Europäische Union - Keine Wahl

Mit einer geschickten Inszenierung wird die Europawahl zur Mogelpackung. Wichtig ist sie trotzdem – als Weckruf für den Brüsseler Politikbetrieb und als Stimmungstest für die Berliner Ampel.

Wie demokratisch ist die Europäische Union? / Illustration: Marco Wagner
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Vor fünf Jahren sollten wir das Klima retten, die Europawahl wurde zur Klimawahl hochstilisiert. Diesmal geht es um Krieg oder Frieden, Wohlstand oder Niedergang, Demokratie oder Populismus und Putinismus. Diesen Eindruck erweckt die schrille Rhetorik, mit der deutsche Politiker zur Wahlschlacht im Juni antreten.

Europa stehe vor einer „Schicksalswahl“, sagt der CSU-Politiker Manfred Weber, der die mächtige Europäische Volkspartei (EVP) leitet. Angesichts des russischen Angriffskriegs gehe es um die Verteidigung Europas und der westlichen Werte. Verbal aufgerüstet hat auch Katarina Barley, die Spitzenkandidatin der SPD. Die EU müsse über eine eigene Atombombe nachdenken, sagt die Vizepräsidentin des Europaparlaments. Zudem warnt sie vor einem Rechtsruck: Die Demokratie sei in Gefahr.

Die Grünen wollen den „Green Deal“ retten, die FDP möchte die Ukraine aufrüsten und Russland schlagen. Die Linke sorgt sich um die Flüchtlinge und den Sozialstaat, die AfD will Sozialleistungen für Flüchtlinge kürzen und die „Massenmigration“ stoppen.

Gemeinsam ist allen Appellen, dass sie nicht nur dramatisch klingen, sondern demokratische Endzeitstimmung verbreiten. Wenn sich die Bürger bei dieser Wahl nicht richtig entscheiden, so suggerieren unsere EU-Politiker, dann ist Europa dem Untergang geweiht. Sogar das Europaparlament greift tief in die rhetorische Mottenkiste: Diese Wahl sei ein „einmaliger Moment“, bei dem „wir alle kollektiv über die Zukunft der Europäischen Union entscheiden“, heißt es auf der Wahl-Website der Straßburger Kammer.

Die Wähler haben diesmal weniger zu melden als bei früheren EU-weiten Abstimmungen

Doch der allzu bemühte Versuch, die Bürger aufzurütteln und die Wahlbeteiligung zu erhöhen (2019 waren es EU-weit nur 50,6 Prozent), ist wenig überzeugend. In Wahrheit haben die Wähler diesmal weniger zu melden als bei früheren EU-weiten Abstimmungen. 2014, beim Spitzenduell zwischen dem Konservativen Jean-Claude Juncker und dem SPD-Politiker Martin Schulz, hatten die Bürger noch eine echte Wahl. Damals ging es um die Eurokrise und ihre Folgen; Juncker und Schulz hatten sehr unterschiedliche Programme. 

Bei der zurückliegenden Europawahl vor fünf Jahren stand dann die Klimapolitik im Vordergrund. Bewegungen wie Pulse of Europe und Fridays for Future machten mobil; in der EU herrschte nach Jahren der „Polykrise“ (Juncker) endlich so etwas wie Aufbruchsstimmung. Doch die Wahl endete mit einem Flop. Wahlsieger Manfred Weber (CSU) fand weder im Parlament noch beim EU-Gipfel eine Mehrheit. Am Ende setzten die Staats- und Regierungschefs Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission – dabei hatte sie gar nicht kandidiert.

Nach diesem Demokratiedebakel haben die EU-Chefs zwar Besserung gelobt. Das Wahlverfahren sollte reformiert, die Bürger besser beteiligt werden. Doch die Versprechen wurden nicht eingelöst. Statt mehr Demokratie zu wagen, wurde durchregiert. Corona und Krieg waren wichtiger.

„Keine Experimente“ heißt es nun in Brüssel. Die EU will auf Nummer sicher gehen und nichts dem Zufall beziehungsweise den Launen der Wähler überlassen. Also wurde vorgesorgt: Die nächste Kommissionsspitze steht schon so gut wie fest, auch die Politik der nächsten Jahre ist vorgezeichnet. Dafür haben nicht nur CDU/CSU und die konservative Parteienfamilie EVP gesorgt, die von der Leyen Anfang März zur Spitzenkandidatin nominiert hat. Dafür steht auch Kanzler Olaf Scholz (SPD), der an der CDU-Politikerin und ihrem Mitte-rechts-Kurs festhalten will. Scholz hat sich zwar auch hinter den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Nicolas Schmit gestellt. Doch der EU-Sozialkommissar aus Luxemburg ist außerhalb des Brüsseler Europaviertels unbekannt; eine echte Chance, sich aus dem Schatten seiner Chefin zu lösen, hat er nicht.

