Israel, Gaza und das Völkerrecht - „Die Hamas ist im völkerrechtlichen Sinne der Aggressor“

Die militärische Reaktion Israels auf die Pogrome vom 7. Oktober steht zunehmend in der Kritik. Manche werfen Israel gezielte Tötungen von Zivilisten und Genozid vor. Was sagt das Völkerrecht zu den Pogromen der Hamas, der israelischen Gegenoffensive und den jüdischen Siedlern im Westjordanland?

Ein Bild des Grauens: die Leiche eines Israelis nahe des Gazastreifens / picture alliance
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Dr. Christian Johann ist Rechtsanwalt in Berlin. Er hat zu einem Thema im Bereich Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht promoviert. In seiner anwaltlichen Praxis ist er hauptsächlich im Verfassungs- und im Völkerrecht tätig.

Herr Johann, gibt es ein palästinensisches Staatsgebiet?

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Im Völkerrecht wird ein Staat in der Regel nach der sogenannten Drei-Elemente-Lehre definiert. Hiernach zeichnet sich ein Staat dadurch aus, dass es ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt gibt. Es liegt also erst einmal die Annahme gar nicht fern, dass es sich bei Palästina gegenwärtig schon um einen Staat im Sinne des Völkerrechts handeln könnte. Als Staatsgebiet könnte jedenfalls – unbeschadet eines gegebenenfalls strittigen konkreten Grenzverlaufs – das Westjordanland und der Gazastreifen angesehen werden, als Staatsvolk die dort lebenden Palästinenser. Mit der palästinensischen Autonomiebehörde existiert auch eine Einrichtung, die man als eine Art Staatsgewalt auffassen könnte. 

Tatsächlich ist es auch so, dass rund zwei Drittel der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Palästina bereits als Staat anerkennen. Seit dem Jahr 2012 hat Palästina nach einer Resolution der UN-Generalversammlung in den Vereinten Nationen zudem den Status eines „Beobachterstaats ohne Mitgliedschaft“. Diese Resolution spricht übrigens auch vom Recht des „palästinensischen Volkes“ auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in seinem „Staat Palästina“ in dem „seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiet“ und erkennt die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als der Vertreterin des palästinensischen Volkes in den Vereinten Nationen an. 

Allerdings werden die Palästinenser im Gazastreifen von der Hamas regiert, die sie mehrheitlich gewählt haben. Seit Jahren hat es weder in Gaza noch im Westjordanland freie Wahlen gegeben. Erfüllt das „palästinensische Volk“ die an die Resolution von 2012 geknüpften Kriterien?

Eine Hamas-Regierung gibt es ja derzeit ungeachtet der Wahlergebnisse nur im Gazastreifen. Nach der Drei-Elemente-Lehre kommt es für die Existenz einer Staatsgewalt aber ohnehin nicht darauf an, von welcher Partei oder Organisation die Staatsgewalt gerade ausgeübt wird und ob dies legitim ist. Für die Frage, ob es ein Staatsvolk gibt, gilt dies genauso.

Es gibt ja sozusagen zwei „Palästina“-Gebiete: Das von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anerkannte Gebiet und das Gebiet, das nach dem Ende des Osmanischen Reiches der britischen Mandatsverwaltung unterstellt wurde. Der bei Anti-Israel-Demos oft benutzte Slogan „Free Palestine – from the River to the Sea” bezieht sich ja eindeutig auf das „osmanische „Palästina“…

Christian Johann / Redeker Sellner Dahs Rechtsanwälte

So ist das wohl zu verstehen. Denn zwischen dem „River“, also dem Jordan, und der „Sea“, also dem Mittelmeer, liegt ja bekanntlich nicht nur das Westjordanland, sondern auch das völkerrechtlich anerkannte Staatsgebiet Israels. Der Slogan bezieht sich also nicht nur auf die seit 1967 besetzten Gebiete, die der Anerkennung Palästinas als Beobachterstaat in den Vereinten Nationen zugrunde liegen. Das Gebiet „Palästina“, das nach dem Ende des Osmanischen Reiches im Jahr 1922 vom Völkerbund, also dem Vorgänger der Vereinten Nationen, unter britische Mandatsverwaltung gestellt wurde, umfasste hingegen das gesamte Gebiet des heutigen Israel, des Westjordanlandes und des Gazastreifens. 

