1989 zogen die letzten sowjetischen Soldaten aus Afghanistan ab / dpa

Ukraine-Krieg - Putin hat aus Afghanistan nichts gelernt

Die Lehren des sowjetischen Debakels am Hindukusch in den Jahren von 1979 bis 1989 wurden ignoriert, als Putin sich entschied, die Ukraine anzugreifen. Der Moskauer Grundkonsens realistischer Einschätzung der eigenen Möglichkeiten scheint aufgegeben worden zu sein. Innerhalb der russischen Elite wächst die Unruhe.

Autoreninfo

Hans-Ulrich Seidt war deutscher Botschafter in Afghanistan (2006–2008) und in Südkorea (2009–2012). Er war von 2014 bis 2017 Chefinspekteur des Auswärtigen Amts und leitete von 2012 bis 2014 die Abteilung für Auswärtige Kulturpolitik und Kommunikation des AA in Berlin. Aktuell ist er Fellow des Liechtenstein Institute on Self-Determination der Princeton University und Stiftungsbeirat des Schweizer Afghanistan Instituts/Bibliotheca Afghanica.

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Am 27. Dezember 1979 stürmten sowjetische Sonderverbände den Taj-Bek-Palast in Kabul und töteten den afghanischen Staats- und Parteichef Hafizullah Amin, seine Angehörigen und engsten Mitarbeiter. Zur selben Zeit rückten reguläre sowjetische Streitkräfte in Afghanistan ein. Beide Aktionen verliefen aus operativer Sicht erfolgreich. Bis heute wird der erfolgreiche Einsatz der Sonderkräfte in der militärischen Erinnerungsliteratur Russlands mit Stolz beschrieben.

Aber bereits wenige Wochen nach dem Einmarsch in Afghanistan erwies sich die Intervention als politischer Kardinalfehler. Weltweit wurde die sowjetische Besetzung des blockfreien Landes als völkerrechtswidrige Invasion verurteilt. Am 14. Januar 1980 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, die den sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen verlangte. Nur 18 Staaten votierten dagegen. Dieses Abstimmungsergebnis bewertete im Februar 2014 Generalleutnant Wassilij Christoforow, Leiter des Archivs des russischen Geheimdienstes FSB und vorzüglicher Kenner Afghanistans, als ersten Hinweis auf die unabsehbaren Folgen des sowjetischen Einmarsches.

Mit Christoforow trafen sich am 4. Februar 2014 in Moskau weitere hochrangige Generäle und Experten zum Gedankenaustausch. Am runden Tisch versuchten sie, Lehren aus ihrem gemeinsamen Scheitern am Hindukusch zu ziehen. Die Lage in der Ukraine spitzte sich zu. Die Okkupation der Krim stand unmittelbar bevor. Unausgesprochen stand damals die Frage Lenins im Raum: Was tun?

1979 habe mit Blick auf die geopolitische Gesamtlage Handlungsbedarf bestanden

Ein jüngerer Vertreter der Akademie des FSB trug zur Ausgangslage und zu den Ursachen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan vor. Hochrangige Militärs hatten in der Vergangenheit die sowjetische Intervention heftig kritisiert und für den Zerfall der Sowjetunion mitverantwortlich gemacht. Nun betonte der Referent, es müsse zwischen dem Zeitpunkt der Entscheidung zum Einmarsch und der späteren Lageentwicklung unterschieden werden. Auch müsse die Frage, ob die Anfang Dezember 1979 vom Politbüro der KPdSU endgültig beschlossene Invasion gerechtfertigt gewesen sei, aus geopolitischer Perspektive bewertet werden.

Dann zitierte der FSB-Referent einen der prominentesten Teilnehmer der Gesprächsrunde, nämlich General Mahmut Garejew. Der ehemalige stellvertretende Generalstabschef der sowjetischen Streitkräfte und nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst Präsident der Akademie des Generalstabs war für seine scharfe Kritik der sowjetischen Afghanistanpolitik bekannt. Er hatte sie nicht nur an die Adresse des früheren Politbüros der KPdSU, sondern auch gegen die Spitzen des KGB gerichtet. Nun trug der Vertreter der Akademie des FSB Ausführungen Garejews vor, in denen der General einräumte, 1979 habe mit Blick auf die geopolitische Gesamtlage Entscheidungs- und Handlungsbedarf bestanden. Diese Bewertung Garejews dürfte trotz der fortdauernden Meinungsunterschiede zu Einzelfragen der Interventionsentscheidung den bis heute geltenden politisch-strategischen Grundkonsens der sicherheitspolitischen Elite Moskaus spiegeln.  

