Lampedusa ist auch hier - Die Migrationskrise verlangt nach dem Ende der Illusionen

Acht Jahre nach „Wir schaffen das“ eskaliert die Migrationskrise erneut. Die ideologischen Fantasmen der Grenzenlosigkeit müssten endlich zugunsten der Vernunft der Begrenzung begraben werden. Andernfalls gerät die EU in existentielle Gefahr, und Deutschland vorneweg.

Migranten in Lampedusa im September / picture alliance
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Autoreninfo

Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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Die Migrationskrise eskaliert. Nicht nur in Lampedusa, wo nun täglich Tausende Migranten in schnell zusammengeschweißten Booten aus Nordafrika landen. Womöglich lässt es Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni durchaus genau darauf ankommen: auf eine gewisse Eskalation. Sie offenbart dem Rest von Europa, was es bedeutet, wenn ihr Land die Häfen offen hält.

Ihre Botschaft dürfte sein: Lasst uns endlich eine gemeinsame europäische Lösung finden, die dazu führt, dass deutlich weniger Migranten kommen. Sonst, so wird nun durch die dramatischen Bilder der völlig überlaufenen Insel unmissverständlich klar, wird Italien im eigenen Interesse Maßnahmen ergreifen müssen. In Melonis Regierung sitzt übrigens der frühere Innenminister Matteo Salvini, der mit den seinerzeit geschlossenen Häfen zum Lieblingsfeind auch deutscher linker Politiker und Migrationsaktivisten wurde.

Die Migrationskrise eskaliert aber auch ganz alltäglich in den nicht nur finanziell überforderten Kommunen Deutschlands. Sie eskaliert zum Beispiel allein an diesem Wochenende an einer Bushaltestelle in Lübeck, wo ein Streit mit herumgeschleuderten Mülleimern ausgetragen wird und zu mehreren Verletzten führt. In einem Schwimmbad in Köln, wo ein 13-jähriges Mädchen misshandelt wurde und mehrere Streifenwagen kommen mussten, um die Ordnung wieder herzustellen. Und in Stuttgart, wo zum wiederholten Mal der inner-eritreische Konflikt nun auf deutschem Boden mit Holzprügeln ausgetragen wird, die auch deutsche Polizisten zu spüren bekommen.

Die Versprechen von 2015 erfüllten sich nicht

Es ist nun ziemlich genau acht Jahre her, dass eine Bundesregierung und mit ihr die politisch-mediale Klasse sich selbst und das Land in eine Art Rausch der Migrationsoffenheit versetzte. Von der damaligen Kollektiv-Euphorie ist nichts übrig. Wie sollte es auch anders sein nach acht Jahren, in denen nichts von dem wahr wurde, was diejenigen versprachen, die versuchten, den Irrationalismus nachträglich als ökonomische Vernunft zu verkaufen? Man erinnere sich an das von Ökonomen wie Marcel Fratzscher und politiknahen Managern wie Daimler-Chef Dieter Zetsche versprochene Wirtschaftswunder. Stattdessen können selbst Medien, die bis heute viel tun, um die Schreckensmeldungen der alltäglich gewordenen Gewaltexzesse in den Nachrichtenspalten der Lokalblätter zu halten, nicht mehr verhindern, dass sich diese für die Deutschen (ob mit oder ohne Migrationshintergrund) immer weniger ignorieren lassen.

Und diese Krise eskaliert auch in den Köpfen. Das ist nicht verwunderlich, wenn sich die politische Klasse ganz offenkundig als unfähig oder unwillig zum Lernen aus den eigenen Fehlern erweist. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck hat jetzt ein erstaunliches Interview gegeben. Bezeichnend ist die Frage des öffentlich-rechtlichen Interviewers Theo Koll, ob man „beim Thema Migration bisher Undenkbares denken“ müsse. Vermutlich spielt er dabei auch auf das deutsche Asylrecht an. Und Gauck sagt „ja“.

Offenbarungseid deutscher Wirklichkeitsvergessenheit

Undenkbares denken! Was für ein Offenbarungseid deutscher Wirklichkeitsvergessenheit! Das heißt nichts anderes, als dass die Deutschen, jedenfalls die politisch-medial tonangebende Klasse, zu der der Fragende gehört, erst acht Jahre nach dem „Wir schaffen das“ ganz allmählich ihre Illusionen infrage stellt. Die deutliche Migrationsbegrenzung sei, so Gauck, „moralisch nicht verwerflich und politisch geboten“. Was für eine Erkenntnis!

Deutsche Politik und vor allem die Medienmeinung wird immer noch wesentlich geprägt von den Träumereien, aber auch handfesten materiellen Interessen eines No-Borders-No-Nations-NGO-Milieus, das sich das Verfolgen dieses Ziels der Grenzenlosigkeit mit allen Mitteln zum letztlich staats-, also steuerfinanzierten Beruf gemacht hat. Und das nicht wahrhaben will, dass No Borders und No Nations in letzter Konsequenz eben auch No Sozialstaat bedeutet, weil dieser nun mal nur in einer begrenzten Solidargemeinschaft funktionieren kann. Die absehbare Überforderung des deutschen Sozialstaats ist für jeden, der nicht aktiv die Augen davor schließt, längst offenkundig. Doch die Regierenden weiten die Leistungsversprechen sogar noch aus und erhöhen so noch die Attraktivität für Armutseinwanderer.

