Falsche Analysen, Empfehlungen und Schlagworte - „Friedensforschung lieferte den Überbau für eine illusionäre Russlandpolitik“

Der Sicherheitsforscher Joachim Krause macht die von der Politik geförderte Friedensforschung dafür mitverantwortlich, dass Deutschland die Aggressivität des russischen Regimes jahrzehntelang ignorierte. Auch dem Bundeskanzler stellt er kein gutes Zeugnis aus.

Bombenschutzkeller im ukrainischen Lyman / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

So erreichen Sie Ferdinand Knauß:

Anzeige

Prof. Joachim Krause ist Chefredakteur von Sirius - Zeitschrift für strategische Analysen und war bis zum Jahr 2022 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen internationale Politik und Sicherheit, Terrorismusstudien sowie transatlantische Beziehungen.

Herr Krause, Sie haben kürzlich eine „strategische Blindheit“ in Deutschland festgestellt und dies auch auf mangelnde Beschäftigung mit Fragen der internationalen Sicherheit an den Universitäten zurückgeführt. Nun gibt es aber zahlreiche Institute für „Friedens- und Konfliktforschung“. Was haben Sie an denen auszusetzen?

Aus der Friedensforschung kamen in den vergangenen 25 Jahren mit Blick auf Russland genau jene falschen Analysen, Empfehlungen und Schlagworte, die die Bundesregierung in ihrer fehlgeleiteten Politik bestätigt haben. Sie lieferte geradezu den ideologischen Überbau für eine von Illusionen und Selbsttäuschungen geprägte deutsche Russlandpolitik. Als Russland 2014 die Krim annektierte und mithilfe von Spezialtruppen und nationalistischen Freischärlern im Donbass einen „Bürgerkrieg“ inszenierte, da sprach das Friedensgutachten der fünf wichtigsten Institute der Friedensforschung nicht von einer russischen Annexion und davon, dass Russland Grenzen revidieren wolle. 

Auch wurde nicht die russische Politik der Hochrüstung angesprochen, oder dass Moskau die strategische Herausforderung des Westens betreibe. Vielmehr wurde nach Gründen geforscht, was der Westen falsch gemacht haben könnte, sodass Russland diese völlig unverständlichen Schritte unternommen habe. Auch wurde von den Friedensforschern bar jeglicher Kenntnis vor Ort behauptet, dass die Bevölkerung der Krim doch wohl mehrheitlich den Anschluss an Russland befürworte.

Wen genau meinen Sie?

An erster Stelle ist hier das größte Friedensforschungsinstitut zu nennen, die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter der HSFK veröffentlichten 2017 einen Aufsatz, in dem sie den westlichen Staaten die Schuld an Moskaus Politik gegenüber der Ukraine zuschoben. Die 1990 von den westlichen Staaten und der Sowjetführung unterschriebene Charta von Paris – das „Grundgesetz“ der internationalen Ordnung in Europa – sei ein Missverständnis gewesen, Russland habe sich in berechtigter Weise aus der liberalen Ordnung des Westens befreit und habe Ansprüche darauf zu verhindern, dass sich die Erweiterung der Nato fortsetze. 

Von Vertretern der Osteuropawissenschaft wurde das seinerzeit zu Recht als Freibrief für die Wiederherstellung einer russischen Vorherrschaft im postsowjetischen Raum kritisiert. Aus dem Bereich der strategischen Wissenschaften wurde mit ziemlicher Klarheit erkannt, dass Putin einen Weg der Revision von Grenzen geht, und dass seine 2011 begonnene Politik der Hochrüstung nichts Gutes verheißt. Ich will nicht alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haftbar machen, die an Universitäten und Forschungsinstituten Friedensforschung betrieben haben. Aber das war die vorherrschende Meinung in diesem Bereich.

Woran liegt es, dass Fragen der internationalen Sicherheit an deutschen Universitäten ein Schattendasein führen? Geht dieser Widerwillen, sich mit militärischen Fragen zu befassen, auf die historischen Erfahrungen vor 1945 zurück? 