Aber um noch einmal auf die Frage zurückzukommen, ob es heute schon einen Staat Palästina gibt: Im Ergebnis kann man es trotz der Ansätze, die ich gerade erwähnt habe, für fraglich halten, ob Palästina dafür schon alle Voraussetzungen erfüllt. Zweifelhaft erscheint bei näherer Betrachtung vor allem das Element der Staatsgewalt. Dieses beinhaltet nämlich auch die innere und äußere Souveränität. Das bedeutet einerseits nach innen Verfassungsautonomie, andererseits nach außen Freiheit von anderen Autoritäten. Infolge des Oslo-II-Abkommens aus dem Jahr 1995 hat die Autonomiebehörde zwar in einer Anzahl von Gebieten („Area A“ und „Area B“) eine alleinige bzw. mit Israel gemeinsam ausgeübte Sicherheitsverantwortung erlangt. Der größere Teil des Westjordanlandes („Area C“) steht aber immer noch unter alleiniger israelischer Kontrolle. 

Was zeigt uns der Blick in die Vergangenheit: Hat es einen Staat Palästina je gegeben?

Hier ergibt sich nichts anderes. Beginnen wir hier mit der Betrachtung zeitlich beim Ende des Osmanischen Reichs, gab es seitdem keinen Zeitpunkt, zu dem man zweifelsfrei von einem Staat Palästina im Sinne der Drei-Elemente-Lehre hätte sprechen können. Dem Osmanischen Reich folgte die seit 1922 mit einem Mandat des Völkerbunds versehene Verwaltung durch das damalige Britische Empire. 

1948 kam es zur israelischen Unabhängigkeitserklärung und zum ersten israelisch-arabischen Krieg. Infolge dieses Krieges wurde das Westjordanland von Jordanien besetzt und 1950 annektiert. Der Gazastreifen wurde von Ägypten besetzt und verwaltet. Ergebnis des Sechstagekrieges 1967 war dann die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch Israel. 1988 gab es zwar eine von der PLO ausgesprochene Unabhängigkeitserklärung in Bezug auf die 1967 besetzten Gebiete. 

Im selben Jahr gab Jordanien seine Ansprüche auf das Westjordanland auf (sogenanntes „disengagement“). Anknüpfungspunkte für eine eigenständige palästinensische Staatsgewalt gibt es aber eigentlich erst seit der Umsetzung des Oslo-II-Abkommens. Ob mit diesem bereits eine hinreichende innere und äußere Souveränität einhergeht, kann, wie gesagt, völkerrechtlich bezweifelt werden.

Welche Absichten und Inhalte hatte der UN-Teilungsplan, der in der Region einen dauerhaften Frieden sichern sollte?

Der UN-Teilungsplan ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Palästina auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch unter britischer Mandatsverwaltung stand. Das Vereinigte Königreich hatte aber angekündigt, sich spätestens bis zum 1. August 1948 aus Palästina zurückzuziehen. Deswegen wurde es notwendig, eine Lösung für die „Palästina-Frage“ zu finden. 

Die UN-Generalversammlung verabschiedete deshalb am 29. November 1947 die Resolution 188 (II), welche eine Teilung Palästinas in einen unabhängigen arabischen Staat und einen unabhängigen jüdischen Staat vorsah. Beide Staaten sollten aber in einer Wirtschaftsunion verbunden bleiben. Für die Stadt Jerusalem sollte ein „Special Regime“ etabliert werden, welches eine Verwaltung durch die Vereinten Nationen vorsah. Die Grenzen der jeweiligen Gebiete legte der Teilungsplan sehr detailliert fest.  

Wieso wurde er von der arabischen Welt abgelehnt?

Das ist eine Frage, die sicherlich ein Historiker besser beantworten kann als ich. Aber meines Wissens lehnte die arabische Welt damals generell die Schaffung eines jüdischen Staates ab. Dementsprechend konnte sie natürlich auch dem Teilungsplan nicht zustimmen, der die Schaffung eines solchen Staates ja gerade vorsah.

Also scheiterte die Gründung eines palästinensischen Staates gar nicht an Israel?

Auch hier wäre eigentlich wieder eher ein Historiker gefragt. Aus meiner Sicht wäre eine solche Sichtweise aber wahrscheinlich zu einfach. Auch Israel hat sich ja nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948/49 nicht auf das Gebiet zurückgezogen, das der Teilungsplan für den jüdischen Staat vorsah. Was damals passiert wäre, wenn zum Beispiel die Araber Israel nach diesem Krieg die Hand gereicht hätten, bleibt deshalb spekulativ.

