Nato-Gipfel in Litauen - Kalter Krieg 2.0

Auch wenn eine formale Mitgliedschaft wohl nicht auf der Tagesordnung des morgen beginnenden Nato-Gipfels steht, wird es wohl zu einer engeren Anbindung der Ukraine an das Bündnis kommen. Wenn nicht gleichzeitig ausgelotet wird, wie auch Russland in eine künftige Sicherheitsarchitektur eingebunden werden kann, dürfte das nicht im europäischen Interesse liegen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (l.) und Litauens Präsident Gitanas Nauseda auf einer Pressekonferenz vor Beginn des Gipfels / dpa
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Viele Erwartungen richten sich in dieser Woche auf den Nato-Gipfel am 11. und 12. Juli in Wilna. Neben der Frage, welche Rolle die Nato im Indo-Pazifik spielt, insbesondere im Hinblick auf die wachsenden Spannungen mit China, werden vor allem Themen im Vordergrund stehen, die im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine stehen. Neben der weiteren Unterstützung der Ukraine werden die absehbare Selbstverpflichtung zur Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels (Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP), die Stärkung der Ostflanke der Nato wie auch die Aufnahme Schwedens in das Bündnis breiten Raum einnehmen. Von besonderem Interesse aber wird das Thema eines Nato-Beitritts der Ukraine sein.

Schon seit Wochen drängt die Ukraine darauf, dass der bevorstehende Nato-Gipfel nicht nur die unbestimmte Formel von 2008 wiederholt, derzufolge die Ukraine Mitglied werden solle, sondern deutlich darüber hinausgegangen und gegebenenfalls ein Zeitplan hierfür bzw. Sicherheitsgarantien bis zur offiziellen Zuerkennung der Mitgliedschaft beschlossen werden. Und Präsident Selenskyj hat den Druck noch dadurch erhöht, dass er als Bedingung für seine Gipfelteilnahme formuliert hat, dass die Entscheidungen dort getroffen werden müssten und nicht vorher. Dies lässt erwarten, dass um die Passage zur Ukraine im Abschlusskommuniqué während des Gipfels gerungen und sie möglicherweise erst dort im engen Kreise der Chefs finalisiert wird.

In den deutschen Diskussionen wird schon gar nicht mehr über die Frage des Ob einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gesprochen. Diese scheint bereits festzustehen. Merkel und Sarkozy versuchten sie noch durch einen Formelkompromiss 2008 beim Bukarester Nato-Gipfel zu verhindern oder zumindest auf die lange Bank zu schieben. Dieser untaugliche Kompromiss blockierte zwar den Beginn des konkreten Prozesses der Aufnahme (Membership Action Plan), auf den George W. Bush nachhaltig drängte, eröffnete aber dennoch die Perspektive der Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine und Georgien. Merkel und Sarkozy sahen in der Erweiterung der Nato um diese beiden Länder eine gefährliche Provokation für Russland. Sie lagen damit richtig. Putin kritisierte diesen Schritt heftig noch auf dem Gipfel, an dem er als Gast teilnahm, und erklärte, dass Russland das Vorrücken der Nato bis an die russischen Grenzen als unmittelbare Bedrohung seiner Sicherheit sehe und die russische Sicherheit nicht auf Versprechungen beruhen könne, dass eine solche Bedrohung nicht gegeben sei.

Durch einen Beitritt zum jetzigen Zeitpunkt würde die Nato zur Kriegspartei

Auch die Bedingungen für die Aufnahme neuer Mitglieder, wie sie in Artikel 10 des Nordatlantikvertrags (Förderung der Grundsätze des Vertrags, Beitrag zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets) und im Nato-Bericht zur Erweiterung von 1995 (u.a. Lösung von territorialen Streitigkeiten als Faktor) formuliert sind, sind bedauerlicherweise nicht mehr Gegenstand der Diskussion in Deutschland. Vielmehr schießen empörungsgeleitet teilweise abstruse Vorschläge ins Kraut. So wird beispielsweise ein Beitritt noch während des Krieges gefordert, was natürlich die Nato dann automatisch zur Kriegspartei machen würde, oder aber die nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gegebene Sicherheitsgarantie untergraben und massiv entwerten würde.

Auch die Aufnahme des nicht besetzten Teils der Ukraine (ohne Verpflichtung der Nato-Teilnahme bei der Befreiung besetzter Gebiete) ist inakzeptabel, können sich doch die Konfliktlinien auch nach einem prekären Waffenstillstand jederzeit verändern, was dann doch wieder die Nato direkt in den Krieg hineinziehen würde. Und auch der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland ohne die DDR zur Nato 1955 ergibt keinen auch nur entfernt relevanten Vergleichsfall: Beide verfügten bereits 1949 über die stark voneinder geschiedene Staatlichkeit, die roten Linien zwischen Nato und Warschauer Pakt standen fest und wurden von beiden Seiten unzweideutig respektiert. Zudem war sich Bundeskanzler Adenauer sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sein entschlossener Weg in die Westintegration auf jeden Fall eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten für lange Zeit ausschließen musste.

