Krieg in Gaza - Die Hoffnungen der Hamas sind zerstoben

Bislang hat keine der beiden Kriegsparteien ihre Ziele erreicht: Die Hamas führt keine arabische Truppe zum Sieg, und Israels Strategie, Überraschungsangriffe abzufangen, ist gescheitert. Auf beiden Seiten wird es zu einem massiven Umdenken kommen.

Israelische Verbände rücken in den Gaza-Streifen ein / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Es ist schwierig, die Strategie eines Landes im Krieg zu verstehen, wenn man nicht in der Kommandozentrale sitzt. Analysiert man jedoch die Zeit vom Beginn bis zum Ende des Krieges, wird die Strategie deutlich. Denn man muss die Zwänge kennen, die jede Seite antreiben; die Kräfte, die jeder Seite zur Verfügung stehen – und den Preis, den jede Seite für den Sieg zu zahlen bereit ist. Wir sind jetzt an dem Punkt angelangt – und vielleicht sogar schon darüber hinaus –, an dem der Krieg in Nahost so weit zu verstehen ist, dass man erklären kann, warum sich bestimmte Dinge so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben.

Versagen des Nachrichtendienstes

Israel hat seit dem arabisch-israelischen Krieg von 1967 eine dominante militärische Position inne, auch wenn es sich dabei weitgehend um eine defensive Position handelt. Sein historischer Feind, die muslimischen Nationen des Nahen Ostens (wir verwenden hier den Begriff „muslimisch“ und nicht „arabisch“, da der Iran, der überwiegend schiitisch-persisch ist, in der Liste enthalten sein muss) waren in mehrere Lager aufgeteilt, die gezwungen waren, in die Offensive zu gehen, wenn sie sich auf einen Krieg einlassen wollten. Was Israel den Vorteil der Defensive verschaffte und seinen Feinden die Last der Initiierung aufbürdete. Dies bedeutete, dass der Nachrichtendienst das Herzstück von Israels Position war; ein Versagen des Nachrichtendienstes würde den Vorteil auf die Offensive des Feindes verlagern.

Die Hamas, Israels Hauptfeind im aktuellen Krieg, stand vor zwei parallelen Herausforderungen. Die eine bestand darin, dass die arabischen Gruppierungen gespalten waren und miteinander konkurrierten. Die zweite bestand darin, dass sie die Unberechenbarkeit Israels und seine Fähigkeit zuzuschlagen als gegeben ansah. Die Hamas musste die arabischen Gruppierungen dominieren, um sich selbst zu schützen, und sie musste Israel schwächen, um ihre Position zu schützen und auszubauen.

Der Schlüssel für die Hamas war also Israel. Wenn sie Israel besiegte oder schwächte, würde sie ihr Ansehen in der arabischen Welt erhöhen und ihre beiden strategischen Herausforderungen lösen. Sie wäre dann die dominierende Kraft in ihrer Region.

Israels Strategie

Der Hamas war klar, dass für Israel der Geheimdienst von grundlegender Bedeutung ist. Israel hatte zuvor ein nachrichtendienstliches Versagen erlebt, das es zutiefst traumatisiert hatte: Im Oktober 1973 hatten ägyptische Truppen den Suezkanal durchquert und waren tief auf die Sinai-Halbinsel eingedrungen, um den Süden Israels zu bedrohen. Syrien war währenddessen auf die Golanhöhen vorgerückt, um vom Norden aus zu agieren. Beide wurden von der Sowjetunion unterstützt. Doch der israelische Geheimdienst hatte den Angriff überhaupt nicht vorhergesehen, und mehrere Tage lang schien nichts weniger als das Überleben Israels auf dem Spiel zu stehen. Als klar war, dass Israel nicht mehr in Gefahr war, zog Moskau seine Unterstützung zurück.

