EU-Sondergipfel - Postengeschacher? Blödsinn!

Weil die EU-Regierungschefs über Nacht keinen Nachfolger für Jean-Claude Juncker finden, dominieren abfällige Kommentare über die EU: undemokratisch, unwürdig und undurchschaubar. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall

Wer wird als Kommissionspräsident der Nachfolger von Jean-Claude Juncker? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

So erreichen Sie Kay Walter:

Anzeige

Montag, erster Juli 2019: Nach stundenlangen Diskussionen unterbricht Ratspräsident Donald Tusk den EU-Sondergipfel. Fortsetzung Dienstag. Die sehr lange Nacht von Brüssel hat keine Einigung erbracht. Nach wie vor ist offen, wer als Kommissionspräsident der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker wird. 

Absolut undemokratisch – unwürdiges Postengeschacher – wie lange das dauert – typisch EU eben.

So oder so ähnlich lauten viele Kommentare zum Thema. Tenor: Zähes Ringen ohne Ergebnis. Sinnfällig mal wieder, wie schlecht – wahlweise unnötig – die Europäische Union sei. Wie undemokratisch. Und außerdem: Die EVP sei stärkste Partei, habe daher das Recht, den Kommissionspräsidenten zu stellen. Mit Verlaub: Welch ein Stuss! Jede einzelne These.

Undemokratisch? Wo denn!

Zum ersten: 5 Wochen nach der Wahl vom Mai noch keine Koalition gebildet zu haben, ist wahrlich kein Beweis besonderer Langsamkeit. Man zeige mir ein einziges demokratisches Land, das schneller wäre. Deutschland? Sicher nicht.

Undemokratisch? Wo denn! Keine Parteiengruppe hat eine eigene Mehrheit im Parlament, selbst eine „Große Koalition“ aus Christ- und Sozialdemokraten nicht. Die Sperrminorität von Nationalisten und rechten Populisten zwingt die beiden großen Parteifamilien zu Vereinbarungen mit Liberalen und Grünen. Was, wenn nicht das, ist Demokratie: Niemand kann durchregieren – stattdessen müssen Kompromisse zwischen ziemlich unterschiedlichen Positionen her. Nicht ganz einfach, das ist mal sicher. Das erfordert Diskussion und Toleranz anderen Vorstellungen gegenüber. Aber noch einmal: Genau das ist das Wesen von Demokratie.

Es ist mehr Europa nötig

Postengeschacher? Auch Blödsinn! Jedes Land in der EU hat (mehr oder weniger berechtigte) Eigeninteressen. Folge ist die Pflicht zum Interessenausgleich, zwischen Groß und Klein, Ost und West, starken und schwächeren Ökonomien – um nur einige der Kriterien zu nennen. Und das gilt selbstverständlich auch und gerade für die handelnden Personen. Die müssen nicht nur qualifiziert sein, sondern den Proporz erfüllen – Geschlechtergerechtigkeit wäre zudem mehr als angemessen. Wer das für einfach hält, hat keine Ahnung: Wer es Geschacher nennt, ist Demagoge oder Lügner.

Kein Staat in Europa ist alleine handlungs- und konkurrenzfähig gegenüber den USA, China, Russland. Deshalb ist mehr Europa nötig. Falls nicht, lautet die Strafe: Selbstverzwergung.

Timmermans ist der Beste für den Job

Nur Manfred Weber hat als Spitzenkandidat der stärksten Fraktion im Parlament Recht, Präsident zu werden. Wieder falsch. Die EVP kann im europäischen Parlament keine Mehrheit für „ihren“ Mann herstellen und im Rat der Regierungs-Chefs erst Recht nicht. Die lehnen Weber als zu leichtgewichtig ab – auch die aus dem eigenen Lager. Die CSU hätte schon deshalb Weber niemals durchdrücken dürfen. Denn die Verträge sind eindeutig: Der Rat schlägt einen Kommissionschef vor, das Parlament segnet ab. Die Wahrheit ist, man wusste lange vor der Wahl: Manfred Weber wird es nie! Unter keinen Umständen! Es sei denn, die Christdemokraten fahren europaweit einen deutlichen Sieg ein. War aber nicht so. Im Gegenteil, sie haben durchgängig und heftig verloren, nicht nur in Deutschland.

Der Wahrheit zweiter Teil: Die Sozialdemokraten haben zwar in Deutschland – und nicht nur da – dramatisch verloren, sie haben aber unter anderem in Spanien, Portugal und Dänemark gewonnen und Frans Timmermans hat das Ergebnis der niederländischen Sozialdemokraten verdreifacht. Viel wichtiger: Timmermans ist der beste Mann für den Job. Niemand bestreitet das – außer natürlich Victor Orban. Denn dem hatte Timmermans in seiner Funktion als Kommissar für Rechtsstaatlichkeit mehrfach Verstöße gegen Rechte und Werte Europas vorgehalten. Es ist absurd, daraus einen Vorwurf konstruieren zu wollen, es wäre im Gegenteil Grund genug, ihn zum Kommissionschef zu machen.

Die EU schützt auch ihre Gegner

Dienstag hat der Rat noch einmal Gelegenheit, seinen Vorschlag zu unterbreiten. Mittwoch will das Parlament in Straßburg den neuen Vorsitz bestimmen – im Übrigen mit durchaus ähnlichen Problemen.

In jedem Fall ist nichts davon undemokratisch, unrechtmäßig oder wirklich so schwer zu durchschauen, wie viele jetzt behaupten. Das Bild wollen vor allem die Europagegner von Rechts-Außen erzeugen, aus durchsichtigem Kalkül. Das Recht dazu haben die Salvinis, Orbans, Meuthens und Farages. Genau das garantiert die EU selbst ihren erbittertsten Gegnern, die beständig über Europa schimpfen und lästern, aber alle durch die Bank das Geld einstreichen, das dieses Europa heranschafft.

Anzeige