Einen Politikwechsel, wie er bei früheren Wahlen zur Debatte stand, soll es diesmal auch nicht geben. Schon im vergangenen Herbst lud Scholz die EU-Spitzen zu einem vertraulichen Treffen ins Kanzleramt, um den Kurs in der Ukraine und bei anderen wichtigen Fragen festzulegen. Das Ergebnis der Chefgespräche im Hinterzimmer: Von der Leyen soll an der Spitze der EU-Kommission bleiben, die Ukraine soll EU-Mitglied werden, der Klimaschutz wird aufgeweicht. Dagegen wird die Asyl- und Migrationspolitik spürbar verschärft.

In den USA tobt über all diese Fragen ein harter Wahlkampf. Dort gibt es eine echte, wenn auch wenig erfreuliche Alternative: Joe Biden gegen Donald Trump. In der EU hingegen scheint von der Leyen alternativlos. Europas „Schicksalswahl“ ist eigentlich schon gelaufen.

Oder kommt da doch noch was? Kann der Wahlkampf eine eigene, überraschende Dynamik entfalten? Wird sich das Europaparlament auf die Hinterbeine stellen und den Staats- und Regierungschefs doch noch Zugeständnisse abringen? Gerät der Wahlzettel zum Denkzettel?

Rechtsruck oder Brandmauer?

Europas Wahljahr begann mit einem Paukenschlag. Der Chef der Liberalen im EU-Parlament, der Franzose Stéphane Séjourné, hatte zur Pressekonferenz ins schicke Brüsseler Hotel Sofitel geladen. Doch statt wie erwartet Werbung für seine Renew-Partei zu machen, stieß Séjourné eine schrille Warnung aus. Bei der Europawahl gebe es eine reale Gefahr, dass „es populistischen Parteien gelingt, eine Sperrminorität im Parlament zu erlangen“, erklärte der enge Vertraute von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. „Das Risiko eines unregierbaren Europa ist ziemlich groß.“ Die Schuld schob Séjourné nicht nur Nationalisten und Rechtspopulisten zu, sondern auch der konservativen EVP, in der CDU und CSU den Ton angeben. Die EVP könne nach der Wahl eine „Allianz mit den nicht Frequentierbaren“ eingehen. Dann sei nichts mehr sicher.

Mit dieser Befürchtung steht der Franzose, der kurz nach seinem Brüsseler Weckruf zum Außenminister ernannt wurde, nicht allein. In Frankreich ist das Risiko eines „Dammbruchs“ zwar besonders hoch – Nationalisten-Anführerin Marine Le Pen liegt in den Umfragen weit vorn. Doch auch in anderen EU-Ländern sind die Parteien, die unter dem ebenso schillernden wie unscharfen Begriff „rechts“ subsummiert werden, auf dem Vormarsch. Italien, die Niederlande, Portugal, sogar die AfD in Deutschland – überall zeigt sich derselbe Trend.

Die Prognosen für die Europawahl zeichnen ein alarmierendes Bild. „Antieuropäische Populisten“ könnten bei der Wahl im Juni in neun von 27 EU-Staaten siegen, analysierte der European Council on Foreign Relations (ECFR) bereits im Januar. Österreich, Belgien, Tschechien, Frankreich, Ungarn, Italien, die Niederlande, Polen und die Slowakei drifteten nach rechts ab. Fast jeder zweite der künftig 720 (bisher: 705) Sitze im EU-Parlament könne an Parteien gehen, die nicht zur „Großen Koalition“ aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen gehören. Erstmals in der EU-Geschichte sei sogar eine „rechtspopulistische“ Koalition aus (deutschen) Christdemokraten, (polnischen) Nationalkonservativen und (italienischen) Rechtsradikalen denkbar, so die ECFR-Experten. Dieses Bündnis könne nicht nur den „Green Deal“ fürs Klima zunichtemachen, sondern auch die Außenpolitik durcheinanderwirbeln und die Hilfe für die Ukraine gefährden. Die „scharfe Rechtswende“, vor der Séjourné und andere EU-Politiker warnen, sei eine reale Gefahr.

Manfred Weber kann die Aufregung nicht nachvollziehen. „Es gibt für uns eine klare Brandmauer gegenüber allen Rechtsradikalen auf dem Kontinent“, erklärte Weber beim Wahlparteitag der EVP Anfang März in Bukarest. „Pro Europa, pro Rechtsstaat, pro Ukraine – das sind die Grundpfeiler, auf denen diese Brandmauer steht.“ Eine Gefahr, dass die Konservativen mit EU-Gegnern gemeinsame Sache machen könnten, gebe es nicht. 

