Naher Osten - Wohin mit den Palästinensern?

Nach der aktuellen Eskalation ist es gut möglich, dass die Regime und die Bevölkerung im Nahen Osten künftige Konflikte vermeiden und sich stattdessen auf Wirtschaftsfragen konzentrieren werden. Zur Debatte steht auch wieder, wie es mit den Bewohnern des Gazastreifens weitergeht.

Süden der Sinai-Halbinsel / dpa
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Autoreninfo

Kamran Bokhari ist Experte für den Mittleren Osten an der Universität von Ottawa und Analyst für den amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Die Grausamkeit des laufenden Krieges zwischen Israel und der Hamas wird dem Nahen Osten eine neue Gestalt verleihen. Seine Brutalität erinnert an die letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, die Deutschland und Japan von kriegführenden Staaten in demokratische Länder verwandelten, die sich für den weltweiten Frieden einsetzten. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Demokratie im gesamten Nahen Osten durchsetzen kann, aber es ist sehr gut möglich, dass die Regime und die Bevölkerung der Region in Zukunft Konflikte vermeiden und sich stattdessen auf interne wirtschaftliche Fragen konzentrieren werden.

Der Krieg im Gazastreifen wird die palästinensische Frage neu stellen und die israelfeindliche Rolle der politischen islamischen Bewegungen wie Hamas und Hisbollah beenden. Er wird auch die Annexion des Westjordanlandes durch Israel einleiten. Letzte Woche erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, seine Regierung werde darauf hinarbeiten, das Westjordanland in einen integralen Bestandteil Israels zu verwandeln, und kündigte einen Ausschuss an, der die volle israelische Souveränität über das Gebiet durchsetzen soll. 

Netanjahu machte keinen Hehl aus seiner Absicht, den Gazastreifen nach Beendigung des Krieges mit der Hamas zu behalten. Auf die Äußerungen von US-Präsident Joe Biden, dass der Gazastreifen schließlich Teil der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland sein sollte, sagte er, die israelische Armee sei nicht in den Gazastreifen eingedrungen, um ihn der Autonomiebehörde zu übergeben. 

Wiederansiedlung palästinensischer Flüchtlinge

In der Zwischenzeit sind die Reaktionen anderer regionaler Regierungen auf den Krieg nicht über die Forderung nach Hilfe und humanitärer Unterstützung hinausgegangen. Diese Bedingungen deuten darauf hin, dass Israel versuchen könnte, einen jahrzehntealten Vorschlag wieder aufleben zu lassen, die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens in den nördlichen Sinai zu drängen.

Vor der Gründung des Staates Israel hatte der Gazastreifen eine Bevölkerung von 80.000 Menschen und eine Fläche von nur 360 Quadratkilometern. Nach der Gründung Israels zogen jedoch rund 160.000 Flüchtlinge dorthin. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens mit Israel im Jahr 1949 wurde der Gazastreifen von Ägypten verwaltet, doch die wachsende Bevölkerung – heute über 2,2 Millionen Menschen – und das häufige Eindringen von Flüchtlingen nach Israel, die versuchten, Hab und Gut aus ihren Dörfern zurückzuholen, stellten eine Sicherheitsbedrohung für den entstehenden jüdischen Staat dar. 

Die USA spielten eine entscheidende Rolle bei der Wiederansiedlung palästinensischer Flüchtlinge durch die UN-Resolution 194, die von der Generalversammlung im Dezember 1948 verabschiedet wurde. Die Resolution gab den Flüchtlingen das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl die Einrichtung des Hilfswerks der Vereinten Nationen (United Nations Relief and Work Agency, UNRWA) darauf abzielte, sie in die Gesellschaften der arabischen Länder, die an die palästinensischen Gebiete angrenzten, zu integrieren.

Kauf der Sinai-Halbinsel

Die Idee, Palästinenser auf dem Sinai anzusiedeln, ist seither immer wieder aufgegriffen worden. Im Jahr 1950 lehnte Ägyptens König Farouk ein Angebot der USA ab, die Sinai-Halbinsel zu kaufen, um dort palästinensische Flüchtlinge anzusiedeln, die nach dem Krieg von 1948 aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Präsident Gamal Abdel Nasser erwog die Umsiedlung von etwa 60.000 Gazanern in den nördlichen Sinai. 

Seine Regierung arbeitete von 1953 bis 1955 mit der UNRWA zusammen, um das Projekt zu verwirklichen, doch wurde es von den Palästinensern in Gaza durch einen Aufstand, die so genannte März-Intifada, vereitelt. Nach einem israelischen Angriff auf den Gazastreifen, bei dem Dutzende ägyptischer Soldaten getötet wurden, gab Nasser den Plan auf und wandte sich für die Beschaffung von Waffen an die Sowjetunion.

Eine dauerhafte Lösung

Der dicht besiedelte Gazastreifen ist für Israel seit der Besetzung zu Beginn des Sechstagekriegs 1967 ein ständiger Anlass zur Sorge. Damals wies der britische Botschafter in Israel darauf hin, dass nach israelischer Auffassung eine dauerhafte Lösung der Gaza-Frage die Umsiedlung eines Teils der Bevölkerung außerhalb der Grenzen des Waffenstillstandsabkommens von 1949 beinhalten müsse. 