 

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Entgegen dem Drängen gerade auch aus einigen mittelosteuropäischen Staaten wird es vermutlich keine formelle Einladung an die Ukraine zur Mitgliedschaft sowie konkretere Festlegungen zu dem Weg dorthin bzw. Sicherheitsgarantien geben. Ein Interview, das US-Präsident Joe Biden gestern vor seiner Abreise nach Europa gab, lässt hierzu aufhorchen. Er erklärte, dass ein Beitritt verfrüht sei, solange der Krieg andauere. Sonst würde die Nato zur Kriegspartei. Zudem sei die Ukraine noch nicht bereit zu einem Beitritt. Er verwies hierzu auf noch erforderliche Fortschritte bei der Demokratisierung.

Diese Haltung dürfte der Bundesregierung gelegen kommen, aber bei einigen Heißspornen Enttäuschung auslösen, zumal auch die für die Zeit nach einem Ende des Krieges von Biden in Aussicht gestellten militärischen Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine bis zu deren Nato-Mitgliedschaft offenbar unterhalb einer regulären Sicherheitsgarantie bleiben. Was neben substantiellen Waffenlieferungen jedoch der Ukraine beim Gipfel geboten werden dürfte, ist die weitere Heranführung an die Nato u.a. auch durch die Einrichtung eines Nato-Ukraine-Rates, durch den die Ukraine gleichberechtigten Zugang zu nahezu allen Nato-Gremien erhielte.

Was, wenn das Sondervermögen bald ausgegeben ist?

Selbst wenn jetzt die Nato auf ihrem Gipfel mit Umsicht die Frage der Mitgliedschaft der Ukraine angeht: Die Nato und vor allem ihre europäischen Mitglieder müssen sich auf ungemütlichere Zeiten, einen neuen Kalten Krieg 2.0 einstellen. Und sollte die Ukraine nach einem Krieg Mitglied der Nato werden, so werden die anderen Mitglieder auch zumindest zunächst weiterhin notwendige Ressourcen zur Verteidigung der Ukraine aufbringen müssen. Dabei werden sie nicht davon ausgehen können, dass die USA auch künftig – schon gar nicht im Falle, dass ein Bewerber der republikanischen Partei die nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnt – den Großteil der militärischen Unterstützung für die Ukraine leisten werden. Hier sind dann die europäischen Bündnispartner besonders gefordert.

Ein wie auch immer vom bevorstehenden Gipfel geforderter oder festgelegter Mindestanteil der Verteidigungsausgaben am BIP bietet keine Gewähr dafür, dass die europäischen Staaten in der Lage sein werden, die bestehenden Ausrüstungs- und Fähigkeitslücken hinreichend zu beseitigen, um eine glaubwürdige militärische Abschreckung zu gewährleisten und gegebenenfalls auch die Ukraine zu unterstützen. Und die jüngsten Haushaltsbeschlüsse der Bundesregierung geben hier nur wenig Zuversicht. Die Erhöhung des Verteidigungsetats um 1,7 Milliarden Euro im nächsten Jahr reicht gerade einmal, um vielleicht die gestiegenen Personalkosten zu decken; um einen Zwei-Prozent-Anteil am BIP zu erreichen – in diesem Jahr dürfte er mit weniger als 1,6% deutlich darunter liegen –, müsste man mit entsprechenden Ausgaben aus dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen rechnen. Was ist aber, wenn das Sondervermögen bald ausgegeben sein wird?

Und dann wäre natürlich auch noch über das Erfordernis einer echten gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU zu sprechen – nicht nur um die Effektivität der von den einzelnen Staaten eingesetzten Mittel zur Verteidigung zu erhöhen. Es geht auch um das Ziel, dass sich Europa bei der weiter sich herausbildenden neuen Welt(un)ordnung im Konzert der Mächte zu behaupten vermag. Das Erfordernis ist von Macron immer wieder genannt worden: die Schaffung einer strategischen Autonomie für die EU.

Wir brauchen einen Neuansatz in der Diplomatie

Aber es wäre auch vollkommen verfehlt, nur militärisch zu denken. Wir brauchen auch einen Neuansatz in der Diplomatie. Die Nato-Erweiterungen wurden zumindest nach Amtsantritt von George W. Bush 2001 ohne jegliche Abfederung in Form von militärischen Zurückhaltungsverpflichtungen gegenüber Russland vorgenommen. Bush tat dies in der irrigen Annahme, dass das Ende des Kalten Kriegs den Beginn eines „unipolaren Moments“ für die USA markierte, in dem die USA allein, ohne Rücksichtnahmen und auf der Basis einer umfassenden militärischen Überlegenheit die Weltgeschicke regeln konnte.

Das zentrale Versäumnis der Nato in der Zeit war, dass man Russland nicht in die europäische Sicherheitsarchitektur integrieren konnte und es stattdessen ausgegrenzt wurde. Wenn jetzt eine weitere Nato-Erweiterung um die Ukraine auf der Tagesordnung steht, so sollte man trotz allem auf Russland zugehen und zumindest ausloten, wie man es stärker einbeziehen und dem Land einen gesicherten Platz in Europa anbieten kann. Ob das erfolgreich sein wird, ist offen. Die Stimmung steht zudem in Europa aktuell allein auf Konfrontation und Ausgrenzung Russlands. Allerdings – auch das ist eine Lehre, die aus dem vergangenen Kalten Krieg zu ziehen ist – kann ein ausgegrenztes, gedemütigtes und möglicherweise auf Revanche sinnendes Russland nicht in unserem Interesse sein.

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