Großbritannien - Rekordzuwanderung und Kontrollverlust

Seit Jahren versprechen die britischen Premierminister ihren Bürgern, die Migrationszahlen zu verringern. Doch das Gegenteil ist der Fall: 2022 erreichte die Nettozuwanderung einen neuen Höchststand. Sogar der Verrat am Brexit steht nun im Raum.

Gefangen zwischen volkswirtschaftlichen Sachzwängen und dem Unmut der Bevölkerung: Rishi Sunak / picture alliance
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Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Wenn über Zuwanderung gestritten wird, können die Konservativen nur verlieren. Das weiß auch Rishi Sunak. Deshalb zeigt der Premierminister und Parteichef der Tories seit Monaten so wenig Interesse an dem Thema, das sich kaum dazu eignet, die Stimmung im Land noch rechtzeitig bis zu den Parlamentswahlen 2024 zu seinen Gunsten zu drehen.

Jetzt ist er mit dieser Strategie gescheitert: Wegschauen und Ablenken sind keine Optionen mehr, seit in Rundfunk, Zeitungen und den sozialen Netzwerken heftig über die neue Rekordzahl diskutiert wird: 606.000 Menschen. Das ist die Nettozuwanderung für das Jahr 2022, also die Zahl der Zuwanderer nach Abzug derjenigen, die das Vereinigte Königreich im gleichen Zeitraum verließen. So viele hat die Nationale Statistikbehörde noch nie gemeldet. Im Jahr zuvor waren es noch 488.000.

Von einem „völligen Vertrauensbruch zwischen Wählern und Regierung“ spricht Nigel Farage, der schon als Anführer der Brexit-Kampagne ein ausgeprägtes Gespür für die Stimmung im Land bewies. Jetzt tourt er wieder durch Radio- und Fernsehstudios, so wie er das immer macht, wenn der Volkszorn eine Projektionsfläche sucht. Mit seinen Empörungsritualen ist er nicht allein. Auch die Leitartikler auf der populistischen Rechten haben das Thema für sich erkannt.

Vorwurf: Verrat am Brexit

Die Redaktionen des Daily Express und der Daily Mail nennen den Anstieg der Zuwanderung einen Verrat am Brexit. Schließlich sollte mit dem Austritt aus der Union die EU-Personenfreizügigkeit enden und damit die Kontrolle über die Staatsgrenzen zurückgewonnen werden. Farage erklärte das seinem Publikum so: Brexit bedeutet weniger Fremde, die um knappen Wohnraum, darbende medizinische Versorgung und gute Arbeitsplätze konkurrieren. Einem Drittel der Brexit-Wähler ging es beim Votum 2016 tatsächlich vor allem um bessere Kontrolle und eine Reduzierung der Zuwanderung, bestätigt der Meinungsforscher Lord Ashcroft.

Seitdem hat sich die Nettozuwanderung verdoppelt. Eine Blamage für die konservative Regierung ist diese Entwicklung auch deshalb, weil seit David Cameron 2010 jeder Regierungschef der Tories eine deutliche Reduzierung der Migrationszahlen versprach. Auf „einige Zehntausend, ohne Wenn und Aber“ sollte die Zuwanderung sinken, versicherte Cameron. Seine Innenministerin und Nachfolgerin Theresa May wiederholte die Zusage. Boris Johnson machte das Versprechen „Take back Control“ zur Kernaussage seines Erfolgswahlkampfes 2019. Bei seinen Wählern galt es als ausgemacht, dass mit „Control“ Kontrolle und Drosselung der Zuwanderung gemeint sei.

Seit ihrer Ernennung im September 2022 hat sich Innenministerin Suella Braverman, ein Liebling des rechten Flügels der konservativen Partei, die alte Forderung Camerons zu eigen und sich damit zur Anführerin der empörten Basis gemacht. Im Mai warnte sie gar davor, die Briten könnten es verlernen zu arbeiten, wenn sie sich auf die Dienste der Migranten verließen. Die Rede sorgte für Aufsehen. Schließlich ist es nicht üblich, dass eine Ministerin sich öffentlich von der Bilanz ihrer eigenen Regierung distanziert.

Labour positioniert sich als Antimigrationspartei

Der Premierminister kann sich solch kritische Stimmen aus den eigenen Reihen nicht leisten. In den Umfragen liegt seine Partei nach wie vor um 16 Prozentpunkte hinter der oppositionellen Labour-Partei. Deren Vorsitzender Keir Starmer nutzt die jüngste Empörung der Wähler aus. Seine innenpolitische Sprecherin Yvette Cooper lässt er den „kompletten Kontrollverlust“ der Regierung ebenso geißeln wie den 119-prozentigen Anstieg von Visa für Arbeitsmigranten.

