Gefährliche Gedankenspiele - Schwesigs Wirtschaftsministerium erwog Gasklau aus Nord Stream 2

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsministerium einen Plan skizziert, wie das Gas aus Nord Stream 2 ohne Absprache mit Russland in eine deutsche Pipeline umgeleitet werden könnte - was ein klarer Völkerrechtsbruch wäre.

Reinhard Meyer, Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Von all den Vorwürfen, mit denen sich Manuela Schwesigs Landesregierung konfrontiert sieht, taucht dieser immer wieder auf: Mecklenburg-Vorpommern habe mit seinem trickreichen Einsatz für die Ostseepipeline Nord Stream 2 eine parallele Außenpolitik betrieben – mit den hinreichend bekannten Folgen.

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat sich der Wind auch in Schwesigs Regierung gedreht, die Ministerpräsidentin nennt ihre Russlandpolitik „mit dem Wissen von heute“ einen Fehler. Doch einen Hang zu außenpolitischen Maßnahmen mit potenziell geopolitisch weitreichenden Folgen hatte ihr Kabinett offenbar noch nach dem 24. Februar 2022 – nur unter umgekehrten Vorzeichen. Davon zeugt zumindest ein heikles Gedankenspiel des von Reinhard Meyer (SPD) geführten Landeswirtschaftsministeriums.

Die Sicherheit von Nord Stream 2

Im März 2022 hatte das Bundeskanzleramt Sorge vor einer Umweltkatastrophe, sollte es infolge von Havarien zu Lecks an Nord Stream 2 kommen. Die Pipeline war fertiggestellt, doch die Bundesregierung hatte die Betriebsgenehmigung am 22. Februar ausgesetzt. „Die Leitung sei voll mit Gas gefüllt, dieses müsse unbedingt aus der Leitung heraus. Es dürfe keine Umweltprobleme/Umweltkatastrophe geben“, gibt eine Referentin der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern in einer internen E-Mail einen Vertreter des Kanzleramts wieder. Die Äußerung fiel in einer internen Sitzung der Arbeitsgruppe Energie der SPD-Fraktion (Cicero berichtete).

Schwesigs Staatskanzlei bat das Landeswirtschaftsministerium deswegen um eine Einschätzung zu den Fragen etwaiger Gefahren und Zuständigkeiten für Nord Stream 2. Ende März legte dieses nach Absprache mit dem für die Überwachung zuständigen Bergamt Stralsund seine Einschätzung dar. Den Bericht erhielt Cicero nach einer IFG-Anfrage (Informationsfreiheitsgesetz) aus Schwesigs Staatskanzlei.

Russisches Gas klauen?

Die Pipeline sei sicher, schreibt Reinhard Meyers Ministerium, Havarien seien nicht zu befürchten. Es bestehe sicherheitstechnisch also kein Grund, Gas zu reduzieren. Dann unterbreitet man einen gewagten Vorschlag:

„Es kann jedoch als wünschenswert angesehen werden, den Gasdruck zu reduzieren, um an das enthaltene Erdgas heranzukommen. Ohne Kooperation durch die russische Seite könnte das technisch so geschehen, dass die Leitung an die EUGAL-Deutschlandleitung angeschlossen wird, die dann auf den niedrigsten Druck, der technisch machbar ist, gefahren wird. Dadurch könnte vermutlich alles Gas von 103 bar bis ca. 40-50 bar herunter verleitet werden und in die EUGAL (Europäische Erdgas-Pipeline von der deutschen Ostseeküste bis Tschechien, Anm. d. Red.) abfließen.“ Eine komplette Entleerung sei „jedoch nur dann möglich, wenn auch auf russischer Seite dazu eine Mitarbeit gewährleistet ist.“

Eine Skizze, die darstellt, wie ohne Abstimmung mit Russland Gas in eine deutsche beziehungsweise europäische Pipeline umgeleitet werden könnte? Für den Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler ist klar: „Im Wirtschaftsministerium und der Staatskanzlei hat man überlegt, wie man den Russen Gas stehlen könnte.“

Es wäre ein Völkerrechtsbruch

Welche Risiken man damit – in einer hochangespannten Kriegslage – potenziell in Kauf genommen hat, ist brisant. „Der Diebstahl des Gases wäre sicher ein Bruch des Völkerrechts gewesen“, sagt Boehme-Neßler. Denn es gebe den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz, dass kein Staat einem anderen schaden darf. „Völkerrechtlich hätte das bedeutet, dass Russland einen Anspruch auf Schadensersatz gegen Deutschland gehabt hätte. In letzter Instanz hätte Russland Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagen können“, so der Rechtswissenschaftler.
 

Artikel von Ulrich Thiele zur Klimastiftung MV:

Auch verfassungsrechtlich wäre der Gasdiebstahl laut Boehme-Neßler ein Supergau gewesen. „Die Verfassung formuliert ganz klar einen Grundsatz des Rechtsstaats: Alle staatlichen Akteure sind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 III GG). Dazu gehört auch, dass sich Landesregierungen an das Völkerrecht halten müssen.“

Sein Fazit: „Aus rechtlicher Sicht ist die Idee, staatliche Stellen könnten Russland Gas aus der Pipeline stehlen, völlig indiskutabel. Weil wir in einem Rechtsstaat leben, ist das auch ein politischer Skandal, dass in einer Landesregierung über den bewussten Bruch von Völkerrecht nachgedacht wird.“

Wirtschaftsministerium streitet Vorwurf ab

Das Wirtschaftsministerium weist die Vorwürfe auf Cicero-Anfrage von sich. „Es wurde kein Vorschlag unterbreitet, das russische Gas ohne Absprache mit Russland zu ‚entwenden‘“, so Meyers Behörde. Und weiter:

„Unter der Zwischenüberschrift ‚Sicherheit der Leitung‘ wurden unterschiedliche Aspekte der Sicherheitslage aufgelistet. Die von Ihnen genannten Stelle ist im Zusammenhang zu lesen – der Absatz beginnt mit der Einleitung: ‚Gegenwärtig besteht kein Grund, Gas zu reduzieren, weil keine Gefahr davon ausgeht‘. Unter dieser Prämisse ist aufgeführt worden, wie es aus technischer Sicht theoretisch möglich wäre, Gas aus der Leitung zu nehmen, sollte eine Gefahr davon ausgehen.“

Auszug aus dem Bericht des Wirtschaftsministeriums MV

Noch einmal: Das Wirtschaftsministerium schreibt, die Pipeline sei sicher und es sei nicht nötig, Gas zu reduzieren, um Havarien zu vermeiden. „Es kann jedoch als wünschenswert angesehen werden, den Gasdruck zu reduzieren, um an das enthaltene Erdgas heranzukommen.“ Woraufhin ein technischer Vorschlag folgt, wie die Umleitung in eine europäische Pipeline „ohne Kooperation durch die russische Seite“ vollzogen werden könnte. Wo genau hier durch einen „Zusammenhang“ Interpretationsspielraum offen sein soll, bleibt nach der Antwort des Ministeriums unklar. Unter den Adressaten der Korrespondenz sind hochrangige Mitarbeiter.

Man darf Schwesigs Staatskanzlei die Vernunft unterstellen, einen solch bizarren Vorschlag nicht als ernstzunehmende Option in Erwägung zu ziehen. Das Erschreckende ist aber die Nonchalance, mit der in einer Landesregierung signalisiert wird, dass man für einen Völkerrechtsbruch mit ungeahnten geopolitischen Folgen bereitsteht.

Transparenzhinweis: Volker Boehme-Neßler schreibt als Gastautor für Cicero.

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