Selenskyj-Berater Michailo Podoljak - „Die Ukraine wird mit ihrer Souveränität niemals Handel treiben“

Seit acht Monaten dauert der Krieg in der Ukraine an. Im Interview spricht Michailo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, über den Kriegsverlauf sowie die Unfähigkeit Russlands, eine vollwertige Demokratie zu werden, und stellt klare Forderungen an den Kreml, um mit Russland in Friedensverhandlungen treten zu können.

Ukrainische Soldaten an der Front / picture alliance, Libkos
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Autoreninfo

Dr. Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.

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Michailo Podoljak ist seit 2020 Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Herr Podoljak, wie ist die momentane Situation in Kiew und in der Ukraine insgesamt; insbesondere in Anbetracht der intensiven Angriffe Russlands auf zivile Objekte sowie zivile kritische Infrastruktur über die vergangenen zwei Wochen?

Russland feuert jeden Tag eine beträchtliche Anzahl von Marschflugkörpern und Kamikaze-Drohnen auf die Ukraine ab. Daher haben sich die Ukrainer über die vergangenen acht Monate daran gewöhnt, in einem Zustand ständiger Unruhe zu leben. Doch obwohl die Situation angespannt ist, bleibt sie dennoch unter Kontrolle. Am 10. Oktober führte Russland seinen massivsten Angriff auf die Ukraine seit Beginn der aktuellen Kriegsphase durch und feuerte mehr als 100 Marschflugkörper und Kamikaze-Drohnen ab. Moskau, das nicht ernsthaft in der Lage ist, den Krieg auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, terrorisiert weiterhin die Zivilbevölkerung und bombardiert unsere Städte, vor allem im Osten und Süden der Ukraine. Wir haben schon lange verstanden, dass wir einen Krieg dieser Intensität bis zum Ende durchstehen müssen.

Wie lange wird die aktuelle Phase des Krieges dauern?

Das ist eine gute Frage. Auch ich würde ich sehr gerne das genaue Datum des Kriegsendes erfahren. Doch ganz im Ernst gibt es drei Parameter, welche die Dauer dieses Krieges bestimmen. Erstens ist der vom Präsidenten der Ukraine vorgezeichnete Konsens zwischen der Gesellschaft und der Armee von grundlegender Bedeutung. Im Mittelpunkt dieses Konsenses steht die Überzeugung, dass dieser Krieg durch die Ukraine angemessen beendet werden muss. Dabei handelt es sich nicht um einen vorübergehenden Waffenstillstand oder eine neue Kontaktlinie. Der Krieg kann nur mit der vollständigen Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine von 1991 zu Ende gehen.

Zweitens bleibt der Umfang der Militärhilfen, die uns die Partnerländer, darunter auch Deutschland, zur Verfügung stellen, entscheidend. Zunächst einmal brauchen wir Raketen mit einer bestimmten Reichweite, die es ermöglichen, die Logistik der russischen Armee zu zerschlagen und damit den Prozess der Zurückdrängung Russlands aus unserem Gebiet dramatisch zu beschleunigen. Und drittens bedarf es der Einsicht im Westen, dass Russland diesen Krieg nicht nur verlieren könnte, sondern auch verlieren muss.

Obwohl ich ständig mit unseren Partnern darüber spreche, ist es mir leider bislang nicht gelungen, sie davon zu überzeugen. Dies ist wahrscheinlich sogar der wichtigste Parameter. Denn nur eine militärische Niederlage Russlands wird den Transformationsprozess innerhalb der Russischen Föderation in Gang setzen und damit auch den erpresserischen Druck Russlands drastisch reduzieren. Denn der erpresserische Druck richtet sich sowohl gegen die Ukraine als auch gegen den Westen als Ganzes, vor allem gegen Europa. Sei es im Bereich der Energie, sei es im Bereich der Migration oder zum Beispiel in der Frage der Beeinflussung politischer Prozesse im Westen.

Dennoch, von welchem Zeitraum sprechen Sie?

Einige Monate. Es geht ganz definitiv nicht um Jahre. Umso wichtiger ist es, dass unsere Partner in Europa dies einsehen. Der Winter naht. Der kommende wahrhaft harte Winter wird entscheidend sein, denn wir haben gleich zwei Kriege angemessen zu Ende zu bringen. Der erste Krieg ist der heiße Krieg in der Ukraine, der zweite Krieg ist der Energiekrieg, den Russland seit langem vorbereitet hat und nunmehr gegen die Europäische Union führt.