Von der Leyen muss wohl kaum um ihre Wiederwahl zittern

Doch so klar, wie Weber sie präsentiert, liegen die Dinge nicht. Denn zum einen ist der CSU-Politiker schon seit Monaten bemüht, die Wählerbasis der EVP zu verbreitern – vor allem nach rechts. Erst stellte er Umwelt- und Klimagesetze infrage, dann sprang er auf die Bauernproteste auf, nun will er die Migrationspolitik verschärfen und Asylverfahren in Drittländern wie Ruanda ermöglichen. Zudem wirbt er um rechtslastige Regierungen. „Warum sollten wir nicht mit Rechtskonservativen wie Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und Tschechiens Ministerpräsident Petr Fiala zusammenarbeiten“, sagte Weber der Welt. Meloni und Fiala seien anerkannte Regierungschefs, mit denen auch die EU kooperiere.

Widerspruch kommt vom früheren Kommissionschef Juncker, der selbst der EVP angehört. Er warnt vor einer engen Kooperation im EU-Parlament, wie sie Weber offenbar anstrebt. „Ich bin strikt dagegen, dass Meloni Einzug in die EVP hält“, sagte Juncker in einem Interview. Dies käme einer Verharmlosung der extremen Rechten gleich. Warnungen kommen auch aus anderen Parteien. „Die Brandmauer der Konservativen gibt es nicht mehr“, kritisierte SPD-Spitzenkandidatin Barley schon im vergangenen Sommer. In Schweden, Finnland und Italien arbeite die EVP längst mit Rechtspopulisten zusammen. Dadurch werde der „Rechtsruck“ in Europa geradezu heraufbeschworen.

Vor Konsequenzen im Europaparlament warnen die Grünen. Bisher regiert dort eine ganz große Koalition der „Pro-Europäer“. Auch die Ökopartei hat oft mit der EVP gestimmt – vor allem beim „Green Deal“. Doch bei einem Rechtsruck könne Weber nicht mehr auf die Grünen zählen, erklärte die deutsche Spitzenkandidatin Terry Reintke. Auch von der Leyen müsse Konsequenzen fürchten, so Reintke. Falls die Konservativen gemeinsame Sache mit rechten Parteien machen sollten, könnten die Grünen ihr die Zustimmung verweigern. Bei der Abstimmung über die nächste EU-Kommissionschefin, die kurz nach der Europawahl geplant ist, könnte es eng werden.

Muss von der Leyen um ihre Wiederwahl zittern? Gefährden Webers Taktierereien ihre zweite Amtszeit? Wohl kaum. Denn dieselben Prognosen, die bei der Wahl im Juni einen „Rechtsruck“ vorhersagen, sehen die EVP klar vorn. Und das Vorschlagsrecht für die nächste EU-Kommission liegt bei Olaf Scholz, Emmanuel Macron und den anderen Staats- und Regierungschefs, nicht beim Parlament. Wie wenig Macht die Abgeordneten haben, hat sich schon nach der vorigen Europawahl gezeigt. Der Wahlsieger Weber – damals noch selbst Spitzenkandidat der EVP – musste hilflos mitansehen, wie er von Macron ins Abseits gedrängt wurde. Nach der überraschenden Nominierung Ursula von der Leyens schwammen ihm alle Felle davon. Viele deutsche Europaabgeordnete stimmten zwar gegen ihre Ernennung zur Kommissionschefin. Die SPD verbreitete sogar Pamphlete gegen die scheidende Verteidigungsministerin, in denen auf ihre Affären hingewiesen wurde – und auf ihre miese Bilanz. Von der Leyen habe die Bundeswehr völlig heruntergewirtschaftet.

Doch es half alles nichts: Das Parlament hatte am Ende nicht den Mut, den Ukas des Rates zurückzuweisen und einen Machtkampf zu wagen. Eine Krise könne man sich jetzt nicht leisten, hieß es, das nütze nur den Europagegnern. Zudem versprachen die EU-Chefs, den Schaden wettzumachen und das „demokratische Defizit“ zu beheben. Sie wollten eine Konferenz zur Zukunft der Union einberufen, die Bürger anhören und weitreichende Reformen einleiten. Doch die Bürgerkonferenzen gingen in der Corona-Krise unter, die Reformen fielen dem Krieg zum Opfer. Ein Reformkonvent, wie ihn das Parlament forderte, wurde von den EU-Staaten abgeblockt. 