Auch das Westjordanland ist völkerrechtlich ein umstrittenes Gebiet. Wem gehört es?

Das hängt letztlich davon ab, wie man die Frage nach der Staatsqualität Palästinas beantwortet. Teilt man den Standpunkt, dass Palästina gegenwärtig bereits ein Staat ist, wäre das Westjordanland – vorbehaltlich der Klärung strittiger Grenzfragen – Teil des Staatsgebiets Palästinas. Verneint man diese Frage hingegen, wird es komplizierter. Wenn man es ganz eng betrachten, also davon ausgehen wollte, dass ausschließlich Staaten ein Gebiet im Sinne eines Staatsgebietes „gehören“ kann, müsste man eigentlich sagen: Derzeit gehört das Westjordanland niemanden. 

Das Osmanische Reich, zu dem das Gebiet – wohl unstrittig – einmal gehörte, existiert nicht mehr. Danach kam das Völkerbundsmandat, das es ebenfalls nicht mehr gibt und das zudem keinen „Eigentumstitel“ begründete, sondern eine Treuhänderschaft. Jordanien hatte das Westjordanland zwar nach dem ersten israelisch-arabischen Krieg 1950 annektiert. Unabhängig davon, ob dies völkerrechtlich überhaupt wirksam oder anerkannt war (Annexionen sind völkerrechtlich grundsätzlich verboten), hat Jordanien diesen Besitzanspruch jedenfalls 1988 aufgegeben. 

Auch Israel hat 1967 weder das Westjordanland noch den Gazastreifen annektiert. Der Befund, dass es sich beim Westjordanland um „Niemandsland“ handelt, wäre aber aus meiner Sicht trotzdem falsch. Geht man wie die eben erwähnte Resolution der UN-Generalversammlung von einem „Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und auf Unabhängigkeit in seinem Staat Palästina in dem seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiet“ aus, dann wäre es vielmehr konsequent, von einer Art „Anwartschaftsrecht“ des palästinensischen Volkes auf dieses Gebiet zu sprechen. 

Unter einer Anwartschaft versteht man ein rechtlich gesichertes Erwerbsrecht, dessen Voraussetzungen aber noch nicht vollständig erfüllt sind. Dabei handelt es sich allerdings um einen Begriff aus dem innerstaatlichen Eigentumsrecht und nicht um ein völkerrechtlich etabliertes Konzept. Gleichwohl erscheint mir der dahinterstehende Rechtsgedanke hier nicht unpassend. 

Also müssen jüdische Siedler beide Gebiete, auf die die Palästinenser ein Recht haben, räumen?

Nein, das ist eine ganz andere Frage. Aus einem angenommenen Anrecht des palästinensischen Volkes auf das Westjordanland und den Gazastreifen als Staatsgebiet folgt kein Recht, mehrere hunderttausend Menschen von dort einfach so zu vertreiben, die dort – mitunter ja schon seit Jahrzehnten – leben und ihrerseits Menschenrechte haben. Es gibt auch keine Regel, nach der in einem bestimmten Staatsgebiet nur die Menschen leben dürfen, die zum Staatsvolk gehören. Der Umgang mit den Siedlungen müsste im Rahmen einer Zweistaatenlösung einvernehmlich geklärt werden.

Palästinenser werfen dem Staat Israel vor, der Siedlungsausbau in den palästinensischen Gebieten sei völkerrechtswidrig. Stimmt dies?

Diesen Vorwurf kann man mit Berechtigung erheben. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat den Siedlungsbau in einem Gutachten aus dem Jahr 2004 ausdrücklich als einen Bruch des Völkerrechts angesehen. Dabei hat er insbesondere auf Artikel 49 des 4. Genfer Abkommens von 1949 verwiesen. Dort ist geregelt, dass eine Besatzungsmacht nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in ein von ihr besetztes Gebiet verbringen darf. Zahlreiche Resolutionen der UN-Generalversammlung und des UN-Sicherheitsrats haben den Siedlungsbau ebenfalls als völkerrechtswidrig verurteilt. Aber wie gerade schon gesagt: Dies sollte nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen verleiten, wie mit den Siedlungen zu verfahren ist. 

