Kriegsziel-Diskussion bei Anne Will - Keine Hoffnung, nirgends

Drei Monate schon dauert der Krieg in der Ukraine – aber wie und wann er enden könnte, wird immer unklarer. Doch was bedeutet ein anhaltender militärischer Konflikt für die Unterstützung durch den „Westen“? Und unter welchen Umständen hätten die Ukrainer den Krieg „gewonnen“? Darüber wurde gestern bei Anne Will gesprochen. Die allgemeine Ratlosigkeit war geradezu bestürzend.

Die Runde von Anne Will an diesem Sonntagabend / screenshot
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Am 24. Februar begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und nun, fast auf den Tag drei Monate später, lautet das Diskussionsthema bei Anne Will: „Größere Nato, mehr Waffen – die richtige Antwort auf Putins Krieg?“ Schon aus der Frage wird deutlich, wie unklar die Antwort der „westlichen“ Alliierten auf die Invasion ist. Wobei diese immerhin umso deutlicher ausfällt, je östlicher (und damit näher an Russland) die die Ukraine unterstützenden Länder gelegen sind. Zumindest Polen und das Baltikum stehen hier für eine harte Linie gegenüber Moskau, während Deutschland ganz offensichtlich versucht, sich irgendwie durchzulavieren. Über all das wurde am Sonntagabend in Wills Talkshow debattiert, zu Gast waren der SPD-Politiker und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Michael Roth, der CDU-Verteidigungspolitiker und Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter, der ehemalige Linke-Parlamentarier Jan van Aken, die aus der Ukraine stammende Publizistin Marina Weisband sowie der Militärexperte und Politikprofessor an der Münchener Bundeswehr-Universität Carlo Masala.

Die große Frage, um die es eigentlich ging und die es in militärischen Konflikten immer an vorderster Stelle zu beantworten gilt, lautet: Was sind überhaupt die Kriegsziele? Aus russischer Sicht waren das zunächst die als „Entnazifizierung“ verbrämte Einnahme der gesamten Ukraine, verbunden mit einem Regimewechsel in Kiew. Nachdem dies gescheitert war, geht es Wladimir Putin womöglich „nur“ noch um die Konsolidierung der russischen Präsenz in den ukrainischen Separatistengebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim und um die Eroberung des zwischen der Halbinsel und russischem Territorium gelegenen Gebiets. Andererseits hat Putin auch schon verlauten lassen, man befinde sich im Krieg mit der Nato – während gleichzeitig die Nato immer wieder beteuert, sich in diesen Krieg nicht hineinziehen lassen zu wollen, gleichzeitig aber Waffen an die Ukraine liefert (und einige Nato-Länder wie die USA und Polen explizit auf eine militärische Schwächung Russlands hinarbeiten). Die Lage ist also zumindest unübersichtlich, man könnte auch sagen: Sie ist komplett verfahren. Weshalb auch keiner weiß, wie und wann dieser Krieg überhaupt beendet werden kann.

Vom Kriegsdienstverweigerer zum Falken

Dieses Dilemma wurde auch bei Anne Will mehr als deutlich. Schon in den Statements des Sozialdemokraten Roth, der als früherer Kriegsdienstverweigerer innerhalb seiner Partei inzwischen die Rolle des „Falken“ einnimmt, zeigte sich die allgegenwärtige Ambivalenz: Zwar sprach Roth sich dafür aus, der Ukraine dabei zu helfen, dass diese „als freies Land“ bestehen und ihre territoriale Integrität bewahren könne. Aber auf Wills Nachfrage, ob denn diese „territoriale Integrität“ sich auch auf den Donbass und auf die Krim beziehe, blieb er dann unscharf und sprach von einer „Lösung am Verhandlungstisch, die den Ukrainern Sicherheit bietet“. Vor allem müssten die Ukrainer „selbst entscheiden“, wie dieser Krieg beendet werde. Was diese Entscheidung jedoch für Art und Umfang der Unterstützung durch die Nato bedeutet, ließ Roth offen. Er wollte denn auch explizit keine „konkrete Friedenslösung“ vorschlagen.

Marina Weisband wurde da schon deutlich konkreter: Russlands Truppen sollen sich auf das Gebiet zurückziehen, das sie am Tag vor der Invasion beherrschten – also praktisch ein „status quo ante“ in Bezug auf den 24. Februar. Eine Lösung für Luhansk, Donezk und die Krim könne dann innerhalb der nächsten 15 Jahre gefunden werden, sagte sie – ließ aber unbeantwortet, warum und wie sich innerhalb der nächsten anderthalb Jahrzehnte die Situation dort zur leidlichen Zufriedenheit aller Beteiligten auflösen könnte. Vom deutschen Bundeskanzler hätte sich Weisband jedenfalls ein klares Bekenntnis dahingehend gewünscht, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen müsse. Für die Bundesregierung stehe die Integrität der Ukraine eben nicht an erster Stelle, so die ehemalige Piraten-Politikerin: Jedes Mal, wenn Scholz (und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron) mit Putin telefonierten, werde ihre Linie gegenüber Russland weicher.

