Europa-Gipfel in Moldau - Europäische Union muss Führungsfähigkeit herstellen

Der russische Angriff auf die Ukraine weckte die Europäische Union aus ihrem geopolitischen Dornröschenschlaf - doch mangelte es ihr zuletzt an Führungsfähigkeit. Auf dem Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Moldau muss die EU das Heft des Handelns nun endlich in die Hand nehmen.

Maia Sandu, Wolodymyr Selenskyj und Emmanuel Macron auf dem Europa-Gipfel in Moldau / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Es ist einige Zeit her, da lautete das Modethema, das die Diskussion über den Fortgang der EU beherrschte: „Erweiterung oder Vertiefung?“ Es war einer der typischen Karussell-Diskurse, die sich jahrelang um sich selbst drehen, sich verselbständigen und mit der Zeit weniger und weniger Realitätsbezug aufweisen.

Bekanntlich wurde die Frage mit „keines von beidem" beantwortet. Die EU ließ den Erweiterungsprozess in Südosteuropa schleifen und simulierte auch die Vertiefung nur, beispielsweise als sich kurz nach dem Brexit-Votum mehrere Außenminister in Tegel trafen, „die Briten sind weg“ feierten und alle Beobachter rätseln ließen, in welcher Welt sie mental zu Hause sind. Nach innen und außen schliefen die Verantwortlichen einen für die EU äußerst ungesunden geopolitischen Schlaf (sofern nichts anderes dahintersteckte). 

Geopolitische Herausforderung durch Russland

Weder die Migrationskrise noch der sie begleitende Aufstieg nationalpopulistischer Parteien, weder Trumps America First noch die Pandemie waren ausreichend kraftvolle Entwicklungen, um die EU geopolitisch anzutriggern. Das gelang erst dem russischen Präsidenten Putin und seiner Entscheidung, einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine zu führen. Ignoranz, Erschrecken und Erstaunen wichen unter tatkräftiger Hilfe der USA aus den Regierungen der EU-Staaten. Bei einigen ging dies sehr schnell, andere trödelten noch herum und dritte fantasierten von innerslawischen Konflikten. Aber am Ende gelang es.

Gemeinsam mit den USA und gemeinsam als EU nahmen sie die geopolitische Herausforderung durch Russland an, indem sie die Unterstützung der Ukraine und die wirtschaftliche Eindämmung Russlands organisierten. Moldau und die Ukraine wurden 2022 zu Beitrittskandidaten der EU erklärt, doch war offensichtlich, dass ein zeitaufwändiger bilateraler Ansatz alleine nicht mehr ausreicht. Denn die EU steckte nun in der Zwickmühle, in die sie sich selbst gebracht hatte: Sie hatte sich weder vertieft, um aus größerer Solidarität neue Mitglieder aufzunehmen; sie hatte sich nicht erweitert, um die geopolitische Rivalität in Südosteuropa zu beenden; sie hatte sich nicht ausreichend um ihre Nachbarschaft bemüht, sondern war sich im Blick auf den eigenen Nabel genug.

Macrons Idee der Europäischen Politischen Gemeinschaft

Und jetzt musste alles ganz schnell gehen. Die geopolitische Herausforderung durch Russland wurde in der Ukraine zwar wesentlich durch die USA abgefangen, doch die Neuordnung der politischen Beziehungen zwischen der EU und den übrigen europäischen Staaten und ihren weiteren Nachbarn war nun die Aufgabe für die EU. Besser gesagt für die handlungsfähigen Staaten in der EU, noch konkreter gesagt: für Frankreich, denn Deutschland war 2022 ein mit seinen selbstverschuldeten Problemen ausgelasteter zögerlicher ordnungspolitischer Ausfall.

 

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Macron, der sich bei der Unterstützung der Ukraine zurückhielt, über Garantien für Russland Sicherheit sinnierte und China hofierte, hatte hier eine zündende Idee: die Europäische Politische Gemeinschaft. Er brachte ein solches Format, quasi als Abstimmungsraum weit vor einem Beitrittsprozess in die EU, im Frühjahr 2022 ins Spiel und im Herbst desselben Jahres wurde der erste Gipfel in Prag organisiert. Ein verbindlich-unverbindliches Format, ernste Themen aber ohne Abschlusserklärung, informell, um formale Verfahren vorzubereiten, und in einem kaum zu vermutenden Ausmaß zukunftsoffen. Das ist für eine solche Konstellation eher unüblich und erst die Zukunft wird zeigen, ob Macrons Idee wirklich zündete. Derzeit sieht es so aus.

