Interview mit dem ehemaligen KGB-Spion Sergei Schirnow - „Putin war schon damals absolut borniert“

Wladimir Putin ist in der KGB-Ära steckengeblieben, sagt sein Ex-Kollege Sergei Schirnow im Interview. Dabei galt der heutige russische Staatschef als ungeeigneter Agent, denn schon früh habe der Geheimdienst Putins psychologisches Problem erkannt, die Folgen seiner Entscheidungen abzuschätzen.

Judoka mit Minderwertigkeitskomplexen: So beschreibt den jungen Putin sein Ex-KGB-Kollege Schirnow / dpa
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Sergei Schirnow (61) war von 1984 bis 1992 Agent des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Einberufen wegen seiner Französisch-Kenntnisse, absolvierte er 1984 das Institut Andropow, die Kaderschmiede für Sowjetspione. Im Moskauer Stadtteil Jassenewo arbeitete er danach in der Abteilung für Auslandsaufklärung, wo er sich um Südamerika kümmerte. 1990 besuchte im Auftrag des KGB die Pariser Eliteschule ENA; zur Tarnung betätigte er sich als Sprecher einer russischen TV-Sendung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des KGB gab Schirnow seine Agententätigkeit auf und wurde Fernsehjournalist sowie internationaler Berater. Nach einem Giftanschlag verließ er Russland 2001 und erhielt politisches Asyl in Paris. Seither arbeitet er dort unter anderem für den französischen Newssender LCI. Im Mai ist von ihm im Pariser Verlag Nimrod auf Französisch das autobiographische Buch „L’éclaireur“ (Der Späher) erschienen.

Herr Schirnow, Sie sind einer der einzigen russischen Ex-Spione, die sich über ihre frühere Tätigkeit äußern. Warum tun Sie das?

Seitdem ich mein Land verlassen habe, spreche ich auch deshalb, weil ich in Opposition zum Putin-Regime stehe. Es führt heute einen ungerechten und überdies schlecht vorbereiteten Krieg, und der einzige Aggressor ist Putin.

Sie hatten ihn schon kennengelernt, als Sie ein 19-jähriger Student waren. Wie kam es dazu?

Ich arbeitete 1980 als Freiwilliger für die Telefon-Auskunft der Olympischen Spiele von Moskau. Mit einem Franzosen sprach ich stundenlang am Draht. Das kam dem KGB suspekt vor, und einer seine Agenten überführte mich in die Lubjanka, den berüchtigten KGB-Sitz. Der kleine Mann in dem grauen Anzug hieß Wladimir Putin. Er hörte mir nicht einmal zu, sondern wollte mich partout als Systemfeind entlarven. Er genoss seine Macht, mit der er mir Angst zu machen versuchte. Und er war schon damals absolut borniert: Er hatte eine Idee, und die wollte er durchdrücken, obwohl er nicht das geringste Argument hatte.

Ein wenig wie heute im Ukraine-Krieg?

Genau. Putin sagt, er wolle die Ukraine „entnazifizieren“. Bloß gibt es in Russland zehnmal mehr Neonazis. Mit Raumfahrtminister Dimitri Rogosin sitzt sogar einer in der Regierung. Putin hat keine Argumente. In meinem Verhör ließ er erst dann – und zwar blitzartig – von mir ab, als ich nebenbei angab, ich kennte einen Enkel des Parteivorsitzenden Leonid Breschnew.

Ex-KGB-Agent Sergei Schirnow

1984 kreuzten sich Ihre Wege erneut.

Ja, denn wir waren im gleichen Ausbildungsgang des Instituts Andropow, der KGB-Ausbildung. Ich sah Putin aber nur kurze Zeit. Nach einem Straßenkampf in Leningrad, bei dem er sich einen Arm brach, fiel er im KGB in Ungnade. Ein Bericht hielt fest, Putin habe insofern ein psychologisches Problem, als er die Folgen seiner Entscheide und Akte nicht abzuschätzen vermöge. Für Gefahren habe er kein Gefühl; das berge Risiken für ihn selbst, aber auch für den KGB. Der Geheimdienst will, dass sich ein Agent sofort verzieht, wenn er einem Straßenkampf begegnet. Putin ließ sich aber darin verwickeln. Das tat er sicher auch, weil er Judoka ist und seinen Minderwertigkeitskomplex wegen seiner Körpergröße von 162 Zentimeter kompensieren will. Der KGB schob ihn jedenfalls nach Leningrad und dann in die DDR ab.