 

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So hat der Sicherheitsrat von Israel zwar zum Beispiel in seiner Resolution 2334 aus dem Jahr 2016 verlangt, alle „Siedlungsaktivitäten einzustellen“, Israel aber nicht zu einer Räumung aufgefordert. Er hat dafür unterstrichen, dass er nur solche Änderungen der „Linien vom 4. Juni 1967“ anerkennen werde, die die Parteien auf dem Verhandlungsweg vereinbaren. 

Bis 1967 waren Palästinenser, die im Westjordanland lebten, jordanische Staatsbürger. Wieso wurden sie rechtlich zu Palästinensern?

Nach dem Ende des Osmanischen Reichs erhielten die Bewohner Palästinas aufgrund der britischen „Palestine Citizenship Order“ aus dem Jahr 1925 eine palästinensische „Staatsangehörigkeit“ beziehungsweise die Möglichkeit, diese zu erlangen. Jordanien, welches das Westjordanland 1950 annektiert hatte, erklärte mit seinem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1954 alle nichtjüdischen Personen, die vor dem 15. Mai 1948 die palästinensische Staatsangehörigkeit besaßen, zu Jordaniern. 

Im Zuge seines „disengagements“ im Jahr 1988 entzog Jordanien den im Westjordanland lebenden Menschen die jordanische Staatsangehörigkeit wieder. Ob nun die im Westjordanland lebenden Menschen inzwischen eine palästinensische Staatsangehörigkeit haben, hängt wiederum untrennbar mit der Frage zusammen, ob es sich bei Palästina um einen Staat handelt, was, wie gesagt, strittig ist.

Wieso denken Palästinenser, die den UN-Teilungsplan abgelehnt haben, dass sie Anspruch auf „Palästina“ haben?

Das Gebiet, das der UN-Teilungsplan für den vorgesehenen arabischen Staat auswies, war größer als das Gebiet, das nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948/49 noch unter arabischer Kontrolle stand. Oder andersherum: Das heutige durch die damalige Waffenstillstandslinie („Green line“) definierte und völkerrechtlich anerkannte Staatsgebiet Israels ist größer als das Gebiet, das nach dem UN-Teilungsplan dem jüdischen Staat zugedacht war. Ich könnte mir daher vorstellen, dass der Teilungsplan dafür ins Feld geführt wird, den Zuschnitt des israelischen Staatsgebiets zu delegitimieren. Ein solches Argument wäre jedoch überholt. 

Es ist heute völkerrechtlich unstrittig, dass ein palästinensischer Staat jedenfalls keine Gebiete als Staatsgebiet beanspruchen könnte, die über die 1967 besetzten Gebiete hinausgehen. Davon gehen auch die palästinensische Unabhängigkeitserklärung von 1988 oder zum Beispiel die bereits erwähnte UN-Resolution aus, mit der Palästina als Beobachterstaat in den Vereinten Nationen anerkannt wurde.

Sind diese UN-Resolutionen bindend?

Es ist zu unterscheiden zwischen Resolutionen des Sicherheitsrats und Resolutionen der Generalversammlung. Resolutionen des Sicherheitsrates sind für die Mitglieder der Vereinten Nationen nach Artikel 25 der UN-Charta bindend. Resolutionen der Generalversammlung, also auch die Resolution über den Teilungsplan, sind dagegen völkerrechtlich grundsätzlich unverbindlich. 

Das bedeutet aber nicht, dass sie keine Bedeutung haben. In ihnen kann etwa eine Rechtsauffassung der Mehrheit der Staaten zum Ausdruck kommen. Die Resolutionen der Generalversammlung haben deshalb einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts. Der Nachweis einer bestimmten Rechtsüberzeugung ist zum Beispiel ein Element für die Begründung einer Norm des Völkergewohnheitsrechts. 

Die Osloer Verträge sollten den Nahostkonflikt regeln, zwei Staaten ermöglichen. Sind diese Verträge rechtlich verbindlich?

Auch hier spielt es wieder eine Rolle, wie man die Staatsqualität Palästinas beurteilt. Völkerrechtliche Verträge sind verbindlich. Das Völkerrecht geht aber davon aus, dass völkerrechtliche Verträge nur zwischen Völkerrechtssubjekten geschlossen werden können. Das sind vor allem die Staaten, aber zum Beispiel auch internationale Organisationen. Als verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag könnte man die Oslo-Abkommen also nur ansehen, wenn Palästina seinerzeit schon Staatsqualität hatte, was, wie gesagt, zweifelhaft erscheint. 

