Eskaliert der Ukrainekrieg? - „Man muss das russische strategische Potenzial ernst nehmen“

Der Verteidigungsexperte Nico Lange bewertet die jüngste Rede Putins, die Reise des ukrainischen Präsidenten Selenskyj nach Washington und die militärische Situation im Ukrainekonflikt. Der Krieg kann nach Langes Einschätzung nur durch eine vollständige Niederlage Russlands beendet werden.

Wladimir Putin während einer Zeremonie am Vorabend des „Tages der Helden des Vaterlandes“ am 8. Dezember im Kreml / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Nico Lange, 47, ist seit Juli 2022 Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er war bis Ende 2021 Leiter des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium und einer der engsten Vertrauten von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Von 2006 bis 2012 leitete Lange das Kiewer Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Herr Lange, an diesem Mittwoch sind zwei Ereignisse zusammengefallen, die möglicherweise bedeutsam sind für den Fortgang des Ukrainekriegs. Zum einen hat Wladimir Putin eine Rede vor russischen Offizieren gehalten. Zum anderen ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Washington gefahren. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen beiden Terminen? 

Es gibt natürlich immer einen Zusammenhang, wenn Selenskyj und Putin in diesen Tagen auftreten, weil die strategische Kommunikation beider Seiten Teil des Krieges ist. Es ist aber so, dass der Besuch von Selenskyj in den USA etwas sehr Besonderes war. Ihm ging es nicht zuletzt darum, das Gefühl seiner Landsleute zum Ausdruck zu bringen: Hätten die USA den Ukrainern nicht schon von Beginn des Krieges an geholfen und damit auch die Europäer geeint, dann wären sie jetzt tot oder unter russischer Unterdrückung. Die Rede Putins vor den Führungskräften des russischen Verteidigungsministeriums wiederum ist ein Termin, der jedes Jahr stattfindet. 

Wie ist denn Ihre Deutung der diesjährigen Putin-Rede? 

Putin hat versucht, Normalität zu wahren, indem er den jährlichen Termin „normal“ durchführt. Und er hat versucht, den Eindruck zu vermitteln, diese „militärische Spezialoperation“, wie er sie nennt, verliefe nach Plan. Aber natürlich spürte man überall im Raum, übrigens auch in den Gesichtern der Offiziere und auch in der Rede selbst, dass es eben nicht nach Plan läuft, dass es Probleme gibt. Putin hat in dieser Rede sehr viel davon gesprochen, dass die Sicherheitskräfte eine verantwortungsvolle Aufgabe haben – und er hat immer wieder an ihre Verantwortung appelliert. Man muss das so verstehen, dass er die Militärs und die Geheimdienstleute jetzt ermahnt, seine Macht und das System Putin insgesamt abzusichern. Im Gegenzug hat er angekündigt, dass die Militärausgaben nach oben künftig unbegrenzt seien. Und auch die Truppenstärke solle noch mal erhöht werden. Im Grunde macht Putin also mit den Militärs und den Geheimdienstlern einen Deal: Ihr stützt unser System – und dafür kommen alle Ressourcen zuerst zu euch.

Nico Lange / Foto Tobias Koch

Was hat Selenskyj umgekehrt in Washington bewirkt? War das eher ein symbolischer Besuch, oder wird seine Reise konkrete Auswirkungen haben? 

Das war kein symbolischer Besuch, sondern damit verbindet sich für die Ukraine ein sehr handfestes Anliegen. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte hat vor kurzem dem Economist ein ungewöhnlich langes Interview gegeben – direkt vor Selenskyjs Reise. Die ukrainischen Streitkräfte sehen sich demnach in der Lage, militärische Pläne zu entwickeln und umzusetzen, mit denen Russland aus dem Gebiet der Ukraine wieder vertrieben werden kann. Sie sind aber der Auffassung, dass sie dafür nicht die nötige Ausstattung haben an Munition, an Ausrüstung, an Waffensystemen. Und der Besuch diente vor allen Dingen dazu, dafür zu werben, dass der Westen jene Beschränkungen aufhebt, die er sich selbst auferlegt hat. Dass man auch Waffensysteme, die man bisher nicht geliefert hat, an die Ukraine gibt. Dass man also den ukrainischen Streitkräften das zur Verfügung stellt, was sie brauchen, um Bewegung in diesen Krieg zu bringen mit dem Ziel, die Russen weiter vom Territorium der Ukraine zurückzudrängen. Das ist das ganz klare Anliegen über die Symbolik hinaus. 

