Interview mit Wladimir Klitschko - „Durch das ständige Zögern Ihres Kanzlers haben wir viele Menschenleben verloren“

Wladimir Klitschkos Botschaft ist klar: Die Ukraine kämpft weiter. Im Interview kritisiert er den deutschen Bundeskanzler für sein Zögern bei Waffenlieferungen und zieht Parallelen zwischen dem Terror der Hamas in Israel und Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Wladimir Klitschko / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko, 47, galt als einer der besten Boxer im Schwergewicht: Er holte mehrfach den Weltmeistertitel verschiedener Boxverbände und begeisterte durch Geschwindigkeit und technische Präzision. Seit dem Angriff russischer Truppen auf seine Heimat lebt er in der Ukraine. Im Berliner China Club nimmt er sich Zeit für ein Interview.

Herr Klitschko, die ganze Welt schaut nach Israel, wo Terroristen der Hamas über tausend Zivilisten auf brutalste Weise ermordet und über hundert Menschen entführt hatten. Wie blicken Sie als Ukrainer auf diesen Krieg im Nahen Osten?

Wenn ich den terroristischen Überfall der Hamas auf Israel betrachte, dann erinnert mich die politische Situation in Gaza an das damalige Nazi-Deutschland. Wie war das damals in Deutschland? Die Bürger wählten Politiker in die Regierung, die ihnen falsche Versprechen gemacht hatten. Die Politiker ließen sie dann unaussprechliche Verbrechen verüben, schickten sie schlussendlich in einen suizidalen Krieg. Heute brüstet sich die Hamas damit, über tausend israelische Zivilisten ermordet, misshandelt und entführt zu haben. Für den Terror, den ihre politische Führung angezettelt hat, muss jetzt aber die Zivilbevölkerung in Gaza den Preis zahlen. Im Vorgehen der Hamas sehe ich übrigens auch Parallelen zu Russlands brutalem Krieg gegen die Ukraine.

Inwiefern?

Seit anderthalb Jahren schickt Russland Männer in den Krieg, die ukrainische Bürger ermorden, vergewaltigen und ihre Kinder entführen. Wir haben in den ersten Kriegstagen unaussprechliche Gräueltaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung erlebt – nicht nur in Butscha, sondern auch in Borodjanka, Irpin und Hostomel. Russische Truppen hatten ukrainische Zivilisten einfach hingerichtet, und das Morden der russischen Truppen setzt sich heute im Süden und im Osten der Ukraine fort. Welcher Ukrainer denkt bei den schrecklichen Bildern aus Israel nicht an die Kriegsverbrechen der Russen in der Ukraine?

Lassen Sie es mich deutlich sagen: Für jede Vergewaltigung, für jede Deportierung gibt es einen politisch Verantwortlichen. In Russland heißt der Hauptverantwortliche Wladimir Putin. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn war ein richtiger Schritt. Und wenn jetzt die Hamas alle Muslime weltweit zur Jagd auf die Juden aufruft, dann erwarte ich von der internationalen Gemeinschaft genauso, dass sie diesen Terroristen das Handwerk legt. Für diesen barbarischen Krieg muss es Konsequenzen geben.

Die Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte dauert an, im kommenden Winter drohen zudem wieder russische Angriffe auf die Infrastruktur Ihres Landes. Welche Waffen braucht die Ukraine jetzt? Reicht das so genannte „Winterpaket“ der Bundesregierung?

Wir kämpfen jetzt über anderthalb Jahre in diesem Krieg. Der Westen, die gesamte freie Welt, hat uns mit Waffen, mit humanitären Hilfsgütern und mit Geld versorgt. Trotzdem fragt man uns immer: Reicht es? Habt ihr genug, um eure Gegenoffensive erfolgreich führen zu können? Die Nato sagt, wir hätten genügend Unterstützung für die Gegenoffensive erhalten. Aber es ist nie genug, solange wir uns gegen diesen sinnlosen russischen Angriff verteidigen müssen. In der Ukraine findet nicht nur ein Genozid statt, sondern auch ein Ökozid. Russland massakrierte Ukrainer in Butscha, in Irpin, in Isjum. Es sprengte den Kachowka-Staudamm, eine gigantische Umweltkatastrophe war die Folge. Und es verschießt Granaten ganz in der Nähe des Atomkraftwerks in Saporischja, des größten Atommeilers in ganz Europa.

 

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In Deutschland sind Waffenlieferungen an die Ukraine sehr umstritten. So war eine Mehrheit der Deutschen gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. Und Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Lieferung verhindert – aus Angst vor einem Krieg mit Russland. Was sagen Sie den Menschen, die die Taurus-Lieferungen ablehnen? Was sagen Sie Bundeskanzler Scholz? 

Ich weiß nicht, wovon die Leute reden, wenn sie angeblich eine weitere Eskalation verhindern wollen. Die Eskalation ist doch längst da. Es ist ganz einfach: Wir erledigen den Job. Kein einziger deutscher Soldat ist in der Ukraine im Einsatz. Geben Sie uns die Waffen, die wir brauchen. Zögern Sie nicht. Durch das ständige Zögern Ihres Kanzlers haben wir viel Zeit und viele Menschenleben verloren. Je länger sich die Waffenlieferungen hinziehen, desto länger dauert der Krieg. 

Die USA hatten ihre Ukraine-Hilfen aus dem provisorischen Haushalt gestrichen. Trotzdem sichert Präsident Joe Biden der Ukraine seine Unterstützung zu. Machen Sie sich Sorgen, dass es mit Unterstützung aus Amerika bald vorbei sein könnte?  