Dazu passt übrigens, dass zum Beispiel das Oslo-II-Abkommen zwar die Überschrift „Israeli-Palestinian Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip“ trägt. Unterzeichnet wurde es aber einerseits von Shimon Peres mit dem Zusatz „For the Government of the State of Israel“ und andererseits von Jassir Arafat, von diesem jedoch nicht etwa „For the State of Palestine“, sondern schlicht „For the PLO“. Auch wenn man die Oslo-Abkommen nicht als völkerrechtliche Verträge einordnet, bedeutet dies aber nicht automatisch, dass ihnen keine Verbindlichkeit zukommen könnte. 

Schaut man sich etwa den Text des Oslo-II-Abkommens an, unterscheidet er sich in seinen Formulierungen kaum von einem „normalen“ völkerrechtlichen Vertrag. Man kann daher mit guten Gründen davon ausgehen, dass die Parteien beabsichtigten, einen verbindlichen Vertrag zu schließen. 

Sind die israelischen militärischen Gegenreaktionen auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 völkerrechtlich zulässig?

Soweit die Frage das „Ob“ einer militärischen Reaktion betrifft: Eindeutig ja. Israel kann sich auf sein in Artikel 51 der UN-Charta anerkanntes Selbstverteidigungsecht berufen. Die Handlungen der Hamas am 7. Oktober 2023 haben sicherlich die dafür notwendige Schwelle eines bewaffneten Angriffs überschritten. Für den Beschuss Israels mit Raketen aus dem Gazastreifen gilt das ohnehin (auch schon vor dem 7. Oktober 2023). Dafür kommt es auch nicht darauf an, ob Palästina bereits als Staat anzusehen ist. 

Im klassischen Völkerrecht ging man zwar noch davon aus, dass nur Staaten imstande sind, einen bewaffneten Angriff durchzuführen. Insbesondere im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich in den beiden vergangenen Jahrzehnten im Völkerrecht aber die Auffassung durchgesetzt, dass das Selbstverteidigungsrecht auch gegenüber nicht-staatlichen Akteuren gilt. 

Wichtig ist noch, dass das Selbstverteidigungsrecht zeitlich „unmittelbar“ auf einen bewaffneten Angriff ausgeübt werden muss. Das bedeutet, dass ein Staat zum Beispiel auf einen bewaffneten Angriff, auch wenn er völkerrechtswidrig war, nicht seinerseits mit militärischer Gewalt reagieren darf, wenn der Angriff schon lange zurückliegt. Im gegenwärtigen Konflikt hat Israel binnen Stunden reagiert. Das Kriterium der Unmittelbarkeit ist also klar erfüllt. Außerdem unterliegt die Selbstverteidigung dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, das heißt, die Verteidigungshandlungen müssen erforderlich und angemessen sein. 

Inwieweit dies im aktuellen Konflikt der Fall ist, lässt sich ohne genaue Kenntnis der tatsächlichen Umstände – die man als Außenstehender naturgemäß nicht hat – derzeit kaum beurteilen. Dafür müsste man zum Beispiel zunächst wissen, welche konkrete Bedrohung von der Hamas zu einem bestimmten Zeitpunkt noch ausgeht und welche militärischen Möglichkeiten konkret bestehen, diese Bedrohung zu beenden. Erst auf dieser Grundlage könnte man dann abwägen, ob oder wie lange das eingesetzte Maß der Gewalt noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimen Ziel der Beendigung des Angriffs steht.

Ähnliches gilt für die Frage des „Wie“ der Reaktion bezogen auf die einzelnen militärischen Handlungen. Maßstab dafür ist nicht das Selbstverteidigungsrecht (als Aspekt des sogenannten „ius ad bellum“) sondern das humanitäre Völkerrecht (das sogenannte „ius in bello“), das insbesondere in den Genfer Abkommen von 1949 und seinen Zusatzprotokollen von 1977 kodifiziert ist, aber überwiegend auch gewohnheitsrechtlich gilt. Aus dem humanitären Völkerrecht ergibt sich also zum Beispiel, unter welchen Voraussetzungen ein Angriff auf ein bestimmtes Ziel zulässig ist oder nicht. Um dies im Einzelfall seriös beurteilen zu können, bedarf es wiederum der genauen Kenntnis der konkreten Umstände vor Ort. 