Halten Sie es für möglich, dass nach einem Transformationsprozess in Russland eine noch aggressivere, radikalere Führung an die Macht kommen könnte, die bereit sein wird, Atomwaffen einzusetzen?

Nein. Lassen Sie uns dazu einen Blick auf die Psychologie der sozialgesellschaftlichen Entwicklungen in Russland werfen. Russland wird niemals eine vollwertige Demokratie aufbauen. Das ist wichtig zu verstehen. Zu meinem großen Bedauern gingen viele Länder in den 90er-Jahren euphorisch davon aus, dass es in Russland eine vollwertige Demokratie geben könnte. Das ist allerdings nicht der Fall. Russland wird stets eine schwache Demokratie mit mehr oder weniger stark ausgeprägten autoritären oder gar totalitären Elementen bleiben und das politische System der Vorherrschaft der einen oder anderen politischen Gruppe unterliegen. Daher sollte man dies eher gelassen nehmen. Wenn der Transformationsprozess in Russland zeitnahe beginnen sollte, werden für einen begrenzten Zeitraum tatsächlich radikale Elemente an die Macht gelangen.

Meinen Sie beispielsweise derartige radikale Vertreter der sogenannten „Partei des Krieges“ wie Jewgenij Prigoschin?

Ja, einer ihr prominenten Vertreter ist Jewgenij Prigoschin, welcher sich für die maximale Einbindung von Kriminellen im Krieg gegen die Ukraine einsetzt. Das ist ziemlich bezeichnend, denn Russland führt Kriege immerzu mit Massenarmeen. Auch setzt er in seiner paramilitärischen Organisation „Gruppe Wagner“ insbesondere Häftlinge ein, die wegen schwerwiegender Delikte inhaftiert sind, um den Kriegsgegner einzuschüchtern. Die Repräsentanten der sogenannten „Partei des Krieges“ könnten vorübergehend prominente Positionen im Rahmen des russischen politischen Systems einnehmen. Ich möchte damit nicht sagen, dass sie zur führenden Elitegruppe aufsteigen werden, doch könnten sie durchaus bestimmte Entscheidungspositionen besetzen.

Es gilt jedoch zu beachten, dass diese Personen nicht daran interessiert sind, ich möchte dies hervorheben, nicht daran interessiert sind, Russland zu vernichten. Denn sie sind dabei, Karriere zu machen. Sie wollen also nur ihre eigene Lebensqualität sowie ihren Lebensstandard verbessern und sonst nichts. Auch sind sie in Russland extrem unbeliebt, ich würde sie sogar als toxisch bezeichnen. Unter Wladimir Putin, welcher über die vergangenen Monate und Jahre immer stärker auf sogenannte ultrapatriotische Kräfte gesetzt hat, haben sie es dennoch geschafft, es zu einem gewissen Einfluss zu bringen.

Sie werden sicherlich eine sehr kurze Hochphase erleben, Ministerposten und dergleichen erhalten. Aber das wird alles sehr schnell vorübergehen, denn meiner Ansicht nach wird die Transformation Russlands wesentlich gemäßigtere, bedingt liberale politische Kräfte an die Macht bringen. Natürlich ist diese Gruppe heute zersplittert und strukturlos, aber sie wird dennoch eine Chance erhalten, an die Macht zu kommen. Schließlich konnten auch in den frühen 90er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, bedingt liberale gesellschaftliche Gruppen um die politische Macht konkurrieren.

Wäre es Ihnen möglich, diesen Punkt zu präzisieren? Eingangs sagten Sie, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich Russland in ein mehr oder weniger demokratisches Land mit liberalen Elementen verwandelt, äußerst gering sei.

Die Frage ist nicht, ob Russland jemals zu einer vollwertigen Demokratie werden kann. Doch die sogenannten russischen Systemliberalen, die aktuell nur einen recht begrenzten Einfluss auf die politischen Prozesse ausüben, könnten im Falle einer Destabilisierung des politischen Systems die Möglichkeit erhalten, politische Prozesse in Russland zu beeinflussen. Und zwar nicht nur einen gewissen Einfluss gewinnen, sondern auch die Regierung und die Organe repräsentativer Gewalt stellen. Das bedeutet nicht, dass Russland zu einer vollwertigen Demokratie aufsteigen wird. Es bedeutet aber, dass Russland sich von der chauvinistischen Form der Politik abwenden wird, die derzeit die Entourage von Wladimir Putin kennzeichnet.