Austragungsort Moldau: Starkes Zeichen nach Russland

Denn der zweite Gipfel fand nun in Moldau statt, womit die EPG-Staaten ein starkes Signal nach Russland senden, denn Moldau ist inzwischen Beitrittskandidat zur EU und sieht sich militärisch und politisch von Russland bedroht. Einen Teil Moldaus – Transnistrien – hat Russland seit Jahrzehnten faktisch besetzt. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wird ohne klare ordnungspolitische Einbettung schwer zu verbessern sein.

Neben den 27 EU-Staaten nahmen 20 weitere Staaten aus Nord-, Südost- und Osteuropa teil. Die Themenpalette reicht von strategischen Fragen über Energieversorgung und Cybersicherheit bis zur wirtschaftlichen Entwicklung. Im Kern geht es darum, zwischen den EU-Staaten und den übrigen Staaten ein geopolitisches Einverständnis herzustellen, das es bei manchen erlaubt, die Annäherung an die EU, und am Ende bei einigen dieser Staaten, den Beitritt zu vereinbaren.

Moldau möchte dies bis 2030 erreichen. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Denn derzeit bestehen weder in diesen Ländern alle politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen noch in vielen EU-Staaten die Bereitschaft zur Erweiterung. Diese Perspektive gilt aber nicht für alle. Denn auch Großbritannien, Norwegen und die Schweiz nehmen teil, wodurch sichtbar dokumentiert ist, dass es prioritär um die Abstimmung der beteiligten Staaten angesichts der Herausforderung durch Russland geht. 

Moskau kritisiert das Treffen

Russland hat das Treffen in Moldau auch sogleich kritisiert. Gegenüber der russischen TASS erläuterte Kirill Logvinov, der amtierende Ständige Vertreter Russlands bei der EU, „dass der Gipfel ein weiterer Versuch Brüssels sei, eine antirussische Koalition zu bilden und andere Länder dazu zu bewegen, sich der Kampagne der Sanktionen gegen Russland anzuschließen“. Andere Stimmen gingen weiter und sahen den Gipfel als Versuch, die Unterstützung der Ukraine zu intensivieren.

Dass Präsident Selenskyj persönlich zum Gipfel kam, mag diese Lesart in Russland weiter stützen, verdeutlicht der Gipfel doch, dass Russland nicht nur in der Ukraine die militärische Initiative verloren hat, sondern auch politisch keine Initiative mehr in und für Europa ergreifen kann. Putin, der mit dem Krieg den ersten Schritt zur politischen Dominanz über Europa vollziehen wollte, hat jeden politischen Einfluss auf die europäischen Entwicklungen verloren.

EU mangelt es an Führung

Ob das so bleibt, hängt davon ab, ob die EU-Staaten diesmal wirklich handeln und sich nicht wieder in einen endlosen Karussell-Diskurs verzetteln, mit dem sie nur um sich selbst kreisen. Das Verhältnis zur Türkei, deren Präsident die Teilnahme am Gipfel zugesagt hatte, nur um einen Tag zuvor abzusagen, wird hierfür ein Lackmustest sein. Der türkische Außenminister nahm am Treffen teil. Die Türkei ist nicht erst seit Russlands Krieg, sondern schon in der Migrationskrise ein schwieriger Partner. Das erfordert, das Verhältnis zu ihr EU-weit zu vereinbaren, was noch aussteht.

Da es der EU an Führung mangelt, die bereit und fähig ist, die unterschiedlichen Interessenlagen der EPG-Staaten zu vermitteln und zu bündeln, lautet die erste Aufgabe: Die EU muss Führungsfähigkeit herstellen, um die politische Initiative effektiv ergreifen zu können. Ob Bundeskanzler Scholz versteht, dass diese Aufgabe (auch) bei ihm ansteht, werden die nächsten Monate zeigen. 

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