 

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In einem Land, wo buchstäblich an jeder Kneipentür, in jedem Supermarkt und in der Radiowerbung Arbeitgeber nach Mitarbeitern suchen, bedeutet es eine Perversion des Solidaritätsgedankens, wenn die Leistungen für Nicht-Arbeitende angehoben werden. Bürgergeld und Kindergrundsicherung sind keine solidarischen Wohltaten fürsorglicher Regierungspolitiker für Notleidende, sondern unverantwortbare Belastungen für diejenigen, die einen im internationalen Vergleich viel zu hohen Anteil ihres Arbeitseinkommens für Steuern und Abgaben aufwenden. Und vor allem: In Form der Staatsschulden sind sie eine unverantwortbare Last für künftige Steuerzahler, also die Kinder, um deren Grundsicherung es angeblich geht.

Dass ein solches hybrides System für jene, die ohnehin kaum Aussicht haben, je zu Steuerzahlern zu werden, besonders attraktiv, also im Wortsinne anziehend ist, liegt auf der Hand. Es ist kein Zufall, dass vor allem Armutseinwanderer nach Deutschland drängen und dass unter jenen, die hier ankommen, ganz offenkundig verhältnismäßig wenige sind, die die vielen offenen Jobs annehmen wollen oder können.

Eine radikale Wende der europäischen und vor allem der deutschen Migrationspolitik ist längst überfällig. „2015" war ein großer Fehler der deutschen Politik, der dem Land schweren Schaden zugefügt hat. Dass dieser Fehler auch nach acht Jahren noch nicht ernsthaft korrigiert wurde, bedeutet ein gigantisches Politikversagen. Und je weiter die politische Klasse die Korrektur vor sich herschiebt, desto größer wird der Schaden. Die Alternative ist nicht die Vollendung des Guten, sondern die existentielle Gefährdung des inneren Friedens und letztlich des Staatswesens durch multiple Überforderung. Überforderung bei der Erfüllung der gegebenen Versorgungsversprechen und bei der Kernaufgabe jedes Staates: die soziale Ordnung zu erhalten. Und wenn die Regierenden schon an so existentielle Fragen nicht tasten wollen, so sollten ihnen doch wenigstens die verheerenden Umfragewerte der regierenden Parteien und der Aufschwung der AfD eigentlich Motivation genug für die unvermeidbare Korrektur sein.

No-Borders-Traum und Asyl-Narrativ

Jeder, der nicht den No-Borders-Traum träumt, weiß, dass es sich bei den Tausenden jungen Männern, die auf Lampedusa oder anderswo an den Grenzen Europas ohne Visa und meist ohne Ausweispapiere ankommen, so gut wie nie um solche politisch Verfolgte handelt, für die die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 den Artikel 16 schufen. Es sind zum überwiegenden Teil, wie auf den Bildern aus Lampedusa unübersehbar, junge Männer, die ein besseres Leben suchen. Das ist überhaupt nicht verwerflich, sondern sehr gut verständlich. Aber das begründet keine unbedingte moralische Pflicht der europäischen Sozialstaaten, sie unbegrenzt aufzunehmen.

Niemand kann auch ernsthaft davon ausgehen, dass Behörden in europäischen Staaten zigtausenden, potentiell Millionen von Afrikanern und Westasiaten, die ohne Ausweispapiere in der EU anlanden, so etwas wie ein faires Asylverfahren bieten können und müssen. Das ist eine Sisyphos-Arbeit, die kein anderes Ergebnis haben kann, als die Überforderung und letztlich den Glaubwürdigkeitsverlust jener staatlichen Institutionen – für die Einheimischen ebenso wie für die Zuwanderer, deren erster Kontakt mit europäischen Behörden in aller Regel aus dem Erzählen einer taktisch motivierten Geschichte der Verfolgung besteht. Auch das kann man Migranten angesichts des vor ihnen liegenden besseren Lebens nicht moralisch vorwerfen. Aber welches Verhältnis zum sie aufnehmenden und versorgenden Staat solche meist farcenhaften Asylverfahren begründen, ist eigentlich offenkundig.

Die Einwanderungspolitik in Europa und vor allem in Deutschland muss endlich ehrlich werden. Dazu gehört nicht zuletzt, wie Gauck andeutet, ohne es explizit auszusprechen, sich vom historischen Asyl-Narrativ zu lösen, das allenfalls für eine kleine Minderheit der Zuwanderungswilligen Sinn macht. Und sie muss sich aus der Umklammerung durch ideologische Fanatiker lösen, die eben nicht nur das individuelle Leid der Migranten motiviert, sondern ein utopisches Ziel einer post-nationalstaatlichen Idealgesellschaft durch eine Art woke Weltrevolution.

Diese ehrliche Hinwendung zur Wirklichkeit und zu den eigenen Interessen ist notwendig, um zu konkreten Maßnahmen der Begrenzung zu kommen, die keinem Politiker, keinem Beamten und auch keinem der nach Schutz ihres gewohnten Lebensumfelds verlangenden Bürgern Freude bereiten werden. Aber sie sind unbedingt notwendig. Und zwar jetzt.

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