Nato-Gipfel in Madrid - Braucht Europa eine autonome atomare Abschreckung?

Die atomare Abschreckung durch die USA hat Europa während des Ukraine-Kriegs mutmaßlich davor bewahrt, den Forderungen Russlands zu erliegen, schreibt Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser in seinem Gastbeitrag. Doch nicht erst seit dem Nato-Gipfel in Madrid stellt sich die Frage, wie lange Europa noch auf den Schutzschirm der USA vertrauen kann. Sollte sich die EU nicht besser um ihre eigene nukleare Abwehr bemühen?

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz trifft zum Gipfel der Nato-Staatschefs in Madrid ein / dpa
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Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., hat u.a. im Verteidigungs- ministerium und in den deutschen Vertretungen bei der Nato und den Vereinten Nationen gearbeitet.

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Im neuen, am 29. Juni 2022 von den Staats- und Regierungschefs der NATO in Madrid verabschiedeten Strategischen Konzept wird die Russische Föderation erstmals als die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Allianzpartner und für Frieden und Stabilität im transatlantischen Raum bezeichnet. Das neue Grundsatzdokument beinhaltet in Verbindung mit den in der Gipfelerklärung von Madrid angekündigten signifikanten Verstärkungen der Ostflanke eine Art Nato-Zeitenwende in Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine.

Von den verbalen Atomdrohungen Moskaus hat sich die Nato nicht provozieren lassen. Die Passagen zur Nuklearpolitik wiederholen weitgehend die Aussagen in den Gipfelerklärungen der letzten Jahre, in denen die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung bekräftigt wird. Die Nato habe die Fähigkeit und die Entschlossenheit, einem Gegner nicht annehmbare Kosten aufzuerlegen, die weit schwerer wiegen würden, als die Vorteile, die ein Gegner zu erzielen erhoffen könnte.

Letzten Endes dürfte es die erweiterte atomare Abschreckung durch die USA sein, unter deren Schirm die westliche militärische Unterstützung der Ukraine möglich, wenngleich nicht grenzenlos ist. Ohne den atomaren Schutzschirm Washingtons hätte der Kreml, aller Wahrscheinlichkeit nach, europäische Waffenlieferungen an die Ukraine mit weit konkreterem, erpresserischem nuklearen Säbelrasseln abgeschreckt, um seine Kriegsziele in der Ukraine zu erreichen. 

Amerikanische Unwägbarkeiten

Das hohe Engagement der Biden-Administration für ein starkes transatlantisches Bündnis Nato ist klar. Im Blick auf die innenpolitischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten stellt sich jedoch, die Frage, ob dies die nächsten Präsidentschaftswahlen überdauern wird. Eine wachsende Zahl von Experten und Politikern befürchtet, dass Donald Trump oder ein ähnlich agierender Kandidat der Republikaner 2024 antreten, die Wahl gewinnen und die USA auf einen isolationistischen und protektionistischen „America First II“-Kurs bringen könnte. Trump hält die Nato offenbar weiterhin für obsolet. Er gilt zudem als unberechenbar, was erneut die Frage nach der Verlässlichkeit des amerikanischen nuklearen Abschreckungs-Schutzschirms für Europa in der absehbaren Zukunft aufwirft.

Diese Verlässlichkeitsfrage hat zwei entgegengesetzte Facetten. Einerseits geht es um die Glaubwürdigkeit der amerikanischen nuklearen Abschreckung für Europa, also ob Washington bereit ist, weiterhin entschlossen mit dem Einsatz von Atomwaffen zur Verteidigung Europas zu drohen. Auf der anderen Seite steht – kaum und ungern thematisiert – die entgegengesetzte Sorge, dass die USA im Fall eines Kriegs zwischen Russland und der Nato, frühzeitig taktische Atomwaffen gegen das Votum von Bündnispartnern einsetzen könnten. Die im „Nuclear Posture Review (NPR) 2018“ der Trump Administration niedergelegten Vorstellungen einer integrierten konventionell-nuklearen Kriegsführung unter Verwendung von zielgenauen miniaturisierten Atomwaffen hat die nukleare Schwelle bereits gesenkt. Der abgeschlossene, aber noch nicht veröffentlichte NPR der Biden-Administration dürfte in diesem kritischen Punkt der Wiederkehr einer Kriegsführungsabschreckungsdoktrin keine wesentlichen Änderungen beinhalten.

