Europa und Russland - Was kommt nach Wladimir Putin?

Während sich die postsowjetischen Republiken modernisieren, schaut Putins Russland nur in die Vergangenheit. Putins Ende wird aber keine Lösung der Probleme bringen. Eine Analyse.

Eine Puppe, eine Schüssel mit Stecknadeln und ein gerahmtes Foto des russischen Präsidenten Wladimir Putin stehen in der Pizzeria Simona im Zentrum von Kiew für die Kunden bereit / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.

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Warum scheitert Russlands Anspruch auf eine eigene unangefochtene regionale Einflusssphäre? Die Antwort sollte nicht überraschen: Der Anspruch scheitert – entgegen den in den Köpfen russischer Entscheidungsträger umherschwirrenden Feindbildern – an der Unfähigkeit Moskaus, die – durch wirtschaftliche Hard Power unterlegte – kulturell-ideologische Anziehungskraft zu entfalten.

Die ausgeprägte Schwäche Moskaus auf der kulturell-ideologischen Ebene – der sogenannten Soft Power – erweist sich als die eigentliche Achillesferse der Russischen Föderation. Trotz des durchaus im ausreichenden Maße vorhandenen Potenzials, gelingt es Russland seit über drei Jahrzehnten selbst im postsowjetischen Raum nur äußerst begrenzt, die eigene kulturelle Attraktivität ansprechend zu gestalten.

Letztlich wird der hegemoniale Führungsanspruch im postsowjetischen Raum von Moskau ausschließlich durch militärische, energiepolitische und wirtschaftliche Hard Power im Sinne des Prinzips „Dominieren durch Angst“ ausgeübt. Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine bildet eine eindrucksvolle Bestätigung dieser These. Nach dem faktisch gescheiterten Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Russland seines bisher einzigen äußerst effektiven Trumpfes beraubt – der Drohung mit dem Einsatz militärischer Macht. In Zukunft ist es kaum vorstellbar, dass jemand Russlands Militärdrohgebärden ernst nimmt.

Postsowjetischer Raum: Kontrollverlust auf Raten

Im postsowjetischen Raum wirkt Russland nicht einmal mehr ansatzweise so selbstsicher und einflussstark wie noch vor Beginn der Invasion am 24. Februar 2022. Die Handlungsoptionen Moskaus werden zunehmend geringer. Und selbst die – extrem unwahrscheinlichen – militärischen Erfolge im Angriffskrieg gegen die Ukraine werden mittlerweile daran kaum etwas zu ändern vermögen.
 

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Im Südkaukasus wächst der Einfluss der Türkei auf Kosten Russlands erheblich an. Die unterschwellig-beiläufige öffentliche Demütigung Wladimir Putins durch Recep Tayyip Erdogan, der ihn bei Treffen im Juli 2022 vor Fernsehkameras warten ließ, rundet das Gesamtbild der pragmatisch-interessengeleiteten Beziehung ab. In Zentralasien legt der traditionelle Verbündete Moskaus Kasachstan eine kritisch-selbstbewusste Haltung an den Tag und fordert vom großen Nachbarn im Norden de facto eine Partnerschaft auf Augenhöhe ein.

Die Republik Moldau distanzierte sich nach einer anfänglichen Unsicherheitsphase nachdrücklicher als jemals in der Vergangenheit von Russland. Und selbst in Belarus gilt es das zuweilen verzweifelt wirkende – und dennoch keinesfalls absolut chancenlose – Lavieren des selbst proklamierten belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu beachten. Seit Beginn der sogenannten Spezialmilitäroperation gegen die Ukraine gelingt es Minsk erfolgreich, eine direkte militärische Konfliktinvolvierung belarussischer Streitkräfte abzuwehren; dies ungeachtet des enormen politischen und wirtschaftlichen Drucks vonseiten Moskaus, des immensen wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses und mit Blick auf das repressiv-diktatorische Regime Lukaschenkos fehlender Alternativen.