Ein Auslandeinsatz in der DDR, kam das nicht einer Beförderung gleich?

Nur scheinbar. In Wirklichkeit war die DDR-Provinz für Sowjetagenten ein Abstellgleis. Ganz anders Westberlin, das war damals ein internationales Spionagezentrum mit höchstem Agenten-Prestige. Nicht aber Dresden mit seinem fünfköpfigen Regionalbüro. Putin agierte dort nicht etwa als Geheimagent, sondern offen und unter seinem Namen als Stasi-Kontrolleur. Damit war seine Karriere als unerkannter Spion gescheitert.

Dafür brachte er es in der Politik bis zum Staatspräsidenten. Was hat er im Kreml von der KGB-Mentalität bewahrt?

Alles. Putin ist nie wirklich ein Staatschef geworden, der wie der Ukrainer Wolodymyr Selenskyj sein Land und sein Volk hinter geschart hat. In seinem Inneren bleibt er ein Chef der Tscheka, der politischen Polizei. Das Land führt er wie ein Politbüro, mit engsten Vertrauten, darunter Ex-Agenten und Leibwächter. Diese Leute infiltrieren die Politik, so wie der KGB früher andere Länder infiltrierte. Demokratisch ist das nicht.

Einzelne Russland-Kenner sagen, nur so könne man ein das riesige Land kontrollieren.

Das stimmt. Aber die Kontrolle durch die Geheimdienste muss im Dienst der Demokratie ausgeübt werden. Putin denkt nicht an das Volk, er denkt nur an seine Macht.

Ist Putin populär?

Leider eher ja. Er ist kein Staatsmann, sondern ein berechnender Opportunist, ein Manipulator, der weiß, was die Leute wollen, und danach handelt, um seine Popularität zu steigern. Sein Vorteil ist, dass die Russen einen starken Mann wollen, weil ihre Geschichte sie lehrt, dass es schwache Zaren, Parteivorsitzende oder Präsidenten nie weit bringen.

Was denken Sie von den „Suiziden“ mehrerer Oligarchen?

Ich glaube nicht an Selbstmord. Es gibt dafür keine Beweise, aber Indizien, und die sieben Fälle ähneln sich auch in ihrer warnenden „Botschaft“ an die Nachwelt. Die Opfer sind nicht unbedingt Oligarchen, sondern stammen eher aus der Kategorie der Topmanager. Sergei Protosenya hatte zum Beispiel eine geeinte Familie, seit jeher die gleiche Frau, keine Mätressen. Obwohl er Frau und Kind mit einer Axt abgeschlachtet haben soll, fand die spanische Polizei nicht den geringsten Blutspritzer auf Protosenyas Hemd. Seltsam.      

Haben Sie selber keine Angst, nachdem Sie beim KGB abgesprungen sind und heute aus der Schule plaudern?

Mein Abgang war geregelt, ich verließ den Geheimdienst erst, als Michail Gorbatschow seine Auflösung angeordnet hatte. Dass ich heute spreche, stört viele, das stimmt. Aber ich folge der ehernen Regel der Schattendienste: Wenn du überleben willst, bleibe im Licht. Ich schreibe Bücher, trete am Fernsehen auf, und mein unnatürlicher Tod in Paris würde Schlagzeilen machen wie die Vergiftung des Doppelagenten Sergei Skripal

Wurden Sie nicht selber schon Opfer eines Vergiftungsversuchs?

Ja, 2001 in Moskau. Der Geheimdienst wollte, dass ich ihm wieder beitrete, aber ich war nicht bereit dazu und tat das auch kund. Das mochten sie gar nicht. Sie handelten nach allen Regeln der Kunst, sodass man nichts beweisen konnte. Ich verlor massiv an Gewicht, hatte nachts 40 Grad Fieber, lag schon fast im Sterben – doch die Ärzte fanden nichts. Eine Ärztin tippte auf Schwermetalle. Da sagte ich ihr am Telefon, das natürlich abgehört wurde, ich zöge aus meiner Wohnung aus und ginge für Blutproben nach Frankreich. Zwei Tage später erhielt meine Wohnung „Besuch“, die Beschwerden hörten schlagartig auf.

Es heißt, die russischen Geheimdienste seien heute mächtiger als zu Sowjetzeiten. Stimmt das?

