Marina Henke über den Ukraine-Krieg - „Wir sind wahrscheinlich auf dem Weg in einen Guerillakrieg“

In der Ukraine ist derzeit kein Kriegsende in Sicht. Marina E. Henke, Professor of International Relations an der Hertie School und Direktorin des Centre for International Security, erklärt im Gespräch, warum sie nicht an eine zeitnahe Kompromisslösung glaubt, warum es gefährlich wäre, wenn die Nato direkt in den Konflikt eingreift, was Putin antreibt und es für Russland deshalb nur eine Richtung gibt: voraus.

Ein ukrainischer Soldat steht neben dem Seitenleitwerk eines russischen Su-34-Bombers in Charkiw / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Marina E. Henke ist Professorin für Internationale Politik an der Hertie School in Berlin und Direktorin des Centre for International Security. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen militärische Interventionen, Friedenssicherung und europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Frau Henke, seit zwei Wochen herrscht Krieg in der Ukraine. Eskalationsstufe folgt auf Eskalationsstufe, jüngst wurde sogar ein Kinderkrankenhaus von den Russen beschossen. Wo sehen Sie denn aktuell überhaupt noch Raum für einen Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine?

Gerade gar nicht. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Egal, was die Türken machen, die Israelis machen oder Gerhard Schröder oder sonst wer. Gerade gibt es dafür keine Möglichkeit, da beide Seiten derzeit noch nicht davon überzeugt sind, dass es nötig ist, einen Kompromiss einzugehen.

Wie könnte theoretisch Frieden einkehren? 

Es gibt drei verschiedene Szenarien, die man in der Ukraine mehr oder weniger erwarten kann. Das erste Szenario ist eine Kapitulation der Ukrainer, weil die Russen Kiew einnehmen, die Ukrainer das Elend der Bevölkerung nicht mehr länger ertragen können oder weil sie erkennen, dass sie mit ihren Möglichkeiten am Ende sind. Diese Kapitulation war wohl auch der Plan Putins, der derzeit aber nicht aufzugehen scheint. Deshalb würde ich ihn aber noch nicht abschreiben. Das zweite Szenario ist ein Putsch in Russland, weil die Oligarchen und der Sicherheitsapparat die Folgen der Sanktionen nicht mehr mittragen wollen. Das wäre das Idealszenario, weil eine neue Regierung in Russland die Truppen wahrscheinlich abziehen würde.

Und das dritte Szenario?

Das wäre eine Kompromisslösung, wenn beide Seiten einsehen, dass sie nicht mehr weiterkommen. Da sind wir aber noch nicht. Es gibt immer noch einen großen Kampfwillen unter den Ukrainern, aber auch Putin und die russische Armee wollen derzeit sicherlich nicht aufgeben. Nun wird viel über die russischen Verluste in der Ukraine gesprochen, darüber, dass Krieg so teuer ist. Aber man muss immer im Kopf behalten, dass Russland die viertgrößte Armee der Welt hat. Wir sprechen hier zum Beispiel von 12.500 Panzern. Selbst wenn davon 1000 beschossen werden, stellt das für Russland kein großes Problem dar. Es gibt noch reichlich Nachschub.

Wo liegen denn die größeren Vorteile? Bei Putin wegen seiner Militärmacht? Oder bei den Ukrainern durch die Unterstützung der Nato und den Kampfeswillen, den sie derzeit an den Tag legen?

Jeder Krieg ist vielschichtig. Was etwa die öffentliche Meinungsbildung betrifft, gewinnt eindeutig die Ukraine. Wir sehen viele Bilder von zerstörten russischen Panzern, von Flugzeugen und mehr. Da dringen die Russen mit ihren Social-Media-Aktivitäten nicht durch. Hinzu kommt, dass wir im Westen natürlich auch in gewisser Weise glauben wollen, dass die Ukrainer durchhalten werden. Aber man kann den Ukrainern Waffen liefern, wie man will, sie werden nicht an diese riesige russische Armee auf konventionelle Weise herankommen.

Mit welchen Konsequenzen?

Wir sind wahrscheinlich auf dem Weg in einen Guerillakrieg. Das kennt man aus Afghanistan etwa, oder aus dem Irak. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Die Amerikaner und die Nato wollten in diesen Konflikten nie aufs Ganze gehen. Da gibt es gewisse Normen, die nie überschritten wurden. Etwa, was den Einsatz chemischer Waffen oder das maximale Bombardement von  Zivilisten betrifft. Aber solche Normen scheinen die Russen nicht zu haben. Denken Sie an Aleppo oder Homs, wo die Russen gemeinsam mit der syrischen Regierung beschlossen haben: Komme, was wolle, wir zerstören diese Städte bis zum letzten Mann. Und wir können nicht ausschließen, dass Putin auch in der Ukraine eine solche Strategie einsetzen könnte. Da die Nato nicht direkt in der Ukraine eingreifen will, was die richtige Position ist, muss man damit rechnen, dass die Ukrainer in so einem Szenario keine Chance haben. Trotz ihres unglaublichen Kampfwillens, von dem ich wirklich beeindruckt bin.
 