 

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Drei denkbare Wege einer europäischen nuklearen Abschreckung

Als Folge wachsender Ungewissheit über die Zukunft des nuklearen Schutzschirms der USA ist die schon länger in Expertenkreisen schwelende Debatte über die Perspektive einer unabhängigen europäischen nuklearen Abschreckungsmacht durch Äußerungen deutscher Politiker und Wissenschaftler akzentuiert worden (zum Beispiel hier, hier und hier).

Der öffentliche Diskurs zu diesem heiklen Thema dürfte hochkontrovers verlaufen und Protestbewegungen nach sich ziehen. Zudem wird vermutlich ein Teil der Völkerrechtler unter Hinweis auf internationale Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag oder den 2+4 Vertrag argumentieren, dass sich Deutschland vertraglich darauf festgelegt hat, keine Atomwaffen zu besitzen. Andererseits dürften diese rechtlichen Festlegungen der Teilhabe Deutschlands an einer Abschreckungsmacht im Rahmen eines kollektiven Verteidigungssystems wie der Europäischen Union (Artikel 42/7 EU-Vertrag) nicht im Wege stehen, vergleichbar mit der nuklearen Teilhabe in der Nato seit den 1960er-Jahren. 

Die folgenden Ausführungen skizzieren drei denkbare Wege einer europäischen nuklearen Abschreckung. Sie verfolgen den Zweck, zu einer sachlichen Debatte über Möglichkeiten und Implikationen einer europäischen Atommacht beizutragen. Die Vorschläge beruhen auf der Tatsache, dass die eigentlich notwendige Perspektive der nuklearen Rüstungskontrolle und letztendlich vollständigen atomaren Abrüstung (Global Zero) mit dem russischen Krieg in der Ukraine in noch weitere Ferne gerückt ist. 

Option 1 – Erweiterte nukleare Abschreckung Frankreichs für die Europäische Union

Die im Jahre 2020 geäußerte Einladung von Präsident Macron zu einem europäischen Dialog über die atomare Abschreckung war vor dem russischen Krieg in der Ukraine verhallt. Inzwischen mehren sich die Stimmen, dass das französische Dialogangebot aufgegriffen werden sollte. Frankreich verfügt derzeit über 290 Atomsprengköpfe. Rückgrat seiner Abschreckungsmacht sind vier strategische U-Boote mit Interkontinentalraketen, von denen vermutlich maximal zwei Boote in Krisen permanent auf Patrouille sind. Hinzu kommen atomar bestückte Luft-Bodenraketen mittlerer Reichweite, die von nuklearfähigen Kampfflugzeugen eingesetzt werden.

Zunächst bedarf es einer realistischen militärpolitischen Bewertung, ob diese Streitmacht in ihrer derzeitigen Zahl und Konfiguration eine hinreichende Abschreckungs- und Überlebensfähigkeit besitzt, um eine erweiterte Abschreckung für Europa garantieren zu können. Schließlich geht es um eine glaubwürdige Abschreckungswirkung auch gegen das etwa 20-fach größere russische Nuklearpotenzial einschließlich von umfangreichen russischen U-Boot Ortungs- und Jagdkapazitäten. Zweifel an der Überlebensfähigkeit der strategischen französischen U-Boote sind jedenfalls nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Das französische Nuklearpotenzial müsste für eine auf Europa erweiterte Abschreckungsfunktion vermutlich mit erheblichen finanziellen Mitteln aus anderen europäischen Staaten vergrößert werden.

Macron hat offengelassen, unter welchen Modalitäten er sich eine nukleare Zusammenarbeit im Rahmen der EU vorstellen kann. Die französische Sicherheitspolitik bleibt aller Wahrscheinlichkeit nach gaullistisch geprägt. Es ist praktisch undenkbar, dass der französische Präsident, wer immer in dieses Amt gewählt wird, bereit wäre, seine alleinige, nationale Entscheidungsgewalt über den Einsatz der französischen Kernwaffen mit anderen europäischen Regierungschefs zu teilen. Die prinzipiellen Probleme der erweiterten nuklearen Abschreckung eines Staates für andere blieben existent.