Wie lange darf sich Israel militärisch wehren und welche völkerrechtlichen Vorgaben sind einzuhalten?

In Artikel 51 der UN-Charta ist eigentlich vorgesehen, dass das Selbstverteidigungsrecht so lange ausgeübt werden darf, bis der UN-Sicherheitsrat „die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Auf solche Maßnahmen konnte sich der Sicherheitsrat bislang nicht verständigen. In Anbetracht der gegensätzlichen Haltungen der Vetomächte ist wohl auch nicht damit zu rechnen, dass dies in absehbarer Zukunft geschehen wird. Es gilt daher, dass Israel sich grundsätzlich so lange wehren darf, wie der Angriff andauert beziehungsweise bis sichergestellt ist, dass Angriffshandlungen nicht wieder aufgenommen werden. 

Welche militärischen Gegenoffensiven seitens der Hamas sind völkerrechtlich zulässig?

Wenn man richtigerweise davon ausgeht, dass in der aktuellen Konfliktsituation die Hamas im völkerrechtlichen Sinne der Aggressor ist, dann gelten konsequenterweise alle militärischen Handlungen der Hamas, die damit in Zusammenhang stehen, als Teil der Aggression. Und zwar auch dann, wenn zum Beispiel die Hamas das Gebiet des Gazastreifens gegen die anrückenden israelischen Streitkräfte „verteidigt“. Das Recht auf Selbstverteidigung beinhaltet gerade auch, dass der Verteidiger in das Gebiet des Angreifers eindringen darf, um die Aggression zu beenden.

Welche Völkerrechtsverstöße werden aktuell von Israel oder der Hamas begangen?

Wie schon gesagt, ist es für einen Außenstehenden ohne fundierte Kenntnis der konkreten Einzelsachverhalte sehr schwierig, dies juristisch seriös zu bewerten. Und um die Sache noch komplizierter zu machen: Die Unsicherheit, ob es sich bei Palästina um einen Staat handelt, kommt auch hier wieder zum Tragen. Es ist deshalb noch nicht einmal eindeutig, welche rechtlichen Regelungen eigentlich zur Anwendung kommen. Das humanitäre Völkerrecht regelt traditionell in erster Linie zwischenstaatliche Konflikte. Dann gibt es noch in einem gewissen Umfang Regelungen für sogenannte nichtinternationale Konflikte. Damit sind solche Konflikte gemeint, die innerhalb eines Staates stattfinden, also zum Beispiel Bürgerkriege. 

Dann kommt noch hinzu, dass Israel keine Vertragspartei der beiden Zusatzprotokolle aus dem Jahr 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 ist. Im Ersten Zusatzprotokoll sind zum Beispiel die wichtigsten Regelungen zum Schutz der Zivilbevölkerung in einem internationalen Konflikt geregelt. Das Zweite Zusatzprotokoll enthält Regelungen für nichtinternationale Konflikte. Diese Problematik wird zwar in einem gewissen Umfang dadurch ausgeglichen, dass die jeweiligen Regeln überwiegend auch gewohnheitsrechtlich gelten. Es bleiben insoweit aber Unsicherheiten.

Allerdings ist ja eine wichtige Vorgabe des Völkerrechts, Zivilisten möglichst zu schützen …

Das stimmt. Unbestreitbar Geltung hat als zentrale Regelung des humanitären Völkerrechts jedenfalls das Verbot, die Zivilbevölkerung als solche zum Ziel eines Angriffs zu machen. Insofern wagt man sich als Außenstehender nicht zu weit hervor, wenn man die Attacken vom 7. Oktober 2023, also das wahllose Töten israelischer Zivilisten und die weiteren damit verbundenen Gewalthandlungen einschließlich der Entführungen, als klare Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht einstuft. 

Und dabei handelt sich nicht um einfache Verstöße, sondern um Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Kriegsverbrechen, wie sie das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unter Strafe stellt. Dieses Statut hat übrigens auch Palästina unterschrieben. Eindeutig verboten sind nach dem humanitären Völkerrecht auch sogenannte unterschiedslose Angriffe, die nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden. Unter dieses Verbot dürften die regelmäßig vom Gebiet des Gazastreifens aus durchgeführten Raketenangriffe auf Israel fallen.

Wie beurteilen Sie die israelische Gegenoffensive?

