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EU-Türkei-Deal - Abschieben, aber bitte nach Verhaltenskodex

Ab heute werden Flüchtlinge von Griechenland in die Türkei zurückgeführt – so will es das umstrittene EU-Abkommen mit Ankara. Aber ist das überhaupt legal? Und was passiert, wenn sich ein Betroffener weigert? Werden die Frontex-Beamten dann ihre Waffen einsetzen? Die Fragen und Antworten

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Was steht in dem Abkommen?


Alle Flüchtlinge, die Griechenland nach dem 20. März über den Seeweg erreicht haben, werden in die Türkei abgeschoben. Das Abkommen der EU-Staats- und Regierungschefs verspricht eine Einzelfallprüfung, es soll „keinerlei Kollektivabschiebung“ geben. Das Abkommen tritt am Montag in Kraft.

Eine Sonderbehandlung erhalten syrische Staatsbürger: Für jeden abgeschobenen Syrer will die EU einen anderen aus der Türkei aufnehmen – bis zu einer Obergrenze von 72.000 Personen. Der Bootsflüchtling indes hat das Nachsehen: Er muss sich in der Warteschlange ganz hinten anstellen. Vorrangig will die EU solche Schutzsuchenden in der Türkei aufnehmen, die noch nicht versucht haben, „irregulär“ in die EU einzureisen.

Es handle sich um eine „temporäre und außerordentliche Maßnahme“, um „das menschliche Leiden zu beenden und die öffentliche Ordnung herzustellen“, heißt es in dem Dokument. Das Kalkül: Kein Flüchtling wird die teure und lebensgefährliche Bootsfahrt über die Ägäis antreten, wenn an seiner statt ein anderer ins Kontingent aufgenommen wird.

Ist der EU-Türkei-Deal überhaupt mit dem Recht vereinbar?


Das Bundeskanzleramt bejaht diese Frage: Ein kürzlich vorgelegtes Gutachten sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rückführung in die Türkei rechtlich vertretbar ist, meldete der Spiegel. Gründe dafür wurden nicht genannt. Eine Cicero-Anfrage auf Einsicht in das Gutachten blieb von der Bundesregierung bislang unbeantwortet.

Die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ stuft den EU-Türkei-Pakt dagegen als rechtswidrig ein. Laut eines Rechtsgutachtens ist die Türkei kein „sicherer Drittstaat“, weil sie die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vollständig umgesetzt hat. Dieses UN-Protokoll verbietet die Abschiebung von Schutzsuchenden an der Grenze. Seit Januar hat die Türkei aber rund 100 Syrer wieder in das Bürgerkriegsland zurückgeschickt, darunter auch Frauen und Kinder, wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International am Freitag in einem Bericht darlegte. Das ist nicht nur nach EU-, Völker- und türkischem Recht illegal.

Die Bundespolizei teilt die rechtlichen Bedenken. Deswegen hat sie die Übergabe von Flüchtlingen an die Türkei gestoppt. Wenn deutsche Beamte, die mit den zwei Streifenbooten „Uckermark“ oder „Börde“ im Rahmen der Frontex-Mission in der Ägäis patrouillieren, Menschen retten, schicken sie diese stattdessen an griechische Behörden. „Das macht die Bundespolizei auch weiter so“, bestätigte eine Sprecherin.

Wie reagieren die Flüchtlinge darauf?


Rund 51.000 Flüchtlinge sind momentan in Griechenland gestrandet, von denen etwa 5300 am Montag in die Türkei zurückgeführt werden sollen. Viele von ihnen sind völlig verzweifelt: Auf der Insel Lesbos protestierten am Dienstag mehrere Flüchtlinge gegen ihre Internierung in einem Registrierungslager. In Athen demonstrierten rund 2000, einige verbrannten die europäische Flagge. Erst jüngst versuchten einige von ihnen einen Grenzfluss nach Mazedonien zu überqueren.

Was passiert mit Flüchtlingen, die nicht freiwillig in die Türkei zurückwollen?


Es ist damit zu rechnen, dass viele Flüchtlinge gegen ihre Abschiebung Widerstand leisten werden. Die Bundespolizei teilt dazu nur mit, dass man mit einer solchen Situation „keine Erfahrungen“ habe. Es gebe daher auch keine Anweisungen und wenn, werde man sie „aus einsatztaktischen Gründen“ nicht verraten, sagte die Sprecherin. Die Bundespolizei will nach eigenen Angaben ab Montag schrittweise Beamte schicken – insgesamt zwischen 100 bis 200.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex verweist bei der Frage, wie im konkreten Fall mit den Flüchtlingen umgegangen werden soll, auf ihren Verhaltenskodex. Der sagt, unter Artikel 20: Der Einsatz von Waffen ist nur zur „Selbstverteidigung oder zur legitimen Verteidigung anderer Personen“ erlaubt. Außerdem müssen Frontex-Beamte dafür die Einwilligung ihrer Heimatstaaten haben. Die Sprecherin der Bundespolizei verweist auf das „Prinzip der Verhältnismäßigkeit“.

Frontex schickt über das Wochenende die ersten Experten nach Griechenland, um die dortigen Behörden bei der Umsetzung des Plans zu unterstützen.

Beantragen jetzt mehr Flüchtlinge Asyl in Griechenland?


Tatsächlich gibt es in dem EU-Türkei-Plan eine Möglichkeit, die Rückführung zu umgehen: den Asylantrag in Griechenland. Das wollten laut griechischen Behörden rund Tausend Flüchtlinge im Lager Moria auf der Insel Lesbos tun. Doch die Bearbeitung der Anträge kann dauern: Schon jetzt warten rund 2300 Menschen in Moria auf ihre Asylentscheidung. Zwar hat das griechische Parlament am Freitag beschlossen, dass die Verfahren nur noch eine Woche dauern sollen. Aber auch dafür gibt es viel zu wenig Personal: Laut Frontex haben die Mitgliedsstaaten lediglich 700 Polizisten und 44 Asylexperten fest zugesagt.

Weichen die Flüchtlinge auf alternative Fluchtrouten aus?


Genau das befürchten das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen. Vor allem Bulgarien missbilligt den EU-Türkei-Deal: Das ärmste EU-Mitglied befürchtet, künftig Haupttransitland zu werden – und hatte vor dem EU-Gipfeltreffen am 18. März auch sein Veto eingelegt. Bulgarien verstärkt gerade seine Landgrenzen zu Griechenland und der Türkei, hat aber auch eine fast 380 Kilometer lange Schwarzmeerküste. Im Januar und Februar registrierte das Land 7500 Migranten.

Wahrscheinlicher aber ist eine andere Route: Einer Analyse des US-Thinktanks Stratfor zufolge könnte Italien das neue Hauptziel der Flüchtlinge werden. Dort sind die Schleuserrouten deutlich effektiver vernetzt. Zwei Routen sind denkbar: die südliche über Ägypten, Libyen und Lampedusa oder die östliche von der Türkei oder Albanien über die Adria. Sowohl Albanien als auch Italien schicken bereits Patrouillen an die griechischen Küsten.

Tatsache aber ist: Bislang kommen kaum Syrer über die südliche Route. Am 19. März, als ein norwegisches Schiff 712 Menschen aus Seenot rettete, war kein einziger dabei. Unter den 1600 Flüchtlingen, die die Küstenwache am Dienstag zählte, waren überwiegend Menschen aus Afrika.

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