Er betonte, dass die neue israelische Politik auch die Ansiedlung von Palästinensern im Nordsinai umfasse und dass sich die israelische Regierung keine Sorgen über die internationale Kritik an ihrer Strategie mache, da ihre Priorität darin bestehe, eine dauerhafte Lösung für das Problem zu finden. So schlug ein einflussreicher Plan des israelischen Politikers Yigal Allon vor, Palästinenser auf dem Sinai anzusiedeln, nachdem dieser nach dem Krieg von 1967 von Israel eingenommen worden war.
 

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Israels Sicherheitsprobleme im Gazastreifen hielten bis in die 1970er Jahre an, und es kam wiederholt zu Operationen gegen die israelischen Streitkräfte. Die israelische Regierung beschloss, Tausende von Palästinensern zwangsweise in die Stadt el-Arish an der Nordküste der Sinai-Halbinsel umzusiedeln. Der israelische Verteidigungs- und Außenminister Schimon Peres erklärte, es sei an der Zeit, dass die Regierung ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Lage im Gazastreifen und nicht auf die im Westjordanland richte. 

Ihr erster Schritt bestand darin, die Bevölkerung des Gazastreifens, die 1967 auf 350.000 Menschen angewachsen war, um etwa ein Drittel zu reduzieren. Im Jahr 2000 schlug der israelische General Giora Eiland, Leiter der Planungsabteilung der israelischen Armee und Direktor des Nationalen Sicherheitsrates, vor, die Bewohner des Gazastreifens im nördlichen Sinai unterzubringen. Der Plan umfasste den Bau eines Flughafens, eines Hafens und einer Stadt, die eine Million Menschen aufnehmen könnte.

Im Jahr 2010 erklärte der ehemalige ägyptische Präsident Hosni Mubarak, er habe ein Angebot Netanjahus abgelehnt, einen Teil des israelischen Territoriums in der Negev-Wüste abzutreten, um im Gegenzug Palästinenser aus dem Gazastreifen in den nördlichen Sinai umzusiedeln. Im Jahr 2013 schlug der Geografie-Professor Joshua Ben-Arieh einen Plan vor, den Gazastreifen bis an den Rand der ägyptischen Stadt el-Arish nach Rafah und Sheikh Zuweid zu erweitern. 

Mit Wissen und Zustimmung der Hamas

Es gibt auch Hinweise darauf, dass der ehemalige ägyptische Präsident Mohammed Mursi eine Vereinbarung mit der Hamas getroffen hatte, die es den Palästinensern erlaubt, in den nördlichen Sinai zu ziehen. Das Sinai-Entwicklungsprojekt hätte es arabischen Staatsangehörigen ermöglicht, in Ägypten Eigentum zu erwerben, wurde jedoch nach dem Sturz Mursis im Jahr 2013 abgebrochen. Im Jahr 2018 enthüllte der palästinensische Präsident Mahmud Abbas, dass er ein Angebot von Mursi abgelehnt hatte, ein Stück des Sinai zu erhalten, um dort Palästinenser anzusiedeln, und zwar mit Wissen und Zustimmung der Hamas. 

Israelischen Informationen zufolge hielten Ägypten, Israel und Jordanien im Februar 2016 in der jordanischen Stadt Akaba ein geheimes Gipfeltreffen ab, an dem auch US-Außenminister John Kerry teilnahm. Israelische Quellen behaupten, der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi habe ein Angebot zur Ansiedlung von Palästinensern im Sinai zwischen Rafah und el-Arish gemacht. Netanjahu bestritt zwar, dass Ägypten einen solchen Vorschlag gemacht habe, räumte aber ein, dass die Konferenz stattgefunden hatte, während die Ägypter eine Diskussion darüber gänzlich vermieden.

Palästinenser auf dem Sinai

Während des aktuellen Krieges ist die Idee, die Bewohner des Gazastreifens in den nördlichen Sinai umzusiedeln, wieder aufgekommen. Nachdem Netanjahu die Bewohner vor einem schweren Bombardement dazu aufgefordert hatte, den Streifen zu verlassen, fragte der palästinensische Botschafter in Frankreich, wohin sie gehen sollten. Der oberste Sprecher der israelischen Armee (IDF) erklärte, der Grenzübergang Rafah sei nach wie vor geöffnet, und riet allen, die die Möglichkeit hätten, den Streifen zu verlassen, dies auch zu tun. 

Der israelische Schriftsteller Eddie Cohen schlug vor, die Palästinenser auf dem Sinai anzusiedeln, um ihnen im Gegenzug die ägyptischen Auslandsschulden zu erlassen. Er glaubte, dass Ägypten diese Idee aufgrund seiner ernsten wirtschaftlichen Probleme und der Wahrscheinlichkeit, dass die USA stillschweigend zustimmen, nicht ablehnen würde. Außerdem wies er darauf hin, dass selbst die europäischen Länder nicht in der Lage waren, Tausende von syrischen Flüchtlingen davon abzuhalten, ihre Grenzen zu überqueren, und dass die Ägypter wahrscheinlich das gleiche Schicksal mit den palästinensischen Flüchtlingen erleben werden.

