Krieg im Nahen Osten - Warum Moskau kein Interesse an einer Eskalation hat

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hieß es vielfach, der Kreml habe den Konflikt mit angeheizt, um vom Ukrainekrieg abzulenken. Doch diese These ist nicht schlüssig. Vielmehr würde Russland stark in Mitleidenschaft gezogen, sollte sich der Krieg im Nahen Osten ausweiten.

Wladimir Putin könnte sich als Vermittler ins Spiel bringen / picture alliance
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Nachdem Israel erklärt hatte, es befinde sich im Krieg mit der Hamas, äußerten mehrere Länder ihre Besorgnis über eine Eskalation des Konflikts und riefen beide Seiten dazu auf, die Feindseligkeiten einzustellen. Eines dieser Länder war Russland – obwohl einige Staatsoberhäupter Moskau beschuldigt haben, den ersten Angriff der Hamas auf Israel zu unterstützen, da er sich als nützliche Ablenkung vom Debakel in der Ukraine erweisen würde. Israel selbst hat diese Anschuldigungen als rein konspirativ zurückgewiesen, und obwohl Russland von dem Konflikt profitieren könnte, würde es dies nur als Vermittler und nicht als Aggressor tun.

Schließlich ist es sicherlich zutreffend, dass die Welt ihre Aufmerksamkeit von der Ukraine auf Israel gelenkt hat, und es ist sicherlich ebenfalls richtig, dass Russland diese Atempause begrüßt. Der Kreml hat unzählige Ressourcen in seine Kriegsanstrengungen gesteckt und kann es sich nicht leisten, als Verlierer dazustehen. Eine Niederlage würde Moskau des internationalen Status berauben, den es so verzweifelt sucht. Sie würde zudem höchstwahrscheinlich zu innenpolitischer Unzufriedenheit führen und genau das zur Folge haben, was Russland vermeiden wollte: Nato-Truppen in der Nähe der russischen Grenze.

Russland pflegt zu Israel und den palästinensischen Gebieten gute Beziehungen

Diese Tatsachen haben viele zu der Annahme veranlasst, dass Russland diesen Moment nutzen werde, um eine weitere Offensive zu starten. Aber die Gelegenheit ist nicht so günstig, wie es scheint. Russland ist in der Ukraine und bei der Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums angesichts von Arbeitskräftemangel und lähmenden Sanktionen zu stark engagiert, um eine der beiden Seiten des Krieges zwischen Israel und Hamas zu unterstützen oder zu fördern. Und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, hat Russland ein Interesse daran, gute Beziehungen zu beiden Parteien zu unterhalten. Je schlimmer der Krieg wird, desto schwieriger ist es für Russland.

Moskau weiß, dass der Krieg in der Ukraine auf die eine oder andere Weise enden wird. Es weiß, dass die Ukraine nicht der einzige Weg ist, um seinen Einfluss auszuweiten. Und es ist sich bewusst, dass es sich unter den gegebenen Umständen politisch und wirtschaftlich so weit wie möglich in Ländern engagieren muss, zu denen es gute Beziehungen unterhält. Israel und die palästinensischen Gebiete sind solche Staaten, und Russland führt mit beiden einen entsprechenden Dialog.

 

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Tatsächlich sind Russlands Beziehungen zu den Gebieten geradezu historisch. Nachdem Israel seine Außenpolitik während des Kalten Krieges auf den Westen ausgerichtet hatte, lieferte die Sowjetunion Waffen an die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und bildete ihre Kämpfer an sowjetischen Militäreinrichtungen aus. Seitdem sind sie in Kontakt geblieben. Die Unterstützung für die palästinensischen Gebiete hat dazu beigetragen, dass die Sowjetunion bei anderen Ländern des Nahen Ostens, von denen viele den Handel mit Russland seit dem Beginn der westlichen Sanktionen drastisch ausgeweitet haben, einen guten Ruf genoss.

Zu diesen Ländern gehören der Iran und Algerien, die in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten ebenfalls auf russische Wirtschaftshilfe angewiesen sind. Darüber hinaus ist der Islam die zweithäufigste Religion in Russland, wobei viele seiner Anhänger im Nordkaukasus zu finden sind, dessen Unterstützung der Kreml benötigt, um die Stabilität in seinen südlichen Gebieten zu erhalten.