Das war sogar schon vorher so. Selbst im Kaiserreich. Der Historiker Hans Delbrück hat mal gewagt, kritische Aussagen zur Militärpolitik des Kaiserreichs zu machen. Der wurde von damaligen Politikern ganz furchtbar zusammengestaucht. Und auch von der militärischen Führung. Damals hieß es, solche Fragen gingen Zivilisten nichts an. Diese Einstellung ist heute nicht mehr da. Aber in der alten Bundesrepublik gab es eine starke Ablehnung gegen die Befassung mit militärischen und strategischen Fragen angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

In den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik ließ sich gerade eine Handvoll Professuren für internationale Politik an deutschen Universitäten finden. In den späten 1960er Jahren bildete sich dann eine Arbeitsgemeinschaft  Friedens- und Konfliktforschung, in der Vertreter einer eher progressiv und kritisch gegenüber der westlichen Politik orientierten „Friedensforschung“ und eher traditionelle Wissenschaftler – die Konfliktforscher – zusammenfanden, um gemeinsam dafür zu werben, dass mehr Forschungsmittel für das Gebiet der internationalen Beziehungen aufgewandt werden. Tatsächlich wurde 1970 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) gegründet, die auch viele Projekte hat fördern können. Die ursprüngliche Idee war auch gar nicht schlecht. Aber diese Friedens- und Konfliktforschung ist im Laufe der Jahre weitgehend von den „kritischen Friedensforschern“ dominiert worden

Wie sind die so dominant geworden?

Das lag an der politisch motivierten Wissenschaftsförderung in SPD-regierten Ländern, besonders in Hessen, wo die HSFK viele Jahre vom Land gefördert wurde, und in Hamburg, wo Ende der 1960er Jahre das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg geschaffen wurde.  Das Hamburger Friedensforschungsinstitut produzierte Anfang der 1980er Jahre alternative militärische Kräftevergleiche, die die Politik der damaligen, von Helmut Schmidt geführten Bundesregierung grundsätzlich infrage stellten.

Wissenschaftliche Seriosität war nicht das Hauptziel, sondern die möglichst öffentlichkeitswirksam vorgetragene Kritik. Die HSFK verhielt sich damals zurückhaltender, blieb aber bei ihrer kritischen Ausrichtung. Die DGFK wurde 1983 aufgelöst, nachdem die bayerische Landesregierung auf der Basis eines wissenschaftlichen Gutachtens, welches die ideologische Ausrichtung vieler Projekte kritisiert hatte, sich aus der Finanzierung herauszog. Dennoch blieb es bei der Förderung durch sozialdemokratische und grüne Landespolitik.

Und später?

Im Jahr 2000 hat dann die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn von der SPD mit 50 Millionen D-Mark die Deutsche Stiftung Friedensforschung gegründet, die explizit das Ziel hatte, Projekte und Institutionen der Friedensforschung – nicht mehr der Konfliktforschung – zu unterstützen. Politik und Gesellschaft, so Frau Bulmahn, „brauchen eine kritische Wissenschaft, die dazu beiträgt, dass Konflikte gewaltfrei gelöst werden können“. Die Betonung lag auf „kritisch“. Das hat dazu geführt, dass Institute wie das in Hamburg oder in Frankfurt sowie andere Einrichtungen und Lehrstühle immer wieder Forschungsgelder bekommen konnten. Und die Zusammensetzung der Gremien hat dafür gesorgt, dass das Geld weitgehend in  der  kritischen  Friedensforschung blieb. Und die zeichnete mehrheitlich ein völlig anderes Bild von der internationalen Politik als die Experten der klassischen internationalen Politikforschung und der strategischen Studien im In- und im Ausland.

Was ist das „Kritische“ an der Friedensforschung?