Würde der französische Präsident oder die französische Präsidentin für die Verteidigung Hamburgs zum Beispiel die Vernichtung von Marseille riskieren? Wenn die Abschreckung versagt, entscheidet letztendlich trotz aller Konsultationsverpflichtungen der Regierungschef der Schutzmacht über die Existenz der Länder unter dem Schutzschirm. Überdies müssen im Rückblick auf die Präsidentschaftswahlen und die Parlamentswahlen in Frankreich im Jahre 2022 die Unwägbarkeiten in der zukünftigen französischen Führung bedacht werden. Eine erweiterte Abschreckung durch das französische Nuklearpotenzial wäre nur dann eine belastbare Option, wenn Frankreich die Verfügbarkeit über sein Nuklearpotenzial mit anderen europäischen Staaten teilen würde. Dieser schwer vorstellbare, kritische Aspekt führt zur Option 2.

Option 2 - Autonome europäische maritime Abschreckungsmacht auf Basis der französischen Atomwaffentechnologie

Die Vision einer ernst zu nehmenden strategischen Autonomie Europas legt angesichts der russischen Bedrohung und der mit erweiterten Abschreckungsstrategien verbundenen grundsätzlichen Probleme eine autonome europäische nukleare Abschreckungsmacht nahe. Dies mag utopisch klingen, sollte aber zumindest als Gedankenexperiment in die Debatte einbezogen werden. Frankreich müsste seine Atomwaffentechnologie, die vermutlich teilweise mit der Ariane-Raketentechnologie aus der deutsch-französischen zivilen Zusammenarbeit verbunden ist, bereitstellen. Die nationale französische Atomstreitmacht bliebe unangetastet.

Es ist undenkbar, dass sich alle 27 EU-Staaten an einer europäischen Abschreckungsstreitmacht beteiligen wollen und können. Eher könnten wenige große Nationen wie Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien, als Koalition der Willigen eine multinationale Atomstreitmacht aufbauen und führen. Ggf. würde sie, bei vorliegendem EU-Konsens, im Rahmen der strukturierten Zusammenarbeit in die Europäischen Union eingebracht. Der multinationale nukleare Verband könnte im Kern aus acht bis zehn atomar angetriebenen U-Booten mit Interkontinentalraketen und Cruise Missiles bestehen.

Die teilnehmenden Nationen würden einen gemeinsamen Planungs- und Einsatzstab für die Führung und Unterstützung der Streitmacht aufbauen, dessen Anbindung an EU-Kommandostrukturen möglich wäre. Nukleare Planung, sowie Einsatz- beziehungsweise Freigabeentscheidungen bei Versagen der Abschreckung blieben in den Händen der beteiligten Staats- und Regierungschefs, die nach Konsultation mit den anderen EU-Staaten im Konsens über einen Einsatz entscheiden würden.

Option 3 - Maritime europäische Abschreckungsmacht innerhalb der NATO 

Diese dritte Option knüpft an die Entstehungsgeschichte der nuklearen Teilhabe in der Nato in den 1960er Jahren an. In Washington und den Nato-Staaten wurde 1963 die Option einer „Multilateral Force“, der sogenannten atomaren „MLF“ diskutiert. Einst geheime amerikanische Regierungsdokumente zur MLF sind mittlerweile freigegeben.

Das MLF-Projekt unter Präsident Kennedy, das seinerzeit von der Bundesregierung stark unterstützt wurde, verfolgte die Option einer multinationalen, seegestützten Nuklearstreitmacht im Rahmen der Nato. Etwa 25 strategische U-Boote der damaligen Poseidon-Klasse mit ballistischen Interkontinentalraketen sollten mit multinationalen Crews betrieben werden. Überwasserkriegsschiffe kamen hinzu. Es war vorgesehen, die politische Kontrolle über die Nato eigenen Atomwaffen einem hochrangigen Gremium mit Vertretern aller Mitgliedstaaten zu übertragen. Einsätze sollten im Konsens beschlossen werden. Das MLF-Projekt blieb kontrovers und scheiterte u.a. an der Ablehnung der Regierungen in Paris und London, die befürchteten, dass Deutschland auf diesem Weg zur Nuklearmacht aufsteigen könnte.