Auf diese Weise wird Russland zu einem moderneren, verträglicheren Land. Was ich unseren europäischen Partnern gegenüber betonen möchte, ist das Folgende: Die heutige Entourage von Herrn Putin sowie Putin selbst sind vollkommen verhandlungsunfähig, denn hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen bewegen sie sich in einer völlig anderen Dimension. Die Werte werden für diese Menschen durch Gewalt bestimmt, das heißt: Wenn man in der einen oder anderen Form über Macht verfügt, dann hat man auch das Recht, über andere zu dominieren. Und damit verstoßen sie gegen die Grundlagen des modernen Völkerrechts und versuchen, zum längst überholten Konzept des Rechts des Stärkeren zurückzukehren. Diese Gruppe bestimmt aktuell die Geschicke der Russischen Föderation. Nichtsdestoweniger gibt es im heutigen Russland auch liberale Kräfte. Diese sind zwar auch keine Demokraten nach unserem Verständnis, sie sind jedoch erheblich verhandlungsbereiter.

Doch was wird aus Wladimir Putin? Schließlich wird er seine Macht nicht freiwillig aufgeben.

Heute wird Herr Putin allmählich aus dem politischen Feld verdrängt. Selbst für den nationalistischen Teil der Bevölkerung der Russischen Föderation ist er keine unangefochtene Leitfigur mehr. Gegen Ende des Krieges werden Vertreter ultranationalistischer Gruppen die Führungsriege rund um Putin bestimmen und Ämter für sich beanspruchen. Doch sobald Russland den Krieg zu verlieren beginnt, nämlich zum Zeitpunkt, an dem die Ukraine ihre international anerkannten Staatsgrenzen erreicht, setzen in Russland Transformationsprozesse ein, ich würde sogar von Revolutionsprozessen sprechen, die zu einem Elitenwandel führen werden, auch zugunsten der sogenannten Systemliberalen.

Die russischen Machthaber behaupten unentwegt, dass die Wahrheit auf ihrer Seite stehe. In diesem Punkt gleichen sie Danila Bagrov, dem Hauptprotagonisten des populären Spielfilms Aleksej Balabanovs „Brat 2“ aus dem Jahr 2000. Danila Bagrov war ja auch der Überzeugung, dass die Macht in der Wahrheit liege. Derjenige, der die Wahrheit an seiner Seite habe, sei auch stärker. In Wirklichkeit jedoch zeigt die russische Führungsriege durch alle ihre Taten, dass für sie die wahre Macht ausschließlich im Geld liegt. Sie wähnen sich stark, weil sie alles und jeden kaufen können. Doch wenn man alles kaufen kann, warum sollte man dann in den Krieg ziehen?

Sie haben gerade eine sehr interessante Anmerkung gemacht. Das scheint tatsächlich äußerst paradox zu sein. Und das war viele Jahre lang der entscheidende Fehler der deutschen Führungselite. Die Deutschen dachten, wenn die russischen Machthaber in ihren eigenen Komfort investieren, wenn sie Immobilien im Westen kaufen und ein riesiges persönliches Vermögen anhäufen, dann liegt ihre Wahrheit im Geld begründet. Und dass Russlands Führung naheliegenderweise mit Hilfe des Geldes versuchen werde, sich loyalere Beziehungen zu anderen Ländern aufzubauen.

Die westlichen Eliten hatten also die Hoffnung, dass – wie die ukrainische Band Undervud einst sang – „die Kohle“ letzten Endes „das Böse niederringen“ werde?

Ganz genau. Leider hat sich ein Großteil Europas auf diese schlichte Philosophie eingelassen. Ein großer Teil der europäischen Staaten, darunter auch Deutschland, glaubte, dass Russland die Beziehungen durch Handel, durch ökonomische Einflussnahme, durch Joint Ventures, darunter auch im Rohstoffförderungsbereich, aufbauen werde. Schlimmstenfalls würde Moskau versuchen, Einfluss auf politische Meinungsbildungsprozesse im Westen zu erkaufen.