Zum einen die Ablehnung von Abschreckung und von Militär als Instrument der Politik von Staaten generell. Zum Zweiten die Vorstellung, wonach Konflikte aus Missverständnissen und Misstrauen entstehen  und dass es darauf ankomme, Konflikte durch gutes Zureden und Vertrauensbildung zu bearbeiten. Vor allem gehe es darum, Rüstungswettläufe zu verhindern oder zu beenden. Rüstungskontrolle solle helfen, Missverständnisse zwischen Staaten über deren Rüstungsvorhaben abzubauen. In dieser Vorstellungswelt gibt es keine Feinde mehr.

Es gibt aber Gegner: Das sind jene in der westlichen Welt, die mit diesem Denken nicht einverstanden sind – und das sind dann meistens die USA. Es ist ja im Prinzip nicht falsch, bei Konflikten erst einmal zu versuchen, ob man diese mit gegenseitigem Vertrauen und Gesprächen zu lösen vermag – das ist der Standard der amerikanischen und westeuropäischen Diplomatie seit über 100 Jahren. Und Rüstungskontrolle kann auch ein wichtiges Instrument der Diplomatie sein. Aber zu leugnen, dass es auch Staaten gibt, die uns feindlich gegenüberstehen, bedeutet, dass man aus der Konfliktbearbeitung eine Art Ideologie macht. Und Wissenschaft und Ideologie sollten sich eigentlich gegenseitig ausschließen.

Waren diese Institutsgründungen zur Begleitung der neuen Ostpolitik der 1970er Jahre gedacht?

Das war der eigentliche Zweck der Institutsgründungen in Hamburg und Frankfurt. Besonders der Gründungsdirektor des Hamburger Instituts, Wolf Graf Baudissin, hat dazu auch gute inhaltliche Vorgaben gegeben. Bis Ende der 1970er Jahre war die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entspannungspolitik auch ein lohnendes Feld für Analysen, die übrigens keinesfalls nur von Friedensforschern 
betrieben wurde. 

Aber spätestens ab 1979 war klar, dass die hohen Erwartungen, die sich mit der Entspannungspolitik verbanden, unerfüllbar waren. Ab dann trennten sich die Wege jener Vertreter der Wissenschaft, die die Gründe des Scheiterns in Fehlern westlicher Regierungen sahen – und das waren die überwiegend kritischen Friedensforscher –, und jener, die das sowjetische System und die letztlich doch sehr aggressive, militarisierte Politik der Sowjetführung für das Ende der Entspannungspolitik verantwortlich machten.

Dass viele Westdeutsche sich vor 1990 mit sicherheitspolitischen Fragen nicht beschäftigen wollten, ist ja durchaus  auch  nachvollziehbar. Die Bundesrepublik  war schließlich kein eigenständiger Akteur der Sicherheitspolitik.

Sie war eigentlich souveräner, als man gedacht hat, wenn man sich die Politik von Adenauer, Brandt, Schmidt oder Kohl ansieht. Aber es gab eben wirklich eine Abneigung im akademischen Bereich, sich mit strategischen Fragen und militärischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Und die wenigen, die es wissenschaftlich getan haben, saßen eher nicht an den Universitäten, sondern an Forschungsinstituten, wie 
etwa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Oder bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). An den Universitäten waren solche Studien eher die Ausnahme. 

Und nach 1989 hielt man dann den Konflikt für erledigt und damit auch die dazugehörige Forschung? 

Nicht ganz, die SWP und die DGAP gibt es immer noch. Und eine Reihe weiterer Thinktanks ist hinzugekommen, in denen munter über strategische Fragen diskutiert wird. Aber nach 1990 wurde die Osteuropawissenschaft in Deutschland weitgehend eingestellt. Es gab einmal ein Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln, welches einfach aufgelöst wurde. Aber an Universitäten gab es für Lehrkräfte wie für Studierende praktisch keine Möglichkeit, sich mit strategischen und militärwissenschaftlichen Themen zu befassen. 

Aber wieso hat sich die Friedensforschung damit nicht auch erledigt?