Auf jeden Fall. Stellt man die verdoppelte Beschäftigtenzahl dieser Dienste und die halbierte Bevölkerungszahl Russlands gegenüber der Sowjetunion in Rechnung, ergibt sich, dass allein der heutige Inlandgeheimdienst FSB viermal stärker ist als früher der KGB. Nur schon der Dienst zum Schutz des Präsidialamtes umfasst 10.000 Menschen. Das wirft auch die Frage auf: Warum hat Putin so viel Schutzpersonal nötig, wenn er so populär sein soll? Und warum lässt er keine freien Wahlen zu? Entweder ist er völlig paranoid – oder er ist gar nicht so populär.

Ihrer Meinung nach?

Es ist eine Mischung aus beidem. Nicht zu vergessen, die Umfrageinstitute in Moskau stehen unter Putins Einfluss.

Um auf den russischen Geheimdienst zurückzukommen: Haben sich seine Methoden unter Putin gewandelt?

Die Spione und Spitzel arbeiten wie früher mit ihren „Quellen“. Verändert hat sich hingegen die Technologie. Die sozialen Netzwerke sind für die russischen Geheimdienste FSB (Inland), SVR (Ausland) und GRU (Militär) zum Schlachtfeld eines hybriden Krieges geworden. Sie betreiben Desinformation, Propaganda, Cyberattacken. Die Hacker der russischen Dienste sind dazu heute in der Lage, das Transportwesen oder die Spitäler eines ganzen Landes außer Gefecht zu setzen. Welch ein Kontrast zu Putin, der bis heute nicht einmal ein Handy hat! Ein Zeichen mehr, dass er mental in der KGB-Ära steckengeblieben ist.

Leidet die russische Armee in der Ukraine nicht auch darunter, dass es den russischen Geheimdiensten an Aufklärungssatelliten mangelt?

Von dem guten Dutzend russischer Beobachtungssatelliten sind nur noch zwei in Betrieb. Dagegen erhalten die Ukrainer Zielauskünfte von den Amerikanern. Das erklärt mit, was in der Ukraine abläuft.

Und die russischen Überschallraketen, funktionieren die?

Sie existieren, aber es mangelt den Russen an Wissenschaftlern, um die Technologie zu meistern. Putin hat zwei, drei Prototypen dieser Superwaffen, mehr nicht. Sie verschlingen Unmengen an Geld.

Hat Sie das Steckenbleiben der russischen Übermacht in der Ukraine überrascht?

Überhaupt nicht. Putins Russland ist ein potemkinsches Dorf: Hinter den Fassaden hat es nichts. Die Armee verfügt zwar über mehr Mittel denn je, aber sie erweist sich als unfähig zu einer modernen Kriegsführung. Nicht einmal die Logistik hält Schritt. Putin missachtete die wichtigsten Kriegsregeln. So geht es, wenn sich ein Korporal für einen General wähnt, siehe Hitler.

Putin scheint nun stärker auf die Armeespitze zu hören.

Er ist dazu gezwungen, seitdem er viele tausend Mann verloren hat. Aber selbst im Donbass ist der Erfolg des Unterfangens nicht garantiert. Aus strategischer Sicht müsste er eher den schlechter geschützten Süden mit Cherson und dann Odessa angreifen. Aber Putin will den Donbass, auf die Gefahr hin, einen Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg in Verdun zu schaffen.

Die russische Klammerbewegung scheint im Donbass immerhin vorwärtszukommen.

Aber nur, weil den Ukrainern die Mittel fehlen. Wenn sie neue Waffen erhalten, wird die russische Armee nicht mehr weiterkommen. Putin bliebe dann nur noch das nukleare Arsenal.

Könnte er es einsetzen?

Das ist nicht unmöglich. Wie ich vorher sagte: Putin vermag die Folgen seines Tuns nicht abzuschätzen. Das macht es so gefährlich. Zumal Putin wie gesagt starrsinnig ist und sich von nichts abbringen lässt.

Wie aktiv ist der russische Geheimdienst in Deutschland?

Sehr aktiv. In Deutschland gibt es eine starke russische Diaspora mit weit mehr als einer Million Vertretern. Agenten, Spitzel und Informanten gehen in dieser unbeteiligten Masse problemlos auf. Das Hauptproblem für Deutschland ist allerdings seine energetische Abhängigkeit von Moskau, die es selber bewirkt hat. Heute ist Deutschland von Russland abhängig, nicht mehr umgekehrt. Das ändert alles.

Das Gespräch führte Stefan Brändle.

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