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Realistisch betrachtet, hat Putin aber auch nichts davon, wenn er Städte wie Charkiw oder Kiew in Schutt und Asche legt. Er will die Ukraine doch an eine neue Sowjetunion anschließen, wenn man so will. Da macht es doch wenig Sinn, stattdessen einen Aschehaufen vor den eigenen Toren zu schaffen, oder?

Putin geht es um das Überleben seines Regimes. Was diesen Krieg betrifft, gibt es eine Komponente, die wirklich sehr irrational ist. Es gibt aber auch eine rationale Komponente für diesen Krieg. Wir haben immer wieder Diktatoren in der Weltgeschichte gesehen, die festgestellt haben, dass sie Schwierigkeiten haben zuhause, dass ihre Legitimität unter Druck steht. Eine Weise, Legitimität wieder aufzubauen, ist, ein Feindbild zu kreieren. Dadurch kann man alles, was im eigenen Land schlecht läuft, auf andere schieben, zum Beispiel auf den Westen. Dann ist der Westen nicht nur am schlechten Wirtschaftswachstum in Russland schuld, sondern auch an einem Oppositionellen wie Nawalny.

Zwischengefragt: Wann hat Putins Popularität denn zu bröckeln begonnen?

Man weiß, dass Putins Popularität und die seines Regimes in Russland seit Jahren abnimmt. Nach den Neunzigern, als absolutes Chaos in Russland war, hat Putin Stabilität gebracht und den Lebensstandard der Menschen gehoben. Aber dann haben sich Leute, vor allem die urbane Elite, gegen ihn gewandt und westliche Werte wie Demokratie und Mitspracherecht eingefordert. Putin hat in der Folge festgestellt, dass er sich nicht mehr auf die urbane russische Elite stützen kann, sondern auf die schweigende Mehrheit zielen muss, auf den kleinen Arbeiter und die Landbevölkerung. Putin hat herausgefunden, dass eine Art „Make Russia great again“ Motto bei diesen Schichten gut ankommt. Dazu gehört auch der Nationalismus und Militarismus. In der Folge hat er die Krim annektiert. Und mit dem Angriff auf die Ukraine ist es gerade so, dass Putin nicht an der Macht bleiben wird, wenn er seine Truppen wieder zurückzieht und eingesteht, dass der Angriff ein Fehler war. Für ihn gibt es nur eine Richtung: voraus. Das ist eine sehr egoistische Haltung, aber für ihn und seinen inneren Kreis ist das  eine logische Haltung.

Sollte es doch zu einem Kompromiss kommen können: Was wären denn realistische Angebote und Gegenangebote, auf die sich die Ukraine und Russland einigen könnten?

Das ist sehr schwierig. Gerade sagen die meisten Ukrainer, wir akzeptieren gar nichts. Warum sollten wir auch?!

Aber Selenskyj hat doch zumindest durchscheinen lassen, dass sich die Ukraine vorstellen könnte, unter gewissen Bedingungen eine Art Versicherung abzugeben, dass sie der Nato nicht beitreten werde, und Teile des Donbass den Russen zu überlassen.

Ja, aber es gibt dafür keine Garantie. Die Ukraine ist eine Demokratie. Selbst wenn die Ukraine in die Verfassung schreiben lässt, dass sie der Nato nie beitreten wird, kann das aus der Verfassung auch wieder gestrichen werden. Zum Beispiel, wenn in vier, fünf Jahren eine neue Regierung kommt. Deshalb ist die Frage, wann man kompromissbereit ist. Und das wird erst sein, wenn beide Seiten feststellen, dass sie in einer Sackgasse stecken. So enden die meisten Konflikte. Aber da sind wir noch nicht.

Wann wäre diese Sackgasse denn erreicht?

Das wird leider Gottes wohl erst dann sein, wenn das Leid und die Verluste unerträglich werden – auf beiden Seiten. Auf der ukrainischen Seite, wenn Russland, zum Beispiel, in der Tat versucht, Kiew so auszuräuchern wie Homs. Auf der russischen Seite, wenn viele Soldaten sterben oder massenweise desertieren 

Sehen Sie denn noch irgendeine Person, irgendein Land, das als Vermittler agieren könnte?

Das einzige Land, das ich mir vorstellen kann, ist China. Aber China hat kein Interesse an dieser Rolle.