Kairo hat öffentlich jegliche Vorschläge zur Umsiedlung von Gaza-Bewohnern in den Sinai abgelehnt – obwohl regierungsnahe Medien (fälschlicherweise) behauptet haben, Ägypten habe Palästinenser immer als Besucher willkommen geheißen. Ägyptens Ablehnung der Idee erhöht die Obergrenze für Verhandlungen, um größere finanzielle Gegenleistungen von westlichen Ländern zu erhalten.

Zwei Pläne für die Palästinenser

Eine Reihe von Faktoren könnte Hinweise darauf geben, ob Ägypten diese Position auch in Zukunft beibehalten wird. Dazu gehören vor allem die hervorragenden Beziehungen und die beispiellose Zusammenarbeit zwischen Israel und Ägypten während der Ära el-Sisi und seine entscheidende Rolle nach dem Hamas-Anschlag. Weitere Schlüsselfaktoren sind die instabile politische Lage Ägyptens, die eskalierende Wirtschaftskrise und der dringende Bedarf der Regierung an amerikanischer und westlicher Unterstützung in diesen und anderen Fragen.

Einige politische Beobachter behaupten auf der Grundlage von zwei Plänen, die von Netanjahu nahestehenden Quellen vorgeschlagen wurden, dass Israel beabsichtigt, die Bewohner des Gazastreifens zu deportieren. Der erste Plan stammt aus dem Misgav-Institut unter der Leitung von Meir Ben-Shabbat, der als Netanjahus Sekretär und Gesandter für Sondermissionen tätig war. Der zweite Plan stammt angeblich aus dem israelischen Geheimdienstministerium. 

Während der erste Plan vorschlug, die Bewohner des Gazastreifens in ägyptische Städte umzusiedeln, sah der zweite Plan vor, dass sie im Sinai verbleiben, mit der Option, einige von ihnen in westliche Länder aufzunehmen. Beide Pläne sehen jedoch vor, dass die Bewohner zunächst in den südlichen Teil des Streifens umgesiedelt werden, bis die schrecklichen Lebensbedingungen dort sie zwingen, in den nördlichen Sinai zu fliehen. Ägypten käme dann nicht umhin, den Grenzübergang Rafah zu öffnen und sie ins Land zu lassen.

„Achse des Widerstands“

Vor den Attacken vom 7. Oktober teilten auch die arabischen Länder den internationalen Konsens über die Beseitigung der Hamas und die Schaffung eines palästinensischen Staates im Gazastreifen und im nördlichen Sinai. Der Angriff der Hamas erleichterte jedoch die Entscheidung, einen umfassenden Krieg gegen sie zu führen.

Die westlichen Länder, Israel und die meisten arabischen Staaten sind zu dem Schluss gekommen, dass eine vollständige Normalisierung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen angesichts der Präsenz von Bewegungen, die vom Iran unterstützt werden und sich selbst als „Achse des Widerstands“ bezeichnen, sehr schwierig sein wird. Doch selbst der Iran distanziert sich inzwischen von der Hamas. 

Bei seinem jüngsten Treffen mit dem Hamas-Politbürochef Ismail Haniyeh sagte der Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei, die Palästinenser sollten aufhören zu fordern, dass der Iran in den Krieg eingreift, da dies nicht im Interesse des Irans sei. Der ehemalige iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif wurde von den von der Revolutionsgarde kontrollierten Medien angegriffen, nachdem er gesagt hatte, das iranische Volk lehne die Politik des Regimes in der Palästinafrage ab. Einige regierungstreue Zeitungen waren der Ansicht, dass seine Ehrlichkeit dem Image der Islamischen Republik als Verteidigerin der Widerstandsachse widerspreche.

Einen neuen Anstoß zur Lösung

Ein anderer iranischer Beamter erklärte, dass Teheran die richtige Entscheidung getroffen habe, sich nicht am Krieg zu beteiligen, und dass seine Entscheidung im besten Interesse der Palästinenser sei. Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian teilte außerdem mit, sein Land habe den Vereinigten Staaten mitgeteilt, dass es nicht willens sei, den Konflikt auszuweiten. 

Die Iraner hoffen, dass das Ende des Krieges einen neuen Anstoß zur Lösung des andauernden Streits über ihr Atomprogramm geben wird. Sie hoffen auch, dass sie angesichts ihrer starken Präsenz im Irak, in Syrien, im Jemen und im Libanon und der Schwäche der arabischen Staaten weiterhin eine wichtige Rolle in der Nachkriegsordnung des Nahen Ostens spielen werden. Sie sind sich jedoch der Tatsache bewusst, dass eine militärische Eskalation zwischen Israel und der Hisbollah – ohne einen total entfesselten Krieg – notwendig wäre, um den Übergang zu einer Ära der Nicht-Kriegsführung mit Israel zu schaffen.

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