Ein System ideologischer Flexibilität

Die Überkonzentration auf die Vereinigten Staaten im außenpolitischen Diskurs offenbart Charakteristika eines postkolonialen Traumas und enthüllt den eigentlichen Kern des heutigen Russlands als nur einer von 15 Nachfolgerepubliken der Sowjetunion in einem zerfallenden postimperialen Raum. Viele der Probleme, welche die ehemaligen Republiken der Sowjetunion aufweisen, lassen sich auch in der Russischen Föderation, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, wiederfinden.

Einen zentralen Punkt stellen dabei der nur in Ansätzen erfolgte Prozess des Nation Building und die vage, ja amorphe Vorstellung über die nationale Identität Russlands dar. Doch während die anderen ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion den Weg in die Moderne inklusive einer generationellen Elitenerneuerung ungeachtet aller Schwierigkeiten weitgehend zu gehen versuchen, scheint in Russland die Zeit stehen geblieben zu sein, ja die Fortschrittsuhr zunehmend schneller zurückgedreht zu werden.

Die längste Zeit scheiterte Russlands Suche nach einer integralen nationalen Identität an der ideologischen Flexibilität Wladimir Putins. Denn für ein gelingendes taktisches Agieren sowie erfolgreiche Kontrolle über die Eliten und die Gesellschaft war die ideologische Pantophagie des Kremls eine Grundvoraussetzung. Eine hochgradig apolitische und passive, in einzelne Individuen atomisierte Bevölkerung lässt sich ungleich einfacher kontrollieren als eine ideologisierte und aktive Gesellschaft, wie das Beispiel der späten Sowjetunion zeigt. Die russische Führung war bereit, jede noch so absurde und radikale ideologische Strömung zu unterstützen und dadurch zu kontrollieren. Die einzige Ausnahme von dieser Grundregel bildeten revolutionsaffine Bewegungen; dies aufgrund der Angst russischer Führung vor einem gewaltsamen von außen gesteuerten Machtwechsel.

Aus diesem Grunde schießt – bei aller berechtigten Kritik am repressiven Regime – die Bezeichnung des Machtsystems Putin als faschistisches System über das Ziel hinaus. Auch die Außenpolitik Russlands war die längste Zeit über interessengeleitet, zynisch, ideologisch flexibel und – wie der Blick auf die russische Vorstellung der Multipolarität zeigt – alles andere als idealistisch. Letzteres änderte sich aber.

Putins idealistische Selbstverblendung

Die ideologische Flexibilität Wladimir Putins wurde – wohl auch unter dem pandemiebedingten Isolierungsdruck der vergangenen zwei Jahre – vom Gedanken der eigenen historischen Mission überschattet. Das sich oftmals abseits und jenseits historischer Faktenlage bewegende Geschichtsbild Wladimir Putins offenbarte sich beim Gespräch mit jungen russischen Unternehmern und Wissenschaftlern im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums.

In der Gleichsetzung seiner Person mit Peter dem Großen trat die Überzeugung des russischen Präsidenten vom Gedanken des eigenen historischen Auserwähltseins deutlich zutage. In diese Missionsidee vertieft, krönt sich Putin – darin Napoleon Bonaparte gleichend – gleichsam selbst zum rechtmäßigen quasi-monarchischen Herrscher ganz Russlands. Wirklich überraschend war Putins Besessenheit vom imperialen Traum vom Russischen Reich am Ende des vierten Monats des brutalen Angriffskrieges gegen die Ukraine freilich nicht.

Ein zentrales Element dieses imperialen politischen Bewusstseins bildet der durch handausgewählte geschichtliche Fakten begründete Missionsgedanke vom sogenannten „Sammeln russischer Erde“. Ursprünglich stand dieser Begriff für die räumliche Ausdehnung des Herrschaftsbereiches des Großfürstentums Moskau durch Eroberung und Eingliederung der Gebiete des unter dem Ansturm der Mongolen im 13. Jahrhundert zerfallenen mittelalterlichen alt-ostslawischen Großreiches Kiewer Rus, des historischen protostaatlichen Vorläufers der drei ostslawischen Staaten – Belarus, Russland und Ukraine.