Natürlich bereitet es uns Sorge, dass in den USA an den politischen Rändern Stimmung gegen die Ukraine gemacht wird. Aber ich bin mir sicher, dass die amerikanische Regierung an unserer Seite bleibt. Es steht auch für die Amerikaner zu viel auf dem Spiel, als dass sie ihre Unterstützung einfach stoppen könnten. Die russische Propaganda sagt offen, dass der Angriff auf die Ukraine nur der Anfang ist. Schon jetzt bedroht Russland die baltischen Länder, Finnland, Moldau, Bulgarien, die Slowakei, Tschechien und Polen. Für Putin ist es das größte Fiasko des vergangenen Jahrhunderts, dass die Sowjetunion zusammen mit dem früheren Warschauer Pakt in sich zusammengefallen ist. Er will dieses Imperium um jeden Preis wiederherstellen.

Polen ist ein Nachbar, der die Ukraine seit Tag Eins in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland unterstützt hat. Doch jetzt gibt es Spannungen – sie begannen mit dem Importstopp günstigen ukrainischen Getreides vonseiten Polens, das seine eigene Landwirtschaft in Gefahr sieht. Jetzt wirft der polnische Kulturminister Piotr Glinski der Ukraine vor, sie würde die Suche nach den sterblichen Überresten von Polen blockieren, die nationalistische ukrainische Truppen der OUN/UPA im Zweiten Weltkrieg ermordet hatten. Wie schätzen Sie das polnisch-ukrainische Verhältnis jetzt ein?

Wir stehen derzeit unter einem enormen Druck, und es kann sein, dass gewisse Aussagen gegenüber Polen falsch waren. Aber unsere Völker, die Ukrainer und die Polen, ziehen weiterhin an einem Strang. Daran ändern auch einzelne Aussagen polnischer Politiker nichts. Schauen wir einmal auf die Fakten: Seit 2014, dem Beginn von Russlands Aggression gegen die Ukraine, steht Polen an unserer Seite. Und so wird es auch bleiben. Der Weg, den wir jetzt gemeinsam mit Polen in diesem Krieg beschreiten, ist lang und steinig. Aber das sind alles Hindernisse, die wir gemeinsam überwinden werden. Davon bin ich überzeugt.

Kurz nach Beginn des Krieges haben Sie die russische Bevölkerung in Videobotschaften aufgefordert, den Krieg ihrer Regierung zu stoppen. Der geht aber unvermindert weiter. Was würden Sie den Bürgern Russlands jetzt sagen, nach allem, was die Ukraine inzwischen durchlitten hat?  

Ich könnte den Russen jetzt vieles sagen. Aber man wird mich in Russland nicht hören. Denn inzwischen hat die russische Regierung sämtliche soziale Medien abgeschaltet. Jetzt versuchen Priester der russisch-orthodoxen Staatskirche ihren Gläubigen sogar weiszumachen, der freie Zugang zu Informationen im Internet sei eine Sünde. Denn Putin will nicht, dass die Russen die Wahrheit über das erfahren, was in der Ukraine passiert.

Die Folge: In Russland gibt es nur noch staatliche Medien, nur noch die Sichtweise der offiziellen Propaganda. Für viele Russen lohnt es sich sogar, in den Krieg zu ziehen, denn sie erhalten für ihre Teilnahme am verbrecherischen Krieg ihrer politischen Führung ein stattliches Gehalt. Sie dürfen sogar Güter, die sie von Ukrainern geraubt hatten, nach Russland mitnehmen. Dadurch wird es immer schwerer, an die Ohren und an die Augen der Russen heranzukommen. Es wird lange dauern, bis auch die einfachen Russen verstanden haben werden, dass ihre politische Führung mit dem Krieg gegen die Ukraine einen kolossalen Fehler begangen hat.

Gestohlene Leben. Die
verschleppten Kinder der
Ukraine
“ von Wladimir Klitschko
und Tatjana Kiel (Heyne Verlag,
September 2023)

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass er sich nach dem Ende des Krieges nicht mehr einer Wiederwahl stellen möchte. Auch wenn ein Ende des Krieges noch nicht absehbar ist: Hat Ihr älterer Bruder Vitali Klitschko, wie Sie ein früherer Boxweltmeister, das Zeug zum Nachkriegspräsidenten? Würden Sie ihn und seine Partei UDAR im Wahlkampf unterstützen?

Mein Bruder ist schon seit längerem in der Politik, und ich habe ihn immer unterstützt. Dadurch bewege ich mich auf dem politischen Feld, auch wenn ich kein Politiker bin und in diese Richtung auch keine Ambitionen hege. Ich bin in die Ukraine zurückgekehrt, weil ich vorrangig meinem Land dienen will. Wer Präsidentschaftskandidat werden wird und wer nach den Wahlen welchen Posten im Kabinett erhält, das wird sich erst nach dem Krieg entscheiden und ist einigermaßen ferne Zukunft. Als Bürgermeister unserer Hauptstadt steht mein Bruder aktuell unter enormem Druck, denn das wichtigste Ziel der russischen Invasion war die Einnahme Kiews. Daran sind die Russen gescheitert, diese Herausforderung konnten wir meistern. Trotzdem läuft in der Innenpolitik unserer Heimat leider nicht alles so, wie ich es mir wünschen würde.

Wie meinen Sie das?

Es ist meine tiefe Überzeugung, dass die lokale Selbstverwaltung das Fundament der ukrainischen Demokratie ist. Sie darf auf keinen Fall gefährdet werden. Leider versucht die Regierung derzeit, die Kompetenzen der lokalen Selbstverwaltung zu beschränken. Aber diesem Krieg haben wir einen gemeinsamen Feind, gegen den wir an einer Front stehen müssen. Dieser Feind, gegen den wir zusammen kämpfen, das ist Putins Russland. Solange wir uns gegen diesen Feind im Krieg befinden, sind alle innenpolitischen Differenzen zweitrangig.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

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