Dem ukrainischen Präsidenten geht es ja in der Tat ganz offenbar nicht nur darum, moderne Flugabwehrsysteme des Typs Patriot zu bekommen, sondern auch Langstreckenwaffen, mit denen man dann aber wiederum von der Ukraine aus russisches Territorium beschießen könnte. Wäre das aus amerikanischer Sicht überhaupt noch vertretbar, solche Waffen zu liefern, ohne sich selbst als Kriegspartei zu positionieren? 

Putin hat in seiner Rede selbst davon gesprochen, dass die russischen Streitkräfte gegen das gesamte Arsenal der Nato kämpfen müssten. Putin erklärt ja auch die Schwierigkeiten, die er in der Ukraine hat, damit, dass man im Grunde gar nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die Nato, insbesondere die Amerikaner, kämpfen müsste. Also gibt es dort diese Wahrnehmung offenbar schon – oder sie wird gezielt gefördert. Auf der anderen Seite gab es im Westen mit den Amerikanern an der Spitze bisher durchaus vernünftige Gründe, vorsichtig zu sein bei Waffenlieferungen. Aber es gilt, diese Hypothesen immer wieder zu überprüfen. Anfangs ging man zum Beispiel davon aus, dass ein Angriff der Ukraine auf die Krim ein ganz schreckliches Szenario auslösen würde. Aber das einzige, was passiert ist: Russland hat seine U-Boote aus dem Schwarzen Meer verlegt, weil man Angst hatte, dass diese U-Boote getroffen werden könnten. Also stimmte die Annahme offenbar nicht, es käme zwangsläufig zu einer großen Eskalation. Mittlerweile liefert der Westen ja auch sehr weitreichende Artilleriesysteme – und auch das hat nicht zu einer neuen Eskalation geführt. Deswegen kann man meines Erachtens jetzt auch die Waffensysteme mit größeren Reichweiten liefern. Russland hat sich ohnehin schon auf die größeren Reichweiten der ukrainischen Waffensysteme eingestellt. Aus militärischer Sicht ist es also absolut sinnvoll, der Ukraine ihre Wünsche zu erfüllen. 

Was genau will die Ukraine denn mit diesen Waffen machen? Ein ukrainischer Sicherheitsberater hat soeben betont, dass „für uns die Strategie darin besteht, weiter anzugreifen, weil wir es uns nicht leisten können, die Frontlinie einzufrieren“. Man müsse „ständig Druck ausüben“, und es sei „die Grenze dessen erreicht, was wir mit den modernen Waffen, die die USA bereits zur Verfügung gestellt haben, tun können“. Für die nächste Stufe brauche die Ukraine Waffen mit größerer Reichweite, um ihre Ziele zu erreichen. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Die westlichen Unterstützer der Ukraine, darunter auch Deutschland, haben bisher Waffen und Munition an die Ukraine geliefert mit dem Ziel, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert. Jetzt geht es darum, Waffen und Munition an die Ukraine zu liefern, damit die Ukraine den Krieg gewinnen kann. Und zwar in dem Sinne, dass sie – völkerrechtlich völlig legitim – die angreifenden russischen Truppen von ihrem Territorium vertreibt.

Einschließlich der Krim? 

Wir haben die Annexion der Krim nicht anerkannt. Die Krim ist Staatsgebiet der Ukraine. Und die Ukraine kann ihre legitimen militärischen Ziele nur erreichen, wenn sie weitere Waffensysteme bekommt. Das ist ja ein ganz praktisches Problem, das man leicht nachvollziehen kann. Viele Partner der Ukraine haben zum Beispiel gepanzerte Fahrzeuge auf Rädern geliefert. Die sind aber jetzt insbesondere im Herbst und im Frühjahr auf den schlammigen Böden überhaupt nicht mobil. Man bräuchte also Kettenfahrzeuge, mit denen man sich dort besser bewegen und mobil kämpfen kann – zum Beispiel Schützenpanzer. Der Süden der Ukraine besteht ja vor allem aus einer sehr weitläufigen Steppe. Wenn Sie dort angreifen wollen gegen einen Gegner, der sehr viel Artillerie zur Verfügung hat, brauchen Sie geschützte Fahrzeuge und mechanisierte Kräfte. Man sieht ja, dass die Ukraine mit Mobilität und Präzision erfolgreich gegen die russischen Streitkräfte ist. Aber dann braucht sie eben auch Munition, mit der sie präzise auf weiter entfernte Ziele feuern kann. Die militärische Lage muss eben ständig neu bewertet werden. Wir sollten uns alle klar machen: Wie sich Europa weiterentwickelt, das hängt davon ab, wie dieser Krieg endet. Es ist unser unmittelbares Interesse, dafür zu sorgen, dass das Einhalten elementarer Regeln des Völkerrechts sichergestellt wird. Damit wir nicht in eine Situation kommen, in der ein Land einen Angriffskrieg beginnen kann – und ein paar Jahre später den nächsten Angriffskrieg. Das war auch Selenskyjs Ziel in Washington: Klarzustellen, dass westliche Waffensysteme für die Ukraine keine Almosen sind, sondern dass es im ureigensten Interesse des Westens liegt, auf der Seite der internationalen Ordnung zu stehen.