„Historisch war der sowjetische Staat mit seinen staatlichen Interessen an die Stelle des alten Russlands getreten. Und unabhängig davon, ob die Sowjetunion ein Imperium war oder nicht, existieren und wirken die objektiven Gesetze der Staatlichkeit und die geopolitischen Bedingtheiten großer Mächte. Die Sowjetunion konnte die Ereignisse in Afghanistan nicht unbeachtet lassen und musste in irgendeiner Weise reagieren.“

„Wir schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten ein“

Die Diskussion über die Lehrstunden am Hindukusch ist nur ein Beispiel dafür, wie intensiv und kontrovers die Debatte über die richtige Strategie und ihre operative Umsetzung im inneren Kreis der russischen Elite geführt wird. Bis zum Sommer 2021 konnte davon ausgegangen werden, dass die führenden Vertreter der russischen Streitkräfte, Nachrichtendienste und Diplomatie hinter den programmatischen Aussagen ihres Präsidenten vor der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2007 standen: „Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte, und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können. Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern.“ Die Berufung auf die mehr als tausendjährige Geschichte des Landes ist ein gern gehörter rhetorischer Topos. Entscheidend dürfte für die Elite Moskaus sein, ob ihr Präsident selbst in konkreten Entscheidungslagen den Vorgaben der Münchner Rede folgt: „Dabei sehen wir genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unsere Potenziale ein.“

Putins Befehl zum Angriff auf die Ukraine und der anschließende Operationsverlauf lassen darauf schließen, dass er den Moskauer Grundkonsens realistischer Lagebeurteilung verlassen hat. Wann ist dies geschehen? Bereits im Herbst 2021 hatten westliche Geheimdienste anlässlich des Manövers Zapad-21 einen Angriff russischer Truppen auf Kiew prophezeit. Vorausgegangen waren am 12. Juli 2021 die Veröffentlichung von Putins Text „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ und das Debakel der westlichen Afghanistanpolitik am 15. August 2021. In diesem Zeitraum müssen im russischen Generalstab die operativen Angriffsplanungen begonnen haben.

Die auf Zapad-21 und seinen Manöverbesuch auf dem Truppenübungsplatz Mulino folgende Entfaltung des militärischen Potenzials entlang der ukrainischen Grenze bot Putin die Option, einen Krieg gegen Kiew und die Ukraine zu führen. Aber hatte die Gesamtheit der russischen Führung den Willen dazu? Innerhalb des Generalstabs, des FSB und der russischen Diplomatie waren die sowjetischen Erfahrungen in Afghanistan lange und sorgfältig ausgewertet worden. Als eurasische Großmacht konnte Russland zwar sein überlegenes Potential gegenüber der Ukraine ohne Gefahr demonstrieren. Aber bedeutete dies auch die Bereitschaft, einen Angriffskrieg mit hohem Risiko zu führen? Bei Putin und seiner engsten Umgebung offensichtlich ja!

Keine gemeinsam durchdachte Interessenabwägung innerhalb der russischen Führung

Aber wie dachten und denken andere Angehörige der russischen Elite? Der militärisch-nachrichtendienstliche Bereich ist nur eine, wenn auch die zentrale Domäne ihres strategischen Potentials. Der zweite Bereich von existentieller Bedeutung ist die Wirtschaft. Die kommerzielle Ausbeutung der russischen Rohstoffbasis wird durch die militärischen Operationen in der Ukraine und die westlichen Sanktionen eingeschränkt und gefährdet. Putins Entscheidung zum Angriff lässt darauf schließen, dass es innerhalb der russischen Führung keine gemeinsam durchdachte, sorgfältig kalkulierte Interessenabwägung gab. Sie hätte vermutlich eine strategische Selbstbeschränkung, einen Verzicht auf den Angriffskrieg nahegelegt.

Bis heute werden die ukrainischen Großstädte Kiew, Charkiw, Odessa und Dnipro, die in Reichweite der russischen Streitkräfte liegen, von den Ukrainern gehalten. Selbst das exponierte Mariupol am Asowschen Meer wurde noch nicht genommen. Der russische Kräfteansatz erweist sich als zu schwach. Größere Geländegewinne sind ohne Luftangriffe, Bombardierungen und massiven Artilleriebeschuss kaum zu erwarten. Sie konterkarieren das von Putin formulierte politische Ziel, das „ukrainische Brudervolk“ für Moskau zu gewinnen. Ob die Fortsetzung und Intensivierung der russischen Angriffe bei gleichzeitiger Reduktion der ursprünglichen Operationsziele zu einem Waffenstillstand führen können, erscheint gegenwärtig fraglich.  
 
Putin, der die Lehren aus dem sowjetischen Debakel am Hindukusch ignorierte, steht mit dem Rücken zur Wand. Russland ist in der Ukraine militärisch nicht erfolgreich, politisch-diplomatisch weitgehend isoliert und ökonomisch durch die internationalen Sanktionen getroffen. Seine Streitkräfte kämpfen in einem Abnutzungskrieg. Der Reichtum russischer Oligarchen schmilzt fast wie Schnee in der Frühlingssonne. Auch das Eis, das bisher den politisch-strategischen Grundkonsens der russischen Reichselite trug, könnte im März 2022 aufbrechen.