Roderich Kiesewetter, der unlängst mit seinem Parteivorsitzenden Friedrich Merz nach Kiew gereist war, gab sich ebenfalls verwundert hinsichtlich der Verhaltenheit des Bundeskanzlers. Deutschland leiste in Punkto Waffenlieferungen nicht, was es könne, obwohl der Kanzler hier Rückendeckung im Parlament nicht nur von den Ampel-Parteien, sondern auch von der Union erhalten habe. Mit Blick auf die ausbleibenden Lieferungen insbesondere von deutschen Kampfpanzern an die Ukraine wurde Kiesewetter im Verlauf der Sendung immer deutlicher: Scholz spiele offenbar auf Zeit, „ich befürchte, dass der Bundeskanzler nicht will, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“. Starker Tobak für einen sonst eher gemäßigt formulierenden Politiker wie Kiesewetter. Was die Gründe für Scholzens angeblichen Unwillen sein könnten, ließ er freilich offen.

Argumentativ stecken geblieben

Michael Roth war in solchen Situationen anzumerken, dass er „seinen“ Kanzler gern verteidigt hätte, doch blieb er dabei argumentativ immer auf halber Strecke stecken. Einerseits wehrte er sich dagegen, Olaf Scholz irgendwelche taktischen „Spielchen“ zu unterstellen, erinnerte an Probleme bei der Beschaffung von Panzermunition und bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten an schweren Waffen. Dann sprach er aber auch wieder davon, dass solcherlei Gerät den Ukrainern bei der gescheiterten Verteidigung Mariupols durchaus geholfen hätte und erinnerte daran, dass das Parlament der Bundesregierung einen entsprechenden „Arbeitsauftrag“ erteilt habe. Roth leidet sichtlich am unklaren Kurs der von der SPD angeführten Bundesregierung und gab seiner Befürchtung Ausdruck, dass die Akzeptanz für Unterstützung der Ukraine in der deutschen Bevölkerung immer mehr sinken werde, je länger dieser Krieg andauere.

Und dass dieser Krieg keineswegs bald vorbei ist, daran hatte wiederum Carlo Masala wenig Zweifel. Es drohe jetzt ein langwieriger Abnutzungs- und Stellungskrieg, die Russen hätten sich in der Ostukraine eingegraben. Der Münchener Verteidigungsexperte teilte im Ergebnis auch Roths Befürchtung eines schwindenden Interesses am Ukrainekrieg in den westlichen Ländern mit zunehmender Dauer des Konflikts. „Der Erfolg der Ukrainer könnte zu ihrem Problem werden“, so Masala. Auch er konnte keinen Ausweg weisen und blieb nicht zuletzt diffus hinsichtlich einer drohenden Ausweitung bis hin zum Atomkrieg: Man müsse Scholz mit seiner Warnung vor einer nuklearen Eskalation zwar ernst nehmen, gleichzeitig dürfe sich die Bundesregierung in dieser Frage auch nicht von Angst leiten lassen. Eine konkrete politische Handlungsempfehlung lässt sich aus solchen Statements wohl kaum ableiten.

Jan van Aken als Quoten-Pazifist

Der ehemalige Linke-MdB Jan van Aken konnte mit seinem Lösungsansatz auch nur wenig Substanz liefern. Er sprach sich zwar wiederholt für schärfere Sanktionen gegenüber Russland aus und merkte an, dass allein durch die Energieimporte jeden Tag 320 Millionen Euro an den Aggressor flössen. „Militärische Mittel sollten immer die ultima ratio sein“, sagte er, und dass man Russland auf wirtschaftlichen Gebiet wesentlich mehr schwächen könne als auf militärischem. Aber dass Sanktionen allein die russische Militärmaschinerie in der bisher erfolgten Weise aufgehalten hätten, das glaubt wahrscheinlich nicht einmal Jan van Aken. Immerhin war mit ihm die Position des „moderaten Pazifisten“ in dieser Fernsehrunde einigermaßen öffentlichkeitsverträglich besetzt worden. Und in dieser Funktion erinnerte van Aken auch daran, dass inzwischen selbst die Kommentatoren der New York Times von der US-Regierung eine klare Definition der Kriegsziele fordern.

Wie lautet also die „richtige Antwort auf Putins Krieg“, um auf die Ausgangsfrage der Talkshow zurückzukommen? Dass keiner der Gäste eine brauchbare Antwort parat hatte, wird man niemandem der Beteiligten zum Vorwurf machen können. Zumal sich – darin waren sich Roth, Kiesewetter und Masala im Wesentlichen einig – mit dem Verlauf des Krieges auch die Kriegsziele ändern würden. Dass aber eine weitgehend hochbesetzte Runde wie diese nicht auch nur ein einziges Szenario zu entwickeln in der Lage ist, wie das Töten ein Ende haben kann, macht wenig Hoffnung. Gut möglich also, dass die „westlichen“ Bevölkerungen tatsächlich schon bald das Interesse an diesem Konflikt verlieren. Womöglich ist ja genau das auch Putins Kriegsziel. Zumindest sein vorläufiges.

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