Mit der Positionierung von Labour als Antimigrationspartei will Starmer um Stimmen der Tory-Anhänger werben, von denen laut einer aktuellen Umfrage der Meinungsforscher von Ipsos 40 Prozent sich eine Drosselung der Migration selbst dann wünschten, wenn Unternehmen und der Gesundheitsdienst offene Stellen ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland nicht mehr besetzen könnten.

Was das Publikum von Starmer nicht erfährt, ist ein Konzept, mit dem Labour nach einer Regierungsübernahme die Zahlen senken würde. Vor dieser Frage drücken sich beide große Parteien. Denn unter den Beratern von Starmer sowie Sunaks Mitarbeitern in 10 Downing Street geben Pragmatiker den Ton an, die daran erinnern, dass der Arbeitsmarkt qualifizierte Migranten dringend benötigt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 3,5 Prozent, und seit der Covid-Pandemie haben 400.000 Menschen dem Arbeitsmarkt dauerhaft den Rücken gekehrt.

Britischer Arbeitsmarkt ist auf Migration angewiesen

Wie angespannt die Personallage in manchen Gewerben ist, bemerkten Konsumenten 2021, als Regale in Supermärkten leer blieben, weil es an LKW-Fahrern fehlte. Kurzfristig wurden Arbeitsvisa an Fahrer aus dem Ausland vergeben. Widerwillig nur, denn der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitnehmern sollte – so kündigte es die Regierung Johnson an – in der Post-Brexit-Ära ohne Zuwanderung gedeckt werden.

Mit höheren Löhnen und besserer Ausbildung für britische Arbeitskräfte sollten Unternehmen Lücken schließen. Die bequeme Lösung, Visa an ausländische Bewerber zu vergeben, war allenfalls für hochqualifizierte Fachkräfte in Handwerk und Industrie vorgesehen. Premierminister Johnson versprach ein Punktesystem nach australischem Vorbild, mit dem der Zugang zum britischen Arbeitsmarkt restriktiv geregelt werden sollte.

Eines der liberalsten Regelwerke der Welt

Die Vorstellung gefiel seinerzeit sogar Nigel Farage, der sich heute hintergangen fühlt. Tatsächlich schuf die Regierung Johnson seinerzeit ein Regelwerk, das zu den liberalsten der Welt zählt und den rasanten Anstieg der Arbeitsmigration erklärt. So hat in Großbritannien heute Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis, wer die Zusage für einen Job mit 20.400 Pfund Jahresverdienst erhält. Unternehmen wird erlaubt, jede freie Stelle international zu bewerben und neu aus dem Ausland Rekrutierte untertariflich zu bezahlen.

Die Unternehmensverbände sind zufrieden und lehnen eine Änderung der Regeln mit Verweis auf die Statistiken ab, die immer noch 1,1 Millionen offene Stellen ausweisen. Zudem erinnern Wirtschaftslobbyisten gerne daran, dass internationale Firmen in Großbritannien auf einen offenen Arbeitsmarkt angewiesen sind, um die besten Talente weltweit zu rekrutieren. Ein oft genanntes Beispiel ist die Softwarefirma Arm, in deren Laboren in Cambridge 40 Prozent der Mitarbeiter in der Entwicklung von Semikonduktoren international angeworben wurden. Inzwischen macht es der Staat den Unternehmen nach und lockt mit einer £-10.000-Prämie nigerianische und indische Lehrer für den Schuldienst in Großbritannien an.
 

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Neben solchen ökonomischen Interessen berücksichtigt die Migrationspolitik der Regierung auch politische und humanitäre Erwartungen, indem sie 2022 die Aufnahme von 114.000 Ukrainern ermöglichte und 52.000 Chinesen aus der vormaligen Kronkolonie Hongkong ein neues Zuhause bot, deren Freiheitsrechte unterdrückt werden.