Schließlich gibt es im gesamten offiziellen Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde etwa 2000 russische Staatsbürger, davon rund 1200 im Gazastreifen. Dies erklärt, warum sich Wladimir Putin für eine palästinensische Staatlichkeit mit einer Hauptstadt in Ost-Jerusalem einsetzt.

80.000 Juden leben in Russland

Dennoch unterhält Russland weiterhin Beziehungen zu Israel. In Russland leben etwa 80.000 Juden, und die russisch-jüdische Diaspora in Israel ist ebenfalls groß. Israel war auch eines der bevorzugten Ziele für Russen, die nach der Invasion in der Ukraine aus dem Land flohen. Im Jahr 2022 gingen mehr als 37.000 Menschen aus Russland nach Israel, und im Jahr 2023, vor der Verschärfung der Einwanderungsgesetze, ist die Zahl der Menschen, die Russland in Richtung Israel verlassen, stark gestiegen.

Außenpolitisch sieht Russland die Atommacht Israel als stabilisierenden Faktor im Nahen Osten und schätzt es, dass es sich dem westlichen Sanktionsregime entzogen hat. Zum Krieg mit der Hamas sagte Putin, dass Israel einem noch nie dagewesenen Angriff ausgesetzt sei und das Recht habe, seine Bürger zu verteidigen.

Aber das vielleicht überzeugendste Indiz dafür, dass Russland nicht in den Krieg zwischen Israel und der Hamas verwickelt ist, ist die Tatsache, dass Russland ihn bisher nicht wirklich zu seinem Vorteil genutzt hat. Es hat keine neuen Offensiven unternommen, und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass das Militär in Alarmbereitschaft war, weil etwas allzu Dramatisches passieren könnte.

Moskau hat lediglich versucht, sich als Vermittler in dem Konflikt zu positionieren. Putin rief nicht nur zu einem Waffenstillstand auf, sondern betonte auch die Bedeutung diplomatischer Bemühungen für einen umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten und wies darauf hin, dass eine Bodenoperation im Gazastreifen schreckliche Folgen und den Tod von Zivilisten nach sich ziehen würde.

Vermittlerrolle als Chance für Putin

Russland weiß, dass der Nahe Osten für die Vereinigten Staaten eine viel höhere Priorität hat als die Ukraine, und dass Washington besonders daran interessiert sein könnte, dass jemand anderes vermittelt, damit es nicht wieder in einen weiteren regionalen Konflikt hineingezogen wird. Und im Gegensatz zu Russland sind die USA in den palästinensischen Gebieten ohnehin nicht sonderlich beliebt. Der Kreml versucht bereits herauszufinden, wie er seine Position nutzen kann, um seine eigenen Probleme zu lösen, und es gibt Gerüchte über einen möglichen Dialog zwischen den USA und Russland. Vorige Woche fand in New York ein Arbeitstreffen der „Nuclear Five“ statt, an dem auch russische Vertreter teilnahmen.

Für Russland hat die Vermittlung zwei Vorteile: Sie hilft Moskau, aus seiner (relativen) internationalen Isolation auszubrechen, indem es mit Partnern zusammenarbeitet, mit denen es sonst nicht zusammenarbeiten würde. Und sie trägt möglicherweise dazu bei, eine weitere Eskalation des Krieges oder die Verwicklung anderer Länder in der Region zu verhindern, mit denen Russland lukrative wirtschaftliche, infrastrukturelle und logistische Partnerschaften unterhält.

Die eigentliche Frage ist, ob Moskau angesichts der vielen Probleme, mit denen es zu kämpfen hat, die Zeit hat, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Der Nutzen wäre hoch, und Untätigkeit hat ihren Preis. Wenn sich der Krieg auf russische Verbündete ausweitet, wird es für Moskau sehr viel schwieriger sein, seine Kräfte im Nahen Osten auszubalancieren – und Russland wird seine Chance verlieren.

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