Die juristische Beurteilung der einzelnen israelischen Kriegshandlungen ist ungleich schwieriger. Hier müsste man zunächst die konkreten Umstände jedes einzelnen Falls ermitteln. Wenn zum Beispiel die israelische Luftwaffe im Gazastreifen ein Gebäude bombardiert, ist für einen Außenstehenden nicht ohne weiteres erkennbar, ob es sich um ein legitimes militärisches Ziel handelte oder um ein unzulässiges ziviles Ziel. Auch der Umstand, dass bei einem Angriff Zivilisten sterben, macht einen Angriff nicht notwendigerweise völkerrechtswidrig. Das humanitäre Völkerrecht lässt sogenannte Kollateralschäden zu. 

Das bedeutet, dass bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel der Tod von Zivilisten in Kauf genommen werden darf, solange dieser nicht außer Verhältnis zu dem mit dem Angriff erstrebten militärischen Vorteil steht. Um diese Abwägung vornehmen zu können, braucht man also zunächst Kenntnisse über die Art des militärischen Ziels und die Gründe, aus denen es zum Beispiel als besonders wichtig eingestuft wurde. Ähnlich schwierig kann zum Beispiel die Beurteilung des Angriffs auf ein Krankenhaus sein. Krankenhäuser sind zwar nach dem humanitären Völkerrecht grundsätzlich gegen Angriffe geschützt. Sie verlieren diesen Schutz aber, wenn sie dazu missbraucht werden, um dem Kriegsgegner Schaden zuzufügen. 

Genauso vorsichtig muss man schließlich bei der Beurteilung der Frage sein, wie die „Vertreibung“ der Bewohner des nördlichen Gazastreifens in den südlichen Teil einzuordnen ist. Das gilt schon für die Verwendung des Begriffs „Vertreibung“, weil dieser bereits eine Wertung beinhaltet, die möglicherweise falsch ist. Im humanitären Völkerrecht gilt insoweit das Verbot, die Zivilbevölkerung aus einem Gebiet ganz oder teilweise zu vertreiben, „es sei denn, die Sicherheit der betroffenen Zivilisten oder zwingende militärische Gründe erfordern dies“. 

Das bedeutet: Der Umstand, dass Israel die Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens aufgefordert hat, sich in den Süden zu begeben, wirft zunächst die Frage auf, ob darin schon eine „Vertreibung“ gesehen werden kann, weil dieser Begriff ein Element des Zwangs beinhaltet. Auch wenn dies bejaht wird, kann dies völkerrechtlich durchaus gerechtfertigt sein. Entscheidend ist dann, ob dies nach der eben erwähnten Regelung erforderlich war. Dies wiederum ist von außen eben sehr schwer zu beurteilen. 

Aus linken Kreisen gibt es oft den Vorwurf, Israel begehe seit Jahrzehnten einen Genozid …

Die Völkermordkonvention definiert als Völkermord bestimmte Handlungen, die „in der Absicht“ begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Zu diesen Handlungen gehören die Tötung von Mitgliedern der Gruppe; die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; und die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. 

Insofern lässt sich zwar z.B. nicht bestreiten, dass – objektiv betrachtet – in dem gegenwärtigen Krieg Mitglieder der Gruppe der Palästinenser durch die israelischen Streitkräfte getötet werden. Die in der Völkermordkonvention beschriebenen Handlungen darf man aber keinesfalls isoliert betrachten. Entscheidend ist, dass sie „in der Absicht“ begangen werden, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Israel eine solche Absicht zu unterstellen, dafür fehlen aus meiner Sicht aber jegliche Anhaltspunkte. 

Zudem wird Israel häufig Kolonialismus vorgeworfen. Zu Recht?

Das ist für mich eher ein politischer Kampfbegriff, welcher den historischen Hintergründen und der Komplexität des Nahostkonflikts nicht gerecht wird. Im Völkerrecht wird von Kolonialismus in der Regel nur im Zusammenhang mit den vor allem im 19. Jahrhundert erfolgten Expansionen der Europäischen Mächte und deren Rückgängigmachung im Zuge der Dekolonisierung insbesondere seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gesprochen. An dieser Entwicklung hatten auch die Vereinten Nationen einen bedeutenden Anteil. Der Dekolonisierungsprozess gilt aber im Völkerrecht seit den 90er Jahren als abgeschlossen. 

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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