Bei einem großen Teil der westlichen Elite entstand so die Auffassung, dass dies zwar unerfreulich, letztlich jedoch kontrollierbar sei. Dass es jedenfalls möglich sein würde, zu verhandeln. Tatsächlich aber waren Russlands Eliten stets der Meinung, dass Geld auch ein Repressionsinstrument darstelle. Und so hörten sie irgendwann auf, zu verhandeln oder sich Zustimmung zu erkaufen, und gingen direkt zur direkten gewaltsamen Druckausübung über.

Ein recht bemerkenswertes russisches Phänomen.

Es ist ein sehr wichtiges russisches Phänomen. Leider wird dieses von vielen bei der Analyse der Russischen Föderation übersehen. Die gegenwärtigen russischen Machthaber betrachten Geld als ein wesentliches Element der Machtausübung. Wenn sie also viel Geld ausgeben, um beispielsweise Joint Ventures zu gründen, glauben sie automatisch, dass sie damit auch das Recht erkaufen, ihre Forderungen von einer Machtposition heraus zu diktieren. Und wenn ihre Partner damit nicht einverstanden sind, dann geht Moskau direkt zu Zwangsmaßnahmen über.

Und wie hat sich diese Besonderheit in der Frage der Repressionsmaßnahmen gegen die Ukraine ausgewirkt?

Russland dachte: „Wir werden militärische Gewalt anwenden, jeder wird sehr verängstigt sein und im Prinzip werden in ein oder zwei Tagen alle bereit sein, die Bedingungen der Russischen Föderation zu akzeptieren.“ Doch hat es nicht geklappt. Die Ukraine hat einfach eine andere Einstellung zu Russland. Für uns ist die russische Machtfülle im Grunde gleichgültig. Aus historischer Perspektive wissen wir, dass die Ukraine schon immer unabhängig werden wollte, sowohl in der zaristischen als auch in der sowjetischen Epoche. Dies gilt vor allem für die West- und die Zentralukraine.

Wir sind nicht Russland. Die russische Geschichte ist nicht ukrainische Geschichte. Russland hat ja die Ukraine überfallen, weil Moskau davon überzeugt war, dass alle sagen würden: „Sie sind stark, sie haben Geld. Kommen wir ihnen doch auf halbem Weg entgegen.“ Das war das Paradigma. Nun sieht sich Russland mit einem Phänomen konfrontiert, das Moskau nicht vertraut ist. In der Russischen Föderation selbst beginnt sich bereits die Einsicht durchzusetzen, dass ungeachtet der anfänglichen Furcht unmittelbar nach dem russischen Überfall, nach mittlerweile acht Monaten Krieg, niemand mehr Angst vor Russland zu haben scheint. Und dieses Gefühl ist für Russland ungewohnt.

Es stellt sich also heraus, dass Russlands gewohntes Weltbild angesichts der kognitiven Dissonanz ins Wanken geraten ist?

Der fundamentale Mythos, die grundlegende geistige Klammer, die alles zusammenhält, lautet in Russland: „Alle haben Angst vor uns. Obwohl wir in Armut leben, hat jeder Angst vor uns, denn wir sind – das große Russland.“ In Russland gibt es den Spruch „Wir können das wiederholen“ [gemeint ist der Sieg der Sowjetunion gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg; Anm. Red.]. Über viele Jahre behaupteten sehr viele in Russland, Berlin innerhalb von 48 Stunden mit Panzern erreichen zu können.

Nunmehr stellt sich heraus, dass Russland nicht nur außer Stande ist, Berlin innerhalb von 48 Stunden zu erreichen, sondern völlig unfähig, auch nur Kiew innerhalb von acht Monaten einzunehmen. Wir sind gerade Zeugen des Zusammenbruchs des zentralen russischen Mythos. Bislang war Russland der Überzeugung, die stärkste Macht der Welt zu sein; den USA ebenbürtig oder in mancher Hinsicht sogar stärker. Und jetzt verfällt Russland allmählich in Apathie und sucht gleichzeitig nach einer neuen Idee, die irgendwie die Existenz dieses nicht sehr starken, nicht sehr reichen, nicht sehr komfortablen Rohstofflieferanten rechtfertigen würde.

Sie sagen, dass in Russland demokratischere, liberalere Kräfte an die Macht kommen werden. Nehmen wir an, dass es so sein könnte. Aber wie wir wissen, entwickelt sich Russland nicht linear, sondern vielmehr zyklisch. Welche Schritte müssen von der Europäischen Union, vom Westen generell und von der Ukraine gesetzt werden, um einen erneuten Konflikt mit Russland in Zukunft zu verhindern?