Mitgezählt werden in der Migrationsstatistik auch Studenten, die mit rund 500.000 erteilten Visa die größte Gruppe ausmachen. Für die Hochschulen sind vor allem chinesische und indische Studenten längst zu einer unentbehrlichen Einkommensquelle geworden, weil sie das Mehrfache der Gebühren zahlen, die Universitäten britischen Kommilitonen berechnen dürfen. Für Studenten aus Asien und Afrika war Großbritannien 2022 besonders beliebt, weil die USA als Alternative des starken Dollars wegen zu teuer wurden. Außerdem locken britische Universitäten Studenten mit dem Angebot, nach dem Abschluss noch für mindestens zwei Jahre im Vereinigten Königreich zu bleiben und Arbeit zu suchen.

Quadratur des Kreises für Sunak

Es zeichnet sich ein Szenario ab, das Rishi Sunak wie die Quadratur des Kreises erscheinen muss. Eine Weigerung, Flüchtlinge aus Hongkong und der Ukraine zurückzuweisen, kann sich die Regierung aus politischen und humanitären Gründen nicht erlauben. Aber auch die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt steht nicht zur Disposition, um volkswirtschaftlichen Schaden zu vermeiden. Ähnliches gilt mit Blick auf die ausgegebenen Arbeitsgenehmigungen für Menschen in medizinischen und Pflegeberufen. Das sind mehr als die Zahl der Visa in Industrie und Handwerk, seit der staatliche Gesundheitsdienst NHS verzweifelt nach 130.000 neuen Mitarbeitern sucht, um sich endlich um die sieben Millionen Patienten zu kümmern, die oft viele Monate auf einen Termin im Krankenhaus warten.

Der Pragmatiker Rishi Sunak kann sich dieser Realität nicht verschließen. Gleichzeitig darf er sich nicht völlig den Hardlinern in Fraktion und Partei verweigern, die bei ihren Wählern im Wort stehen, die Zuwanderung drastisch zu reduzieren. Immerhin gab Downing Street 10 jetzt ihrer Forderung nach, die Visaregelung weitgehend zu streichen, die es Studenten bisher gestattete, Familienmitglieder nach Großbritannien für die Dauer der Ausbildung mitzubringen. Im vergangenen Jahr machten immerhin 85.000 Angehörige davon Gebrauch. Weitere acht Prozent der Zuwanderung geht auf Asylbewerber zurück, deren Zahl nach Plänen der Regierung mit Abschiebungen in ihre Heimat oder einen Drittstaat radikal reduziert werden soll.

Erstmals addierten die staatlichen Statistiker Flüchtlinge, die einen Antrag auf Asyl stellen, zu den Personen mit Arbeits- oder Studentenvisa. Diese Vermischung der Kategorien half der politischen Diskussion wenig und schien diejenigen zu bestätigen, die Migranten pauschal als „Problemgruppe“ wahrnehmen. Lediglich die Zuwanderung aus der EU taugt inzwischen nicht mehr zum innenpolitischen Zank, seit sich die Zahlen ins Negative verkehrt haben und mehr EU-Bürger ausreisen als neu ankommen.

Die Regierung kann die Zuwanderung nur bedingt kontrollieren

Unterdessen betreibt Premierminister Sunak Schadensbegrenzung und versucht gleichzeitig, die Fehler seiner Vorgänger nicht zu wiederholen. Er bemüht sich, die aufgebrachten Gemüter in Fraktion und Parteibasis zu beruhigen. In einem Beitrag im Daily Express zeigt er sich entschlossen, die Vergabe von Visa zu beschränken. Auf eine Zahl lässt er sich zunächst nicht festlegen, verrät dann aber Beth Rigby, der politischen Korrespondentin des TV-Senders Sky, dass es weniger als 500.000 sein sollten.

Diese bewusst wenig ambitionierte Vorgabe hält Madeleine Sumption, die Leiterin des Migration Observatory in Oxford, für realistisch. Ihrer Ansicht nach sind die Zahlen bereits seit September vergangenen Jahres rückläufig. Eine Tendenz, die in den jetzt veröffentlichten Zahlen noch nicht sichtbar werde. Die Zahl der ukrainischen Neuankömmlinge geht zurück, und auch aus Hongkong werden künftig weniger Zuwanderer erwartet. Das wird die Debatte beruhigen und Sunak in den Monaten bis zur Neuwahl 2024 dabei helfen, die eigenen Reihen zu schließen.

Was bleibt, ist die Einsicht, dass die Regierung die Zuwanderung nach Großbritannien nicht kontrollieren kann. Stattdessen spiegeln die Zahlen volkswirtschaftliche Sachzwänge und weltpolitische Ereignisse wider. Dem Wunsch der Wähler und dem politischen Willen der Regierung aber scheint sich die Entwicklung des Migrationsaufkommens zu entziehen.

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