Insofern geht die Argumentationslinie, wonach Russland ohnehin über genug Landmasse verfügt und keiner weiteren Expansionen bedarf, weit am eigentlichen Thema vorbei. Jewgenij Anisimow, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und der führende Historiker Petrinischer Epoche Russlands, attestiert im Interview mit Novaya Gazeta Europe der Vorstellung des Raumes eine besondere, im Rahmen des russischen politisch-historischen Bewusstseins am meisten wertgeschätzte Bedeutung. Demnach hat die räumliche Ausdehnung Russlands für die Politik und die Bevölkerung einen Wert an sich. Denn allein die Tatsache, dass das Land so riesig ist, stellt bereits einen gewichtigen Grund zum Nationalstolz dar.

Der lange Abgesang des letzten europäischen Imperiums

Unabhängig vom weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges ist der imperiale Traum Russlands von der Einigung der sogenannten Russischen Welt ausgeträumt. Putin trat zwar als später Geburtshelfer der „Russischen Welt“ auf, stellte sich jedoch als ihr endgültiger Grabträger heraus. Ein letztes imperiales Aufbäumen und das letzte europäische Imperium zerbarst in Tausend Splitter, doch der lange Abgesang wird noch eine Zeit lang nicht verklingen.

Wladimir Putins politisches Vermächtnis hätte das Wiedererstarken Russlands als einer innenpolitisch stabilen sowie regional dominierenden und global respektierten Großmacht sein sollen, retrospektiv betrachtet wird Putins politisches Erbe in die Geschichtsbücher aber als der endgültige, sang- und klanglose Untergang imperialer Bestrebungen Russlands und als Beginn und eigentliche Initialzündung einer längeren Periode innerer Destabilisierung Russlands mit aktuell kaum absehbaren Folgen eingehen.
Wladimir der Große versus Wladimir der Vergifter der Unterhosen
 

Guido Steinberg im Cicero-Podcast: „Wir haben das strategische Denken verlernt“


Den Weg in den Abgrund der kommenden Systemkrise hat Wladimir Putin eigenhändig geebnet. Mehr als zwei Jahrzehnte lang galt die Idee der Stabilität von Putins Russland als oberstes – um jeden Preis zu verteidigendes – Gut, ja, als das zentrale identitätsstiftende Element: das Fundament des modernen russischen Staates. Dieses – mühselig aufgerichtete und unverrückbar scheinende – Fundament der innenpolitischen (wie auch der außen- und regionalpolitischen) Rechtfertigung des Machtsystems Putins hat die russische Führung bei vollem Bewusstsein und ohne Not innerhalb von nur wenigen Wochen abgetragen. Die internationalen Sanktionen dürften über die kommenden Monate dazu führen, dass die allerletzten Reste der einstigen sozialen Stabilität in den Untiefen der Erinnerung verschwinden werden.

Putin hat mit seiner – vom objektiven Standpunkt kaum als rational zu betrachtenden – Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, die Chance endgültig verspielt, als einer der zentralen Herrscher Russlands in die Annalen der Geschichte seines Landes aufgenommen zu werden. Freilich wird Wladimir Putin nach über 20 Jahren im Zenit der Macht in den Geschichtsbüchern Russlands einen Platz finden. Doch angesichts der – von Putin verschuldeten – auf Russland mit bedrohlich-unentrinnbarer Schärfe heranrückenden wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche könnten sich letzten Endes die Worte Alexej Nawalnys, welche er bei seinem kafkaesk inszenierten Gerichtsprozess im Februar 2021 sprach, als geradezu prophetisch erweisen. Anstatt ihn, seinem Traum folgend, als Wladimir den Großen zu feiern, werden die zukünftigen Generationen Herrn Putin als Wladimir, den Vergifter der Unterhosen, gedenken.