Die Europawahl ist bloß die Summe von 27 Wahlen in 27 EU-Ländern

Dann kam auch noch das „Katargate“, der bisher größte Korruptionsskandal der EU. Er traf vor allem die Sozialdemokraten, hat jedoch die Glaubwürdigkeit des gesamten Parlaments erschüttert. Die Abgeordneten waren fortan vor allem damit beschäftigt, Scherben zusammenzukehren. Die Kraft für einen Neuanfang fanden sie nicht mehr. „Wir haben die europäische Demokratie noch nicht zur Vollkommenheit gebracht“, räumt der verfassungspolitische Sprecher der EVP, Sven Simon (CDU), ein. Immerhin sei das totgesagte Spitzenkandidaten-System wiederauferstanden: Fast alle 

Ursula von der Leyen / Illustration: Marco Wagner

Parteien treten auch diesmal mit ein, zwei oder – wie die Liberalen – sogar drei Topleuten an. 
Aber anders als 2019 erheben die Parteispitzen nicht mehr den Anspruch, dass der Wahlsieger automatisch die Leitung der EU-Kommission übernimmt. Die wichtigste Spitzenkandidatin, von der Leyen, steht nicht einmal auf dem Wahlzettel: Die CDU-Politikerin hat sich gegen eine Kandidatur für das Parlament entschieden. Selbst in ihrer Heimat Hannover wird man sie nicht wählen können. Für den „Erfinder“ des Spitzenkandidaten-­Systems, den früheren Parlamentspräsidenten Martin Schulz, ist das ein Verrat an den demokratischen Spielregeln. „Von der Leyen ist eine Fake-­Spitzenkandidatin“, sagte Schulz im Interview mit Politico. Schließlich trete sie ja nicht wirklich zur Wahl an; spitze sei nur ihre Position in Brüssel.

Diese herausgehobene Stellung als Kommissionspräsidentin verschaffe ihr auch noch einen ungebührlichen Vorteil vor anderen Kandidaten, so Schulz. Wenn sie schon kandidiere, dann solle sie „nicht im Amt bleiben, den G7-Gipfel besuchen und die Staats- und Regierungschefs treffen“. Sondern ihr Amt ruhen lassen, bis die Wahl vorbei ist. Doch von der Leyen denkt gar nicht daran, Pause zu machen – im Gegenteil. Vom EVP-Kongress in Bukarest, bei dem sie von einem Dutzend konservativer Staats- und Regierungschefs gefeiert wurde, flog sie weiter nach Zypern, um humanitäre Hilfe für den Gazastreifen auf den Weg zu bringen. Natürlich in ihrer offiziellen Funktion als Kommissionspräsidentin.

„Die EU leidet nicht nur unter einem demokratischen Defizit, sondern vor allem unter einem politischen.“ Das sagt einer, der es wissen muss: Alberto Alemanno, Jean-Monet-Professor in Paris, gilt als einer der besten Kenner der Europapolitik. Der Gründer der Good Lobby, die zivilgesellschaftliches Engagement fördern will, sieht die Europawahl mit gemischten Gefühlen. Einerseits biete sie eine Chance, die Bürger für die EU zu interessieren und für wichtige Themen zu mobilisieren. Andererseits gebe es keine echte politische Debatte, denn die Europawahl sei bloß die Summe von 27 Wahlen in den 27 EU-Ländern. „Es gibt nicht einmal European Politics – denn wir stimmen an verschiedenen Tagen ab, für nationale Parteien und nationale Programme.“

Die Debatten werden traditionell von innenpolitischen Themen beherrscht

Die Wahlen ziehen sich vom 6. bis zum 9. Juni, an dem auch in Deutschland abgestimmt wird. Gewählt wird nach nationalen Regeln – eine europäische Harmonisierung lässt ebenso auf sich warten wie die versprochenen paneuropäischen Wahllisten. Die EVP und andere Parteien haben zwar europäische Wahlprogramme – doch die Debatten werden traditionell von innenpolitischen Themen beherrscht. Am Ende blicken dann alle auf die Wahlergebnisse ihres Landes – denn sie sind es, die die Zahl der Abgeordneten im neuen EU-Parlament bestimmen und darüber entscheiden, welche Partei die stärkste Fraktion stellt. Die Ergebnisse, die am Abend des 9. Juni verkündet werden, geben auch ein wichtiges Stimmungsbild für die Berliner Ampel und andere Regierungen der EU-Länder.