Dies ist natürlich ein ziemlich tiefgreifendes Problem. Leider waren Europa und der Westen generell in den letzten 20 Jahren der Meinung, dass Russland ein Land mit großem Potenzial, großem Geld, einer starken Armee und einem bedeutenden militärisch-industriellen Komplex ist und dass man aus diesen Gründen Moskau entgegenkommen muss. Russland sollte in regionale Wirtschaftsstrukturen eingebunden sein. Russland sollte gehört werden. Russland sollte eine Stimme erhalten, die nicht der Bedeutung Russlands in der Weltwirtschaft entspricht. Es hieß, dies sei der einzige Weg, um potentielle Konflikte zu verhindern. Nochmal: Der Fehler lag nicht darin, Russland eine Stimme zu geben. Aber eine Stimme zu geben, ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Einfluss Russlands auf die Weltwirtschaft, Weltpolitik, globale soziale und kulturelle Beziehungen und so weiter. Mit anderen Worten: Russland erhielt weit mehr Rechte, als Moskau zustehen würden.

Die Distanzierung Russlands von Europa und dem Westen generell wird Moskau in Zukunft daran hindern, eine prorussische Schattenlobby aufzubauen. Denn über viele Jahre gab es sowohl im Umfeld westlicher Geschäftswelt als auch im Umfeld westlicher politischer Parteien jede Menge russisches Schattengeld. Es ist zu einem lukrativen Wirtschaftszweig geworden, an dem sehr viele Menschen beteiligt waren, noch nicht einmal aus ideologischen Gründen, sondern aus monetären. Sie wollten Geld verdienen. Wenn dieser Wirtschaftszweig beseitigt ist, wird sich Europa auf einen ungleich solideren Entwicklungspfad begeben können.

Und natürlich wird Russland für eine lange Zeit die Fähigkeit einbüßen, negative Phänomene zu generieren: Migrationswellen, Ernährungskrisen, Energiekonflikte. Und folglich wird Russland auch auf den asiatischen Märkten zu einem drittklassigen Akteur verkommen. Es gibt einfach keinen Grund, die Russische Föderation ständig als Leviathan darzustellen, als Ungeheuer von einem Land, das auf alles Einfluss nehmen kann, darf und soll. Es gibt einfach keinen Grund, mit der russischen Propaganda mitzuziehen. Aus diesem Grund ist es auch psychologisch äußerst wichtig, dass Russland diesen Krieg verliert. Die militärische Niederlage wird eine wichtige Komponente der russischen chauvinistischen Doktrin - nämlich das Vertrauen in die eigene Stärke - für eine sehr lange Zeit auslöschen. Russland wird die Furcht lernen.

Ende März schienen die Verhandlungen kurz vor der Zielgeraden zu stehen. Und Sie haben damals der russischen Tageszeitung Kommersant ein Interview gegeben. Darin sagten Sie, dass die Stimmung in den Verhandlungen durchaus konstruktiv sei, dass die Parteien im Prinzip bereit seien, einander zuzuhören.

Das war tatsächlich der Fall. Es gab einen konstruktiven Vorschlag von unserer Seite, in die Grenzen vom 23. Februar 2022 zurückzukehren. Russland hörte dies zwar nicht gerne, war jedoch bereit, darüber zu verhandeln. Allerdings betrachtete Moskau die Krim und Teile der Gebiete von Donezk und Luhansk immer noch als Sonderfälle, über die gesondert verhandelt werden musste.
 
Woran sind die Verhandlungen gescheitert?

Hierfür gibt es mehrere Gründe. Im März geschahen mehrere sehr wichtige Ereignisse, die zeigten, dass der Krieg in Wirklichkeit nicht ganz die Art von Krieg war, von der Russland selbst sprach. Im Februar und März gab es noch keine abgestimmte und umfassende Unterstützung der Ukraine durch den Westen. Zu jener Zeit versuchte die Ukraine, auf eigene Faust einen effizienten Krieg gegen Russland zu führen, ihre Grenzen zu schützen und sich angemessen zu verteidigen. Nachdem sich Russland jedoch zurückgezogen hatte, kehrten wir in die Region Kiew zurück, fanden Massengräber und sahen eine ganz klare genozidale Art der Kriegsführung seitens der Russischen Föderation. Russland wollte die Ukrainer als Nation auf diese Weise demütigen. Sie wollten unseren Staat als solchen demütigen. Sie wollten zeigen, dass sie alles ungestraft machen können: unmögliches Regelwerk gegenüber den Zivilisten in den besetzten Gebieten aufstellen, Menschen verspotten, foltern, vergewaltigen, töten.
 