Text abgeschlossen: 6. März 2022, 16.00

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Christoph Kuhlmann | Fr., 11. März 2022 - 17:25

3 zu 1 Verhältnis der Kräfte herzustellen, dass ein Angreifer angeblich braucht. Die Ukraine ist nicht Afghanistan und ich wäre vorsichtig mit jedweder Prognose wie Putin auf den schleppenden Vormarsch reagiert. Momentan gibt es Befürchtungen über den Einsatz von Chemiewaffen, angeblich wurden acht Generale ausgetauscht. Die KPDSU hat zehn Jahre gebraucht um den Fehler Afghanistan zu korrigieren. Verkrustete Strukturen, in denen kein Widerspruch möglich ist, sind weitgehend unfähig zu lernen und werden oft zum Opfer der eigenen Propaganda.

Martin Falter | Fr., 11. März 2022 - 17:41

Zu großkotzig und selbstgefällig hat Putin der Puter, alle Bemühungen auf Frieden ausgeschlagen.

Seine "Angebote" waren für niemanden annehmbar, da sie eine Selbstaufgabe bedeutet hätten.

Jetzt wartet auf den Puter, Scheitern und Tot oder Gefängnis.

Wir wollen hoffen, dass er bald damit in Berührung kommt.

Joachim Kopic | Fr., 11. März 2022 - 18:23

... und am Ende auch noch ne Familie ausgelöscht, obwohl man doch zuerst von einem "Terroristen-Chef" sprach - auch die ÖRlichen.
Mal gespannt, ob die uns auch wieder "richtig" informieren, wenn sich der neueste Verdacht bestätigen sollte: USA-Ukraine forschten an Bio-Waffen. Bestimmt nicht! Sowas macht nur Putin...

Der Gedanke aus Niedelagen und falschen Einschätzungen, gerade in Afghanistan, zu lernen dürfte aber nicht auf Putin beschränkt bleiben.
Da haben einige Länder auch sehr viel Nachholebedarf.
Auch was das Verbreiten von Informationen zu beiden Kriegs-Partein betrifft.

Ingo Frank | Fr., 11. März 2022 - 21:44

Was will uns das denn sagen? Wer hat sich denn nach den Russen unmittelbar danach ebenso blutige Nasen geholt? Ist denn die Aufgabe von Afghanistan so lange her? Die Bilder vom Abzug der USA und u.a. Deutschlands? H. M. als Außenminister? A k k als Verteidigungsminister? Die Bevölkerung die den Taliban zujubelte? Der Westen mit seiner in der gesamten Summe gescheiterten Politik! Die Soldaten der Bundeswehr die dort gefallen sind.? Wir, der Westen, der sich dünkt in Afghanistan s e i n politisches System überstülpen zu wollen, d e r hätte von Russland lernen können! Da wäre das Scheitern zu vermeiden gewesen oder anders gesagt man hätte von diesem Krieg die Finger lassen sollen. Vielen deutschen Familien wäre die Trauer um ihre Söhne u. Ehemännern erspart geblieben. Wer soll da von wem lernen?
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Ernst-Günther Konrad | Sa., 12. März 2022 - 08:06

Gibt es in Putins Generalität Whistleblower? Werden an sich geheime Protokoll inzwischen veröffentlicht? Man kann ja durchaus versuchen, die ein oder andere öffentlich gewordene Äußerung eines Militärs zu deuten, läuft aber Gefahr, dass es eine bewusste Falschinformation ist. Diesen Ukraine Krieg mit dem von Afghanistan zu vergleichen ist schon sehr sportlich. Land und Leute, topografische Gegebenheiten, kulturelle Hintergründe, der religiöse Hintergrund in Afghanistan, der Kampf gegen Clans und viele Einzelinteressen, die militärische Ausrüstung und Entschlossenheit der Kriegsparteien, die finanziellen Unterstützungen u.v.a. mehr sind doch bei beiden Ländern unterschiedlich. Kein Krieg ist in der Strategie 1:1 zu vergleichen. Das Einzige was immer gleicht ist das Elend, der Tod, die menschliche Entwürdigung, der Verlust von Heimat und Frieden. Überall lese ich, wie Putin angeblich tickt, denkt, handelt. Sämtliche Szenarien werden medienwirksam durchgespielt. Die Realität ist anders.

Annette Seliger | Sa., 12. März 2022 - 09:18

..... hat 10 Jahre gebraucht, um seinen Fehler in Afghanistan zu erkennen und der "Westen" 21 Jahre!
Noch zwei Wochen vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul schwadronierte unser damaliger Aussenminister dass die "Demokratie" in Afghanistan gefestigt und unumkehrbar sei.

Soweit zu unserem politischen Material, dass auch in der Causa Ukraine wieder ein Totalversagen abgeliefert hat.

Warum wurde es zugelassen, dass die Ukraine in ihre Verfassung den Beitritt zur NATO aufnimmt?

Blöder kann man sich wirklich nicht anstellen. Das war die maximale Provokation gegenüber den Russen und jetzt haben wir den Salat!