Marina E. Henke / Hertie School

Die Sanktionen des Westens gegen Russland haben Sie angesprochen. Derzeit sind die Sanktionen unsere schärfste Waffe. Ist es richtig, nur indirekt in diesen Krieg einzugreifen?

Es wäre ungeheuer gefährlich, wenn die Nato aktiv in diesen Krieg eingreifen würde. Nicht, weil Russland dann bei uns einfallen würde, sondern weil Russland eine Atommacht ist. Und darin ist dieser Krieg anders als der Balkankrieg oder der Irakkrieg. Ich habe mir im Zuge meiner eigenen Forschung zu Nuklearwaffen zum Beispiel angesehen, welche Militärübungen die Russen regelmäßig abhalten. Denn daraus lässt sich ableiten, über welche Szenarien die Russen nachdenken. Im allerletzten Teil dieser Übungen werden am Ende oft kleinere, taktische Nuklearwaffen gezündet. Die Amerikaner machen das in ihren Übungen nicht. Das heißt, der Einsatz von Nuklearwaffen ist immerhin eine Option für das russische Militär. Und wenn sich Putin, zum Beispiel durch ein direktes Eingreifen der Nato, in die Ecke gedrängt fühlt, dann halte ich es zumindest für möglich, dass Putin dann eskalieren lässt. Das wäre erstmal, dass man eine kleine, taktische Nuklearwaffe in unbewohntem Raum zündet. Im Baltikum oder im Schwarzen Meer. Das sind Gefahren, die man nicht unterschätzen darf.

Aber wenn Putin wirklich so irre wäre und  bei einem Nato-Einmarsch in der Ukraine Nuklearwaffen zünden würde: Was macht uns denn dann so sicher, dass er sie nicht schon vorher zündet? Zum Beispiel, weil er in der Ukraine die Geduld verliert.

Putin ist sich schon auch klar, dass sich die Nato derzeit auf eine gewisse Weise zurückhält. Deshalb wurde die Kampfjet-Lieferung der Polen ja auch sofort zurückgerufen.

Fanden Sie die Entscheidung richtig?

Auf jeden Fall. Es ist unglaublich gefährlich in eine direkte Konfrontation mit Putin zu kommen. Jetzt könnten wir darüber diskutieren, was wirklich direkt ist, was noch indirekt – Stichwort Waffenlieferungen –, aber solange Putin versteht, dass die Nato sich zurückhält, wird auch er sich zurückhalten. Putin weiß, dass die Nato sehr mächtig ist. Das darf man in dieser Debatte auch nicht vergessen. Wenn es zu einem konventionellen Krieg käme, wäre die Nato viel stärker als Russland.

Aber auch nur wegen den USA, nicht wegen der Europäer.

Ja, deshalb reden wir auch von der Nato, nicht von den europäischen Streitkräften. Ich sehe für die nächsten zehn, 15 Jahre nicht, dass die Europäer ohne die Amerikaner wehrfähig wären. In Deutschland etwa können wir nicht innerhalb von fünf Jahren die Bundeswehr flott machen. Das sind hochkomplizierte Prozesse, sowohl bürokratisch als auch politisch, und ganz konkret, wie man Soldaten trainiert und schweres Gerät erwerben kann. Das kann man ja nicht einfach im Supermarkt kaufen. Das ist ein Prozess, der Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern wird. Immerhin sind die ersten Schritte getan.

Deutschland muss also aufrüsten?

Was heißt „Aufrüstung“? Wissen Sie, wenn 40 Prozent der Helikopter, die wir haben, nicht mehr fliegen, dann ist es keine Aufrüstung, sondern erstmal Reparatur. Beziehungsweise überhaupt erstmal Anschaffung. Der allerwichtigste erste Schritt ist, zu begreifen, dass es dafür eine Notwendigkeit gibt.

Was meinen Sie?

Ein großer Teil der deutschen Elite war bis vor drei Wochen überzeugt, dass es abseits der Interventionen in Ländern wie Mali oder Afghanistan keinen richtigen Krieg mehr geben wird. Dass es erstmal zu diesem Krieg in der Ukraine kommen musste, um zu erkennen, dass man mit Geld, mit internationalen Institutionen und Diplomatie nur bis zu einem gewissen Punkt kommt, ist tragisch. Man hat in Deutschland vergessen wollen, dass es immer noch Akteure in dieser Welt gibt, denen internationales Recht völlig egal ist. Man kann den Frieden lieben und dennoch der Realität ins Auge schauen: Kriege werden wahrscheinlich niemals völlig verschwinden, und deshalb muss man vorbereitet sein. 

Das Gespräch führte Ben Krischke.

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