
- Die irre Nazi-Erzählung und anderer Blödsinn
Moskau hat seinen Überfall auf die Ukraine damit gerechtfertigt, es müsse den Nachbarstaat von Korruption und Nazis befreien. Als diese bizarre Geschichte nicht mehr funktionierte, setzte Außenminister Lawrow noch eins drauf und behauptete, Hitler sei jüdischer Abstammung gewesen. Die Russen verfangen sich immer mehr in ihrer schlechten Propaganda.
Die Geschichte zeigt, dass ein schneller und siegreicher Krieg keine sorgfältig durchdachte Rechtfertigung erfordert. Ein Land überfällt ein anderes, gewinnt und erklärt sich später. Ein längerer Krieg muss jedoch vor der eigenen Bevölkerung gerechtfertigt werden, damit die Öffentlichkeit voll hinter der Regierung steht – und vor dem Rest der Welt ebenso, damit sie nicht zu Vergeltungsmaßnahmen aufruft.
Daran habe ich gedacht, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Von Anfang an war klar, dass Moskau angesichts des unvorsichtigen und schlecht durchdachten ersten Vorstoßes mit einem schnellen Zusammenbruch des ukrainischen Widerstands rechnete. Aber es kam anders. Anfangs wurde die Invasion oberflächlich damit gerechtfertigt, dass die Ukraine korrupt und von Nazis durchsetzt sei. Dass Russland einmarschiert, weil es sich an der Korruption stört, ist natürlich lächerlich. Russland ist die Heimat von Oligarchen, denen es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erlaubt wurde, staatliche Unternehmen zu kapern, die gerade privatisiert wurden.
Ehemalige kommunistische Politiker waren maßgeblich an diesem Prozess beteiligt und haben davon profitiert. Wladimir Putin selbst, der damals in St. Petersburg das Sagen hatte, konnte sich an die politische Macht katapultieren, weil die Oligarchen bei ihm in der Schuld standen, und weil er wusste, wo die Leichen im Keller lagen. Dass Moskau ein anderes Land wegen Korruption angreift, dieser Gedanke ist schlicht grotesk.
Ein jüdischer Nazi-Präsident
Die Behauptung der „Entnazifizierung“ ist noch bizarrer. Obwohl in der Ukraine – wie in vielen anderen Ländern auch – sicherlich einige Elemente des Nationalsozialismus existieren, gab es keine massenhaften Aufmärsche in den Straßen von Kiew, keine Konzentrationslager und keine anderen Merkmale nationalsozialistischer Tradition. Zu Zeiten des Dritten Reichs litten übrigens nur wenige andere Weltregionen so sehr wie die Ukraine. Wenn Moskau jetzt also den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij – einen Juden – bezichtigt, ein Nazi zu sein, stellt sich logischerweise die Frage: Wenn die Nazis so mächtig wären, warum haben sie dann nicht verhindert, dass ein Jude an die Macht kommt? Ich glaube ernsthaft, dass die Verantwortlichen für die russische Propaganda sich den Nazi-Vorwurf ausgedacht haben, ohne zu wissen, dass Selenskij Jude ist.
Aber so ist das nun einmal mit der Propaganda: Eine einmal gestartete Kampagne ist schwer zu stoppen. Sie hat ein Eigenleben. Das ist besonders dann der Fall, wenn die eigene Seite verliert. Das Scheitern kann überspielt werden, indem man auf die Notwendigkeit des Krieges beharrt. Die Beendigung von Korruption und die Beseitigung des Nationalsozialismus sind edle Ziele, hinter denen sich wohl die allermeisten versammeln können. Tatsache ist jedoch, dass das alles eine lächerliche Konstruktion ist. Moskau hat das inzwischen bemerkt, und deshalb musste es die ursprüngliche Behauptung verstärken und erweitern. Denn wie kann es jüdische Nazis geben?
Die Lösung: Russlands Außenminister Lawrow behauptete, dass Hitler ein Jude war. In der Tat ist dies eine alte Geschichte, die von interessierter Seite immer mal wieder erzählt wird, um Hitlers Massenmord an den Juden zu relativieren: Wenn Hitler Jude war, dann ist auch der von ihm geschaffene Nationalsozialismus jüdisch – also waren die Juden für den Holocaust selbst verantwortlich. Das ist natürlich eine irre Logik, aber wenn man sich auf sie einlässt, lautet die Konsequenz: Die Ukraine muss vor den Juden und den Nazis gerettet werden.
Putin entschuldigt sich für Lawrow
Um es klarzustellen: Putin hat sich offenbar beim israelischen Premierminister für die Behauptung von Außenminister Sergej Lawrow entschuldigt, Hitler sei Jude gewesen. Eine Entschuldigung mag dieses bemerkenswerte Kapitel beenden, aber sie ändert nichts an der Tatsache, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist – nicht zuletzt eben mit der Begründung, dass der jüdische Präsident des Landes ein Nazi wäre. Im Genre der Kriegspropaganda ist dies wirklich ein Kunststück. Sobald man sich auf die Idee einlässt, dass die Ukraine voller Nazis ist, folgt der Rest der Begründung mit einer eigenen Eleganz und Schönheit. Die Tatsache, dass die ganze Sache verrückt ist, sollte nicht von der Tiefgründigkeit der Behauptung ablenken, die Juden hätten sich selbst umgebracht.
Das alles hat eine Wurzel. Der russische Agitprop ist, wie der sowjetische Agitprop zuvor, nicht nur darauf ausgerichtet, die Russen anzuspornen und den Feind zu spalten, sondern auch darauf, die Tatsache zu verschleiern, dass es keine moralische Rechtfertigung für das gibt, was angeblich getan werden muss. Stalin baute zunächst eine weltweite Anti-Nazi-Bewegung auf, vollzog dann eine Kehrtwende und unterzeichnete einen Vertrag mit Hitler – um später in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen, als Berlin den Vertrag brach.
Die Parteiapparatschiks von damals hatten verstanden, dass der Kommunismus amoralische Flexibilität erfordert. Dann gab es noch diejenigen, die Lenin als „nützliche Idioten“ bezeichnete: Menschen, die die komplexen Lügen tatsächlich glaubten. Diese Leute waren von unschätzbarem Wert; aktive Kommunisten waren nicht wirklich vertrauenswürdig, aber Sympathisanten, die die Realität ignorierten, konnten es durchaus sein.
Das ist das aktuelle Problem Moskaus: Der Krieg in der Ukraine ist nicht sonderlich populär, und die Ukrainer leisten erheblichen Widerstand. Aber abgesehen von einigen wenigen, die sich auf die Idee eingelassen haben, die russische Invasion sei gerechtfertigt, weil die Ukraine angeblich korrupt und voller Nazis ist, hat es in Russland bisher keinen nennenswerten Widerstand gegen die „Spezialoperation“ gegeben.
Im Gegensatz zu Stalin, der es meisterhaft verstand, das Wasser zu trüben, wirkt die heutige Generation russischer Politiker reichlich unbeholfen. Der Rückgriff auf Propaganda, um ein Scheitern der Kriegsanstrengungen zu vertuschen, erfordert nämlich einen gewissen Sinn für die Realität. Wenn Moskau eine zweite Chance sucht, wäre es jetzt an der Zeit, sie zu nutzen.