Die suchte sich erfolgreich neue Aufgabenfelder. Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung, Exportkontrolle und die wissenschaftliche Begleitung von Friedensmissionen wurden die neuen Themen. Gerade die HSFK in Frankfurt hat in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in dieser Hinsicht interessante und international beachtete Forschungsergebnisse aufweisen können. Aber mit dem sich abzeichnenden Konflikt mit Russland, der einzig von Russland ausging und dessen Dynamik vom autoritären russischen Regierungssystem ausgeht, hat sich die Friedensforschung in Deutschland wieder in die alten ideologischen Argumentationsmuster begeben.

Viele Universitäten haben eine sogenannte Zivilklausel eingeführt, mit der sie sich jede Zusammenarbeit mit der Bundeswehr oder anderen militärischen Institutionen verbieten. 

Das sind nur einige Universitäten, manche von denen haben das schon vergessen, andere praktizieren das mit großem Eifer und machen Wissenschaftlern das Leben schwer, die sich mit Sicherheitspolitik und Strategie beschäftigen. 2014 hat der Hochschulverband, also  die Vertretung aller deutschen  Hochschullehrer, in einer Resolution festgestellt, dass diese Klauseln verfassungswidrig sind, weil sie in unzulässiger Weise in die Wissenschaftsfreiheit eingreifen. Ich würde mir wünschen, dass die Kultusminister des Bundes und der Länder diese Resolution übernehmen und den betreffenden Universitäten klarmachen, dass sie sich verfassungswidrig verhalten, wenn sie die Zivilklausel praktizieren. Und Verstöße könnte man mit Sanktionen belegen.

Wie ist denn das Interesse der Studenten an sicherheitspolitischen und strategischen Studien?

An der Universität Kiel hatten wir oft mit militanter Stimmungsmache gegen unser Institut zu tun, die uns Militarismus vorwarfen. Oft kam das aus dem Asta, also der offiziellen Studentenvertretung. Aber die Studenten selbst sahen das ganz anders. Ich hatte großen Zulauf, wenn ich entsprechende Lehrveranstaltungen zur Sicherheitspolitik angeboten habe. Es gibt heute an vielen Universitäten sicherheitspolitische Hochschulgruppen, die von Studenten begründet wurden. An der Universität Bonn kann man demnächst einen Master in Strategy and International Security machen. Soweit ich gehört habe, ist die Nachfrage sehr groß. Den linken und grünen Studentenvertretern in den Astas ist gar nicht klar, wie sehr sie ihren interessierten Kommilitonen den Weg verbauen.

Wie steht es um das strategische Denken in der Bundesregierung und generell in der politischen Klasse? 

Schlecht. Wir haben einen  Bundeskanzler, der kein strategischer Denker ist. Wir haben einen Verteidigungsminister, dem ich zutraue, strategisch zu denken. Aber er ist der erste seit Jahrzehnten. Das strategische Denken in Deutschland ist unterbelichtet. Wir haben das in den vergangenen Jahren erlebt: Bedrohungen wurden völlig ignoriert. Und wer sich in der Wissenschaft dennoch dazu äußerte, der wurde als „Kalter Krieger“ abqualifiziert. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat hier durchaus eine Wirkung erzeugt. Aber ich bin nicht sicher, ob diese Wirkung lange anhält.

Außenministerin Annalena Baerbock hat mit ihrer „feministischen Außenpolitik“ den Anspruch eines strategischen Zieles.

Wir haben immerhin eine nationale Sicherheitsstrategie, und das ist auch gut so. Die geht auch davon aus, dass es eine Bedrohung durch Russland gibt. Aber sie belässt es bei allgemeinen Formulierungen. Es gibt nun auch ein Strategiepapier zu China. Das ist auch nicht schlecht. Aber mit Blick auf die Umsetzung passiert nicht viel. Versprochen wird es ja immer  wieder, etwa die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ich bin da nicht sehr optimistisch. Deutschland liegt etwa bei 1,5 Prozent, und es ist nicht absehbar, dass auch unter Einsatz des Sondervermögens bis 2025 die 2 Prozent erreicht werden können. 