 

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Dann schauen wir doch noch einmal genauer auf die militärischen Gegebenheiten: Bis in den Herbst hinein hatte es den Anschein, dass die Ukraine die russischen Invasoren erfolgreich zurückdrängen kann. Inzwischen scheint sich das Blatt gewendet zu haben. Russische Truppen sind in die ukrainische Stadt Bachmut vorgedrungen. Wie stellt sich die Situation derzeit aus Ihrer Sicht dar? 

Die Situation bei Bachmut und westlich von Donezk ist in der Tat schwierig. Russland hat dort bereits seit dem Sommer mit enormem Aufwand versucht, Städte einzunehmen und ist daran bisher gescheitert. Auch weil die Ukrainer an dieser Stelle im Donbass schon seit acht Jahren ihre Stellungen ausgebaut haben und sich dort gut verteidigen können. Aber Russland versucht es mit Masse, mit stundenlangem Artilleriebeschuss – und immer wieder mit Vorrücken, unter anderem ja auch mit ehemaligen Gefängnisinsassen, die da in zunehmender Zahl kämpfen. Das Gebiet vor Bachmut sieht inzwischen aus wie eine Landschaft, die man eher von Bildern des Ersten Weltkrieges kennt. Man kann gar nicht mehr erkennen, ob da Berge waren oder Täler. Und nun ist es eben auch möglich, dass Russland zum ersten Mal seit Monaten wieder Geländegewinne macht. Strategisch ist Bachmut nicht sonderlich bedeutsam für den weiteren Verlauf des Krieges, aber eine Einnahme der Stadt durch russische Truppen könnte einen negativen psychologischen Effekt für die Ukraine haben. Kurzum: Die Situation ist schwieriger, auch durch die russische Teilmobilisierung. Und die Ukraine kommt aufgrund der Wetterverhältnisse und der verdichteten russischen Truppen nicht mehr so leicht voran. Das ist insofern schon eine neue, entscheidende Situation in diesem Krieg. Deswegen lautet die entscheidende Frage: Bekommt die Ukraine jetzt das, was sie benötigt, um wieder Bewegung in diesen Krieg zu bringen? Oder fährt sich der Krieg fest, weil Russland in die Lage kommt, die Front zu stabilisieren und teilweise sogar wieder Gelände dazuzugewinnen? 

Sie erwähnten gerade die russische Mobilmachung vom vergangenen September. Welchen Einfluss hatte diese Maßnahme auf den Verlauf des Krieges? 

Zunächst einmal war der Einfluss ganz sicher nicht so stark, wie das mancher vermutet oder wie man es auch in der russischen Führung erwartet hatte. Man kann darüber streiten, ob der Preis, den Wladimir Putin innerhalb Russlands dafür zahlen musste, das überhaupt wert war. Aus rein militärischer Sicht hat die Mobilmachung zumindest dazu geführt, dass die Russen ihre Truppen an der Front verdichten konnten. Russland konnte also mehr Truppen auf das Gelände bringen und dadurch größere Hindernisse aufbauen für die ukrainischen Kräfte. Und Russland tut das, anders als die Ukraine, ohne Rücksicht auf Verluste: Denen ist es offensichtlich völlig egal, wie viele Tausende ihrer mobil gemachten Soldaten sterben, sie werden wie Menschenmaterial behandelt. Durch dieses skrupellose Vorgehen ist Russland in der Lage, der ukrainischen Seite Schwierigkeiten zu bereiten. Andererseits ist der Preis für Russland aber auch sehr hoch, sodass jetzt schon darüber gesprochen wird, ob möglicherweise eine weitere Mobilmachung zu Jahresbeginn notwendig sein wird. 

Was bedeutet das für die Stimmung in der russischen Bevölkerung? 

Russland hat sich mit diesem Krieg noch einmal stärker vom autokratischen zum autoritären und totalitären System gewandelt. Und Putin hat die Mobilmachung bewusst über lange Zeit vermieden, weil er wusste, dass er sich damit eine innere Front öffnet. So ist es auch gekommen. Es sind viele Russen geflohen – übrigens auch Personen, die in der Wirtschaft gebraucht wurden. Und in Gebieten der russischen Föderation mit nationalen Minderheiten, wo man sehr viel mobilisiert hat, gibt es eine starke Gegenbewegung und durchaus auch Widerstände. Insofern ist das alles eine weitere Front, die Putin bewältigen muss. Und das wird natürlich schlimmer werden, wenn er weiter mobil machen muss. Putin ist im Grunde gezwungen, mit jedem Schritt in diesem Krieg die innenpolitischen Schrauben immer noch ein Stück weiterzudrehen, immer totalitärer zu werden. In diesem Zusammenhang ist auch seine Ermahnung an die Sicherheitskräfte von diesem Mittwoch zu sehen. 