Russische Föderation als Schrödingers Imperium

Bei aller berechtigten Kritik an Wladimir Putin sollte dennoch keinesfalls übersehen werden, dass er zwar die Schlüsselperson, jedoch nicht der einzige außenpolitische Akteur Russlands ist. Die außenpolitischen Handlungen Russlands werden von Interessen und Bedrohungsperzeptionen getragen, die eine breite Zustimmung und Unterstützung innerhalb der Führungselite finden.

Den Kern des außenpolitischen Konsenses bildet dabei die Überzeugung von Russland als einem starken, handlungsfähigen Staat im Innenverhältnis und einer souveränen, auf imperialistischen Traditionen beruhenden Großmacht im Außenverhältnis; einer Großmacht auf Augenhöhe mit den anderen Großmächten. Dabei ist das russische Großmachtdenken nicht mit dem (Ethno-)Nationalismus zwingend gleichzusetzen und gründet auf einem breiten innerelitären Konsens, welcher durch ein kohärentes und konsistentes Verständnis der sicherheitspolitischen Ziele und Bedrohungen ergänzt wird.

Im Selbstverständnis russischer Eliten kann das Land ausschließlich als Großmacht existieren. Hierin Schrödingers Katze nicht unähnlich: Denn sollte die Frage nach Sinn und Existenz des Großmachtstatus einmal tatsächlich gestellt werden, ist es das Ende Russlands, wie wir es kennen. Das Warten darauf dürfte allerdings kurz- bis mittelfristig vergebens sein. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass sich der Elitenkonsens hinsichtlich außenpolitischer Zielsetzungen sowie des Großmachtstatus Russlands bereits gegen Ende der Amtszeit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin zu formieren beginnt, in der Ära von Wladimir Putin endgültig festigt und auch die Person Putin überdauern dürfte.

Doch selbst ein – aus heutiger Sicht nicht absehbares – zeitnahes Ende der Ära Putin wird keine unmittelbare Antwort auf die unentrinnbare Schärfe der Gretchenfrage nach den politischen Zukunftsmodellen in Bezug auf die russisch-ukrainischen Beziehungen, nach einem neuen Modus vivendi im EU-Russland-Verhältnis sowie letztlich nach der Zukunft Russlands liefern und für zahlreiche weitere Bruchlinien sowohl innerhalb russischer Eliten- und Bürokratiekreise als auch in der Bevölkerung sorgen.
Die innerelitären Konflikte, die systeminhärenten Zwänge sowie das zwanghafte Festhalten am Großmachtstatus machen nicht nur eine demokratisch legitimierte und geordnet ablaufende Machtübergabe so gut wie unmöglich, sondern bilden vielmehr eine unentrinnbare Garantie für die kommende tiefe Systemkrise mit ungewissem Ausgang nicht nur für Russland, sondern für das gesamte Europa.

Ein Gespenst geht um in Europa 

Denn für das gesamte Europa sind die Folgen des letzten imperialen Aufbäumens Russlands zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur in Ansätzen abzuschätzen. Nach Ansicht des führenden bulgarischen Politologen Ivan Krastev vom Centre for Liberal Strategies in Sofia und vom Internationalen Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien führt Wladimir Putins aggressive Expansionspolitik nicht bloß zu einer Verschiebung bestehender Grenzen in Europa.

Putins verblendeter Imperialismus erzwingt eine grundlegende Veränderung des Konzeptes der Grenze zwischen dem Westen und Russland. Eine Veränderung, welche die Rückkehr in die dunkelsten Stunden europäischer Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutet und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit für Jahrzehnte nachwirken wird. Das sind wahrlich keine guten Nachrichten, weder für Russland noch für Europa.

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