Es geht auch nicht nur ums Geld. In Deutschlands Verteidigungspolitik herrschen ein jahrzehntealtes Missmanagement und die Abwesenheit strategischer Vorgaben vor. Die deutschen Verteidigungsminister der letzten 25 Jahre haben sich nicht für strategische Fragen interessiert und überhaupt kein Interesse an der Auseinandersetzung mit militärischen Bedrohungen seitens Russlands gezeigt. Ursula von der Leyen etwa hat sich hauptsächlich für die soziale Versorgung und die Ausstattung der Kasernen interessiert und Millionen in Beratungsleistungen für das Management des Beschaffungswesens investiert, die nichts bewirkt haben. Der jetzige Minister Boris Pistorius setzt deutlich andere Akzente, und ich wünsche ihm viel Erfolg. 

                                Joachim Krause / Isolda Tast

Ist es nicht erstaunlich, dass ausgerechnet Politiker der Grünen, die der Bundeswehr und allem Militärischen bislang reserviert gegenüberstanden, nun die militärische Unterstützung der Ukraine fordern? 

Offenbar haben auch bei den Grünen viele gemerkt, dass man mit Pazifismus im Ernstfall in eine riskante Falle geraten kann. Und dass es einen Unterschied gibt zwischen wohlgesinnten Mächten und solchen wie Russland, die imperialistisch sind. Ob sich diese Erkenntnis nun auch in der akademischen Welt fortsetzt, bleibt abzuwarten. Zwar kritisieren jetzt auch die Friedensforschungsinstitute in ihren jüngsten Gutachten den russischen Überfall auf die Ukraine. Aber von einer kritischen Bewertung der eigenen Rolle bei der ideologischen Rechtfertigung der blauäugigen deutschen Politik gegenüber Russland habe ich noch nichts vernehmen können. All die Fehler der deutschen Politik gegenüber Russland sind vorgedacht oder bestätigt worden in den Kreisen der Friedensforschung.

Welchen strategischen Rat möchten Sie der Bundesregierung und dem Westen generell für die Politik gegenüber Russland geben? 

Dem Überfall Russlands auf die Ukraine ging ein Ultimatum an die Nato und die USA voraus, in dem gefordert wurde, keine weiteren Mitglieder in die Nato aufzunehmen, ausländische Truppen aus den neuen Mitgliedstaaten vollständig abzuziehen und die amerikanischen Kernwaffen aus Europa zu entfernen. Im Fall der Ablehnung wurden militärische Maßnahmen angedroht – das war dann der Überfall auf die Ukraine. 

Dieser sollte nur einige Tage andauern, dann wäre nach einigen Wochen eine Intervention im Baltikum gekommen. Es ist wegen des erbitterten und erfolgreichen Widerstands der Ukrainer anders gekommen, aber die langfristigen strategischen Ziele Putins und seiner Entourage sind geblieben. Russland will sich den Rest Europas auf die eine oder andere Weise unterwerfen. Das würde für uns das Ende einer jahrzehntelangen Phase des Friedens, der Freiheit, der Demokratie und des Wohlstands bedeuten. Diese Herausforderung gilt es im Blick zu behalten. Sie würde dann zu einer realen Gefahr werden, wenn Putin sich mit seiner Strategie durchsetzt, wonach er den Krieg nur lange genug führen muss, bis der Westen einknickt.

In der Bundesregierung – genauer gesagt in der Person des Bundeskanzlers – wird primär auf das Risiko einer Eskalation des Ukrainekriegs in Richtung eines Krieges zwischen Nato und Russland geschaut.

Dieses Risiko einzukalkulieren, ist richtig, aber angesichts der militärischen Schwäche Russlands ist es nicht gerade akut. Es würde nicht schaden, wenn die Bundesregierung sich dazu durchringen würde, den Blick zu weiten und auch begrenzte Eskalationsmöglichkeiten im Krieg einzukalkulieren. Darum halte ich die Entscheidung des Bundeskanzlers gegen die Weitergabe von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine für falsch. Denn die Ukraine sollte den Krieg gewinnen – und zwar möglichst bald.

Das Gespräch führte Ferdinand Knauß. 

 

Anzeige