Klima-Urteil des EGMR - Auf dem Weg zur Juristenherrschaft

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab am Dienstag der Klage von Klimaaktivisten statt und stellte fest, dass die Schweiz Verpflichtungen zum Klimaschutz verletzt hat. Das Urteil setzt nicht nur jahrhundertealte Rechtsprinzipen außer Kraft, sondern ist ein Anschlag auf die Demokratie.

Darf nicht fehlen: Greta Thunberg im Gespräch mit einer Klimaseniorin vor der Veröffentlichung des EGMR-Urteils in Straßburg / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Es gibt Argumentationen, die kann man schwer nachvollziehen. Es gibt Argumentationen, die einem nicht einleuchten. Es gibt Argumente, die falsch sind. Oder allenfalls halb richtig. Und häufig hängt die Einschätzung, was ein gültiges und was ein weniger gültiges Argument ist, vom eigenen Standpunkt ab. Wir alle kennen das.

Hin und wieder aber – und zunehmend öfter, aber vielleicht täuscht der Eindruck – wird man mit Argumentationen konfrontiert, die machen einen nur noch fassungslos. Und hilflos dazu. Weil sie so abgedreht sind, dass man sie kaum ernst nehmen kann. Bis man dann merkt, dass man sie ernst nehmen muss. Etwa weil sie von einem hohen Gericht vorgetragen wurden. So einen Moment absoluter Ratlosigkeit bescherte uns gestern der EGMR, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Denn der gab einer Klage der sogenannte Klimaseniorinnen recht. Der von Greenpeace mitinitiierte und finanzierte Rentnerverein hatte Beschwerde gegen die Schweiz eingereicht. Die Alpenrepublik, so die Klage, tue zu wenig für den Klimaschutz. Hierdurch fühlen sich die Klimaseniorinnen in ihrem Recht auf Leben gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention (Art. 2 EMRK) und in ihrem Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) verletzt. Gerade ältere Menschen seien besonders stark vom Klimawandel betroffen, denn dieser führe unter anderem zu stärkeren Hitzewellen, wodurch ihr Leben sowie ihre physische und mentale Gesundheit gefährdet seien.

Nun ist die Verlockung groß, umgehend loszuschimpfen. Denn tatsächlich erleben wir hier nichts anderes als die Abschaffung der Demokratie durch die Hintertür angeblicher Menschenrechte. Doch es lohnt sich, das Urteil des EGMR näher anzuschauen. Denn es ist ein Lehrstück in Sachen ideologiegetriebener Rechtsprechung.

Kein unmittelbarer Kausalzusammenhang

Halten wir zunächst fest: Um für einen Schaden verantwortlich zu sein, muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen. Etwa, indem ich mit meinem Auto in das Fahrzeug meines Vordermanns fahre. Oder indem ich als Klempner bei meiner Arbeit pfusche und deshalb die Wohnung meines Kunden unter Wasser steht. Oder wenn ich als Arbeitgeber die Arbeitsschutzbestimmungen missachte und deshalb ein Angestellter zu Schaden kommt.

Einen vollständig anderen Verantwortungsbegriff hat der EGMR. Zwar kann keine Schweizer Regierung etwas am Klimawandel ändern. Auch liegt es nicht in den Möglichkeiten einer Schweizer Regierung, globale Durchschnittstemperaturen zu beeinflussen. Und selbst wenn die Schweizer Regierung alle Verbrennungsmotoren, Kraftwerke, Industrieanlagen und Heizungen morgen verbieten und zugleich alle Schweizer verpflichten würde, das Atmen einzustellen – an der globalen Klimaentwicklung würde das nichts, aber auch gar nichts ändern. Doch irgendwie sieht der EGMR die Schweizer Regierung dennoch in der Verantwortung.

 

Mehr zum Thema:

 

Denn, so die Richter des EGMR, die Schweiz habe es versäumt, die nationalen Begrenzungen für Treibhausgase beispielsweise durch ein CO2-Budget zu quantifizieren. Außerdem habe die Schweiz in der Vergangenheit ihre Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht. Damit habe sie das Recht der Senioren verletzt, vor den Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität geschützt zu werden.

Man sollte mit Superlativen immer vorsichtig sein, doch dieses Urteil ist ein Skandal – und ein gefährlicher dazu. Denn bei der Argumentation des EGMR läuft so ziemlich alles schief, was eben schieflaufen kann, aber nicht schieflaufen darf, wenn unsere Demokratien Demokratien bleiben und nicht zu einer Herrschaft der Gerichte werden sollen.

Es gibt kein Menschenrecht auf Symbolpolitik

Denn zunächst ist es so, dass nicht zweifelfrei belegt werden kann, ob einzelne Hitzewellen tatsächlich auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen sind – Hitzewellen gab es auch schon früher. Denn nur, wenn ein einwandfreier Kausalzusammenhang zwischen einzelner Hitzewelle, Klimawandel und Versäumnis der Schweizer Regierung herstellbar ist, wäre diese auch verantwortlich. Der einfache Hinweis darauf, die Schweizer würden den Klimawandel nicht ernst genug nehmen, reicht nicht aus und ist eine Verhöhnung jedes Rechtsdenkens.

Zweitens ist die Schweizer Regierung nicht in der Lage, besagt Hitzewellen zu verhindern. Für einen Sachverhalt, der nicht in der eigenen Verfügungsgewalt liegt, ist man aber auch nicht verantwortlich. Es gibt kein Menschenrecht auf Symbolpolitik.

Drittens sind Menschenrechte Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Seit einigen Jahrzehnten gibt es jedoch die unangenehme Tendenz, sie zu Anspruchsrechten umzuinterpretieren. Noch problematischer wird dieser Trend, wenn er dazu benutzt wird, Mitbürgern den eigenen Willen aufzuzwingen. Denn genau das bedeutet das Urteil des EGMR: dass eine kleine Gruppe von Aktivisten der Mehrheit der Mitbürger ihre Lebens- und Konsumvorstellungen aufzwingen kann.

Und viertens zeigt sich hier besonders drastisch die fatale Folge der Internationalisierung der Rechtsprechung. Alle Schweizer Instanzen hatten das Anliegen der Klimaseniorinnen abgewiesen. Die schweizerischen Gerichte, so der EGMR, hätten nicht überzeugend begründet, warum sie es für unnötig hielten, die Begründetheit der Klagen der Klimaseniorinnen zu prüfen. Der demokratische Wille eines Volkes, den auch die Rechtsprechung spiegelt, wird hier im Namen eines angeblich höheren Rechts gebrochen.

Das Straßburger Urteil ist ein Desaster. Es markiert einen weiteren Schritt in Richtung Juristenherrschaft. Warum auch das Volk befragen? Man weiß nie so genau, was dabei herauskommt. Besser gleich im Namen der Menschenrechte autoritäre Politik machen. Es steht zu befürchten, dass das Urteil des EGMR richtungsweisend wird.
 

Anzeige