Absichten, sondern auf die Ergebnisse blickt, der sieht eben, dass eine Eskalation des Konflikts bis hin zu einer möglichen Anwendung von Nuklearwaffen denkbar wird. Und je labiler die Situation wird, desto leichter können auch Fehler geschehen. Von daher: Ich bin besorgt und wünsche mir mehr Entspannung statt Eskalation. Wie das gelingen kann, ist eine andere Frage. 

Das Gespräch führte Ben Krischke.

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