Die Grundidee der MLF der 1960er Jahre könnte wieder aufgegriffen werden. Wie bei der Variante einer atomaren Abschreckungsmacht im Rahmen der EU (Option 2) könnten neben den USA mehrere Nato-Staaten, die zugleich EU-Mitglieder sind, an dem maritimen Verband und den dazu gehörenden Kommando- und Kommunikationsstrukturen teilnehmen, die nukleare Planung verantworten und über Einsätze im Konsens entscheiden. Dies wäre weit mehr als nukleare Teilhabe. Die teilnehmenden europäischen Staaten würden über die Atomwaffen mit verfügen und über deren Einsatz für Europa bestimmen, wenn die Abschreckung versagt. Diese Option impliziert keine von den USA völlig unabhängige Lösung, sie würde eher dem Modell der britischen atomaren Abschreckung mit amerikanischen Systemen entsprechen. Frankreich und das Vereinigte Königreich würden vermutlich an ihrer nationalen nuklearen Abschreckung festhalten. 

Implikationen und Risiken: Es gibt keine ideale Lösung für eine souveräne europäische Abschreckung

All diesen Vorschlägen werden die in hergebrachten Bahnen denkenden transatlantischen Nuklearexperten entgegenhalten, dass kollektive Einsatzentscheidungen von Atomwaffeneinsätzen die Glaubwürdigkeit der Abschreckung minimieren. Das ist nicht auszuschließen, es bleibt aber für jeden potenziellen Aggressor das unkalkulierbare Risiko einer nuklearen Reaktion, auch wenn drei oder vier Regierungschefs den ultimativen Waffeneinsatz im Konsens beschließen müssten. Entscheidend ist jedoch, dass die derzeitige Situation, in der letztendlich nur der amerikanische Präsident über eine nukleare Eskalation in Europa und damit potenziell über die Existenz europäischer Staaten entscheidet, nicht mehr tragbar ist.

Alle drei Optionen haben ihre Vor- und Nachteile. Zudem würden die grundsätzlichen politischen und ethischen Dilemmata, die mit nuklearer Abschreckung und Eskalation verbunden sind, auch im Fall einer von den USA unabhängigen europäischen Abschreckungsmacht nicht verschwinden. Für alle Optionen gilt, dass die sicherheitspolitischen Folgen gründlich abgeschätzt und abgefedert werden müssten. Dies gilt sowohl für das künftige Verhältnis zu Russland, als auch für die Auswirkungen auf die Zukunft des „Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags“. Der strikt defensive Charakter einer europäischen Abschreckungsmacht könnte durch ein Minimalabschreckungskonzept, Transparenz und eine „No First Use“ – Deklaratorik unterstrichen werden. Voraussetzung für den Verzicht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen wäre allerdings eine gesicherte konventionelle europäische Verteidigungsfähigkeit, die in den kommenden Jahren in der Nato aufgebaut wird. Zudem könnten Russland weitergehende Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, insbesondere zur Risikoreduzierung und Vertrauensbildung angeboten werden.

Im Blick auf die künftigen Unwägbarkeiten für die Sicherheit Europas sollte eine ergebnisoffene Debatte über eine europäische nukleare Abschreckung nicht gescheut werden. Sie müsste am übergreifenden Ziel euro-strategischer Stabilität orientiert sein. Eventuell könnte eine ernste europäische und transatlantische Debatte über diese Fragen in eine „Nuclear Reassurance Initiative for Europe“ Washingtons münden, die für die nukleare Planung und für Einsatzentscheidungen im Fall des Versagens der Abschreckung nicht nur Konsultationen, sondern klare Mitentscheidungsrechte der europäischen Nato-Partner sicherstellt. Etwa wie in der Option 3 skizziert und vorausgesetzt, dass die Vereinigten Staaten ihre Nato-Verpflichtungen in der überschaubaren Zukunft nicht in Frage stellen.

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