Seitdem besteht Israels Strategie darin, Angriffe zu erkennen und seine Feinde schnell zu besiegen, bevor es seine internationalen Gönner verliert. Israel baute seine Geheimdienststrukturen so um, dass es davon überzeugt war, potenzielle Gefahren erkennen zu können. Und dennoch gelang es der Hamas, am 7. Oktober 2023 einen Überraschungsangriff zu starten; teilweise in dem Glauben, dass Israel nicht damit rechnete und dass die Regierung durch interne politische Streitigkeiten um die geplante Justizreform abgelenkt war.
 

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Die Strategie der Hamas erforderte eine völlige Überraschung. Das wiederum setzte voraus, dass die Gruppe den israelischen Geheimdienst über die in Gaza aufgebaute und für den Kampf vorbereitete Truppe in die Irre führte. Die Hamas schaffte die totale Überraschung und fügte ihrem Erfolg die Gefangennahme von fast 250 Israelis hinzu, die als Geiseln gehalten wurden und Israel bis zu einem gewissen Grad dazu zwingen würden, bei einem Gegenangriff vorsichtig vorzugehen. Die Hamas hat sich jedoch verkalkuliert, denn Israel entschied sich für die Strategie des totalen Krieges, die unweigerlich Tote auf allen Seiten zur Folge haben würde. 

Die Hamas hat Israel vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie zwang Israel, zu den Bedingungen und auf dem Territorium der Hamas zu kämpfen, wobei die Gefahr bestand, dass die Israelis so sehr aus dem Gleichgewicht geraten würden, dass Israel selbst gefährdet werden könnte. Unzuverlässige Geheimdienstinformationen und eine Unterschätzung der Fähigkeiten der Hamas ließen Israel nur wenige Optionen.

Abschreckung anderer arabischer Kräfte

Israels Ziel ist die Zerstörung der Hamas und die Abschreckung anderer arabischer Kräfte. Die Fehleinschätzungen der Hamas haben den Israelis dabei geholfen. Die Erwartung, dass die Hisbollah und andere Unterstützer bereit sein könnten, unter dem Kommando der Hamas zu kämpfen, hat sich nicht erfüllt. 

Seit dem 7. Oktober hat die Hamas eine defensive Haltung eingenommen, indem sie Geiseln zu ihrem Schutz einsetzt und Truppen in den Norden verlegte. Der Einsatz dort und im Süden gab Israel die Möglichkeit zu Verhandlungen, die beide Seiten ablehnten. Israel musste sicherstellen, dass ein weiterer Überraschungsangriff der Hamas unmöglich war. Es konnte sich nicht auf Geheimdienstinformationen verlassen, auch wenn es die verbleibenden Geiseln befreien muss. Die einzige strategische Lösung war ein Schlag gegen die Hamas, der sicherstellen soll, dass die Gruppe ihren Erfolg nicht wiederholen kann.

Der Krieg ist noch nicht zu Ende

Israel hatte die Wahl zwischen dem Einsatz schwerer Artillerie und Luftstreitkräften oder dem Einsatz von Bodentruppen, unterstützt durch schwere Panzer und Luftstreitkräfte. Letzteres würde zu größeren Verlusten für Israel und einer möglichen Niederlage in dem Gebiet führen. Nichts zu tun, hieße, Schwäche einzugestehen und die Geiseln in Gaza im Stich zu lassen. Israel entschied sich für den Einsatz von Bodentruppen im Norden, um den Versuch zu wagen, die Hamas endgültig zu schlagen.

Bislang hat aber keine der beiden Seiten ihre Ziele erreicht. Die Hamas führt keine arabische Truppe zum Sieg, und Israel befindet sich überhaupt erst wegen eines schwerwiegenden Versagen des Geheimdienstes in der aktuellen Lage. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, und die Kämpfe können noch lange andauern. Aber die Hoffnung der Hamas, dass sie infolge eines überwältigenden Angriffs die arabische Führung übernehmen würde, ist zerstoben. Auch die israelische Strategie, Überraschungsangriffe abzuschrecken oder abzufangen und ihnen zuvorzukommen, ist gescheitert. Auf beiden Seiten wird es zu einem massiven Umdenken kommen.

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