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Dementsprechend wurde uns klar, dass all die Äußerungen Russlands im Rahmen des Verhandlungsprozesses über Entmilitarisierung, Entnazifizierung, die russische Sprache irrelevant waren. Dass Russland in Wirklichkeit gekommen war, um die Ukraine zu vernichten. Und dann wurde uns klar, dass Russland niemals aufhören würde. Dass es keine Kompromissmöglichkeit gibt und geben kann. Uns wurde klar, dass Russland keinen Waffenstillstand wollte, sondern lediglich eine operative Pause, um seine Vorgehen anzupassen, die Fehler im militärisch-industriellen Komplex zu korrigieren und die öffentliche Meinung in anderen Staaten, insbesondere in Europa, zu beeinflussen. Und nach einer Atempause wird die nächste Phase des Krieges unter ganz anderen Voraussetzungen folgen. Denn Russland wird nicht ruhen, ehe das Konzept der ukrainischen Staatlichkeit selbst ausgelöscht wurde. Heute könnten die Ukraine und Russland unterschiedlicher kaum sein. Von jedem Gesichtspunkt aus. Russland ist ein barbarischer Teil der Zivilisation. Es ist eine Zivilisation mit Lagermentalität, in der die menschliche Freiheit zum Wohle des Kollektivs, zum Wohle des Staates unterdrückt wird. Das haben wir ganz klar verstanden. Wir werden unsere Territorien nicht aufgeben.

Unser Präsident Wolodymyr Selenskyj hat unsere Zielsetzungen sehr klar formuliert. Während der Verhandlungen hatten wir an Russland nur eine einzige Forderung gestellt: den Abzug russischer Streitkräfte an die Grenzen vom 23. Februar 2022. Erst danach sollte der Verhandlungsprozess über den Status der besetzten Gebiete beginnen. Allerdings wollte Russland keineswegs seine Truppen zurückziehen. Russland wollte eine neue Kontaktlinie festlegen. Im Grunde genommen gab es keinen Raum für Kompromisse. Schließlich noch ein letzter Punkt: Leider vermögen unsere europäischen Partner Russland nicht zu verstehen. Sie glauben, dass Moskau ernstzunehmende Verhandlungen möchte. Aber das ist nicht der Fall. Solange Russland nicht am Verlieren ist, wird es lediglich einen Diktatfrieden anstreben. Und natürlich waren, sind und werden jedwede Art von Ultimaten für uns völlig inakzeptabel sein.

Ist die Ukraine bereit für die Wiederaufnahme des Verhandlungsprozesses?

Die Ukraine ist bereit für Verhandlungen, das steht fest. Der Krieg wird in jedem Fall mit Verhandlungen enden. Die Frage ist nur, wann und unter welchen Bedingungen? Wir sind uns vollends bewusst, dass wir uns nicht im Krieg mit der Russischen Föderation auf dem Territorium der Russischen Föderation befinden. Denn wir führen lediglich Operationen zur Befreiung unserer Territorien durch. Wir sind der Meinung, dass die Ukraine ihre Gebiete befreien muss, denn die Existenz einer russischen Enklave würde nur einen aufgeschobenen Krieg bedeuten.
 
Das von Ihnen Gesagte gilt auch für die im Jahr 2014 okkupierte ukrainische Halbinsel Krim, nicht wahr?

Richtig. Die gegenwärtige Phase des Krieges begann unter anderem, weil Moskau dadurch den Rechtsstatus der Krim festzulegen hoffte. Vereinfacht gesagt, griff Russland die Ukraine an, besetzte einen Teil der Gebiete und wollte dies auch noch rechtlich festschreiben. Für die Ukraine ist das inakzeptabel. Der gleichen Logik folgend beansprucht Moskau Teile der Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja für sich, und morgen könnten Russland die Regionen Charkiw und Dnipropetrowsk für sich beanspruchen und so weiter.