„Es gibt keine Europawahl in dem Sinne, dass es ein offenes Rennen gäbe“, meint Fabio De Masi, der für das Bündnis Sahra Wagenknecht zum Europaparlament kandidiert. Von der Leyen sei gesetzt, der Wahlkampf in Deutschland werde sich vor allem auf die Politik der Ampel konzentrieren. Das müsse jedoch kein Nachteil sein, so der ehemalige Linken-Politiker, der bis 2017 schon einmal im Euro­paparlament saß und sich dort einen Namen gemacht hat. Für ihn ist der 9. Juni vor allem ein Testlauf für die Landtagswahlen im Herbst – und eine „Signalwahl“ für die Stimmung in Deutschland. Die Ampelparteien bräuchten einen ordentlichen Denkzettel, findet De Masi. Das werde auch auf Brüssel und die EU-Politik zurückschlagen: „Wenn diese Parteien mitbekommen, dass sie für ihren Kurs abgestraft werden, wird auch von der Leyen eine Kaiserin ohne Kleider und ohne Macht.“

Dem widerspricht Martin Sonneborn, der Chef der durchaus ernst zu nehmenden Satire-Partei Die Partei. Auch er profitiert von der nationalen Zersplitterung der Europawahl; weil es in Deutschland (noch) keine Sperrklausel gibt, konnte er 2014 ins EU-Parlament einziehen. „Von der Leyen hat die EU in ein autoritäres Hybridsystem verwandelt“, fasst Sonneborn seine Erfahrungen zusammen. Für den Satiriker und Buchautor („Herr Sonneborn bleibt in Brüssel“) war die EU noch nie „intransparenter, undemokratischer, prinzipienloser, als sie es heute ist“. Von der Leyens Versprechen, Demokratisierung und Transparenz voranzutreiben, hätten sich „als glatte Lüge erwiesen“. Die Europawahl, da ist sich Sonneborn sicher, werde daran nichts ändern. Die „Tambourmajorin“ sitze fester im Sattel denn je und plane eine „Kriegswirtschaft“.

Was wird das nun: eine spannende Schicksalswahl oder die geschickt inszenierte Krönung von „Queen Ursula“, wie von der Leyen ob ihres selbstherrlichen und unnahbaren Stils in Brüssel genannt wird? Könnte sie in ihrer zweiten Amtszeit noch mächtiger werden und eine europäische Wahlmonarchie etablieren? Oder werden ihr die Bürger einen Denkzettel erteilen und die EU zum Kurswechsel zwingen?

Seit dem Ukrainekrieg hat von der Leyen immer mehr Kompetenzen an sich gerissen

Fest steht, dass die alte und wohl auch neue EU-Chefin über eine nie da gewesene Machtfülle verfügt. Das Magazin Forbes hat sie zur mächtigsten Frau der Welt gekürt – noch vor US-Vizepräsidentin Kamala Harris. In der Corona-Krise, vor allem aber seit dem Ukrainekrieg hat von der Leyen immer mehr Kompetenzen an sich gerissen. Das EU-Parlament hat ihr wenig entgegengesetzt. Es ist in den letzten fünf Jahren schwächer geworden, nicht stärker. 

Fest steht aber auch, dass noch nie so viel auf dem Spiel stand wie bei dieser Wahl. Es geht tatsächlich um Krieg und Frieden, um Wohlstand und Demokratie. Doch die EU-Politiker haben längst die Weichen gestellt, ohne das Votum der Wähler abzuwarten. Aus Angst vor dem „Rechtsruck“ haben sie vollendete Tatsachen geschaffen. Damit haben sie der Demokratie einen Bärendienst erwiesen: Die Europawahl ist in vieler Hinsicht eine Mogelpackung. Aus Frust darüber dürften viele erst recht die Rechten wählen.

Diese Wahl könnte aber auch zum Weckruf für den Brüsseler Politikbetrieb werden. Denn wie bisher kann es nicht ewig weitergehen. Sonst wird das Demokratiedefizit zum Demokratieversagen. Vor allem aber wird die Wahl zum Stimmungstest für die Berliner Ampel. FDP, Grüne und SPD blockieren sich auch in Brüssel gegenseitig, von der versprochenen aktiven und konstruktiven Europapolitik ist nichts zu sehen. Nur in einem sind sich die Koalitionäre einig: Ursula von der Leyen soll weitermachen. Die FDP hat zwar begonnen, sich auf die CDU-Politikerin einzuschießen. Doch wenn sie abtritt, soll laut Koalitionsvertrag ein grüner Kommissar oder eine grüne Kommissarin nachrücken. Das aber will niemand in Berlin. Von der Leyen muss bleiben, damit Scholz weitermachen kann: ein weiteres Paradox dieser paradoxen Europawahl.

 

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