Mit diesem Krieg wollte Russland einseitig das Völkerrecht verletzen und in die Souveränität anderer Staaten nach Gutdünken eingreifen. Das ist für uns inakzeptabel. Es ist schlicht unmöglich, in dieser Frage eine Kompromisslösung zu finden. Ernstzunehmende Verhandlungen beginnen mit der Beseitigung der russischen kriminellen Enklaven auf dem gesamten Territorium der Ukraine, einschließlich der Krim. Dabei sind für die Ukraine sowohl das russische Territorium als auch die dort ablaufenden Prozesse nicht von Bedeutung.

Allem Anschein nach ist diese Frage für die Ukraine jedenfalls indirekt von Bedeutung.

Ja, indirekt ist diese Frage für uns natürlich von Bedeutung. Denn sollte es in Russland zu revolutionären Umwälzungen kommen, würde dies die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass deutlich adäquatere und modernere Politikertypen an die Macht kommen. Doch das ist es auch schon. Wir werden nicht über unsere international anerkannten Grenzen hinausgehen.

Welche weiteren Themen halten Sie im Verhandlungsprozess für wichtig?

Wir möchten die Tatsache des Krieges als solche festgeschrieben sehen. Das ermöglicht uns, von der russischen Seite Reparationszahlungen zu verlangen. Immerhin hat Russland in der Ukraine eine Vielzahl von Städten und Dörfern zerstört. Darüber hinaus hat Moskau eine ganze Reihe von Kollaborateuren auszuliefern, die für die Ausführung der Kriegsverbrechen hauptverantwortlich waren. Das ist es im Wesentlichen. Russland zog sich aus dem Verhandlungsprozess zurück, als es erkannte, dass die Ukraine nicht bereit war, dem russischen Ultimatum Folge zu leisten und für einen angeblichen Waffenstillstand Gebiete aufzugeben. Die Ukraine wird mit ihrer Souveränität niemals Handel treiben.

Was wird dieser Krieg für die Ukraine bedeuten und wie wird er die ukrainische Politik verändern? Welche wesentlichen Trends können Sie im Moment feststellen?

Die Trends sind eindeutig. Seit dem Ausbruch des Krieges hat die Ukraine eine viel größere internationale Subjektivität erlangt. Nach dem Krieg wird die Ukraine einen stärkeren Einfluss auf gesamteuropäische und globale Prozesse ausüben. Dies sind die wichtigsten Elemente. Die Ukraine wird die Transformation des globalen und insbesondere des europäischen Sicherheitssystems einleiten und zu einem wesentlichen Element der europäischen Sicherheitsarchitektur werden. Die Ukraine wird sich endlich von den Überresten des alten sowjetischen Staatsmodells befreien, mit zahlreichen über weitreichende Befugnisse verfügenden Bürokraten, der Staat wird dadurch kompakter und attraktiver für Investitionen sowie insgesamt für die Wirtschaft und die Unternehmen. Die Ukraine wird zu einem integralen Bestandteil der Europäischen Union, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch.

Wird die Ukraine der Nato beitreten?

Sobald die Nato ihre Transformationsphase durchlaufen hat, wird die Ukraine ein integraler Bestandteil der Nato werden. Einfach deshalb, weil außer der ukrainischen Armee keine westliche Armee Erfahrung in einem großen Krieg, einem systemischen Krieg mit großer Intensität hat. Und dementsprechend wird die ukrainische Armee ein äußerst wichtiges Element des gesamteuropäischen Sicherheitssystems bilden.

Wie werden die Beziehungen zu Russland aussehen?

Die Ukraine wird die Geschichte der Russischen Föderation als eines Landes, das man fürchten und auf dessen Meinung man achten muss, ein für alle Mal beenden. Leider hat Europa Russlands Ultimaten lange Zeit widerspruchslos nachgegeben. Lange Zeit ist Europa auf Moskaus direkte und indirekte Drohungen eingegangen. Die Ukraine wird Russland seinen wahren Status wiedergeben. Nämlich den Status eines aus wirtschaftlicher Sicht wenig bedeutenden rohstoffexportierenden Staates; eines Staates mit einer sehr schwachen Armee und einem rückständigen militärisch-industriellen Komplex. Damit wird die Fähigkeit Russlands, die europäische Politik zu beeinflussen, nachhaltig reduziert. Den Platz Russlands wird die Ukraine einnehmen. Kiew wird eine wesentlich wichtigere Rolle spielen, nicht nur in Osteuropa, sondern in ganz Europa.

Das Gespräch führte Alexander Dubowy.

 

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