Putin hat am Mittwoch auch verkündet, dass die neue russische Interkontinentalrakete Sarmat in naher Zukunft einsatzbereit sein werde. Halten Sie das für plausibel? Und wenn ja, was hätte das für Auswirkungen? 

Es gibt in Russland weit über die Führungskräfte hinaus bis tief in die Gesellschaft hinein eine Besessenheit mit den russischen Raketen und den russischen Waffen. Das ist etwas absonderlich. Ein Viertel der russischen Bevölkerung hat zwar keine eigene Toilette in der Wohnung, aber man ist stolz auf die Raketen, mit denen man alles Mögliche zerstören kann. Und im russischen Fernsehen wird ständig darüber fabuliert, man müsste London zerstören oder Raketen nach Paris schießen können. Es gibt sogar ein Lied über diese Raketen – und sie sind ja auch von der orthodoxen Kirche geweiht worden. Die Raketen sind ein Symbol für die militärische Leistungsfähigkeit der Russischen Föderation; man möchte sich damit brüsten, dass sie alle amerikanischen Abwehrsysteme durchbrechen könnten und man mit ihnen jeden bedrohen kann. Fakt ist aber: Putins Ankündigung, dass die russische Interkontinentalrakete bald einsatzbereit sei, heißt eben auch: Sie ist es derzeit offenbar nicht. Ich glaube, Putin hätte lieber verkündet, Sarmat wäre schon jetzt einsatzbereit. 

Haben westliche Geheimdienste Informationen darüber, wie es um die Einsatzbereitschaft dieser Interkontinentalrakete steht? 

Ja. 

Und man geht davon aus, dass das eine Schimäre ist?

Man muss das russische strategische Potenzial ernst nehmen. Es gibt eine ganze Reihe russischer Waffensysteme, die erhebliche Herausforderung darstellen. Wenn zum Beispiel die amerikanischen Teilstreitkräfte fast schon im Wettbewerb untereinander stehen, Überschallraketen zu entwickeln, dann tun sie es auch in Reaktion auf Entwicklungen, die in Russland oder in China stattgefunden haben. Und Russland hat unter Putin über Jahrzehnte hinweg großen Wert darauf gelegt hat, in Militärtechnologie zu investieren. Gleichzeitig sieht man aber, dass diese leistungsstarken Systeme in Russland nicht in der Breite ankommen. Unter anderem deshalb, weil Geld wegen der grassierenden Korruption in den Streitkräften versickert. 

Die Ukrainer fürchten einen neuen Angriff der russischen Streitkräfte auf Kiew. Teilen Sie diese Befürchtung? 

Putin hat seine militärischen Ziele gegen die Ukraine in keiner Weise zurückgenommen. Er hat zwar militärische Rückschläge erlitten, aber er will weiterhin die Ukraine von der Landkarte löschen. Er möchte, dass die Ukraine nicht mehr existiert. Und wenn er am Mittwoch wieder gesagt hat, er sehe die Ukraine weiterhin als ein Brudervolk an, dann meint er ja damit, dass die Ukraine nicht existiert, weil ohnehin alle Russen seien. Das muss man sehr ernst nehmen. Kiew liegt nur 130 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Insofern ist die Gefahr eines Vormarschs auf die ukrainische Hauptstadt immer gegeben. Derzeit ist zwar nicht zu beobachten, dass sich entsprechende Kräfte in Belarus formiert würden, um einen neuen Schlag auf Kiew zu organisieren. Aber ich habe keinen Zweifel daran: Wenn Putin militärisch diese Möglichkeit wieder bekäme, dann würde er es noch einmal versuchen. 

Putin war ja gerade vor wenigen Tagen in Belarus. Was hatte es mit diesem Besuch auf sich? 

Putin will den  belarussische Diktator Alexander Lukaschenko in enger Kontrolle halten. Lukaschenko ist jemand, der einerseits Putin immer nach dem Mund redet, andererseits aber immer versucht, irgendwie seinen eigenen Weg zu finden. Gleichzeitig gibt es jetzt sehr handfeste Verwerfungen, weil Lukaschenko zwar vermieden hat, dass die belarussischen Streitkräfte aufseiten Russlands in diesen Krieg eingreifen – aber er musste den Russen dafür Militärstützpunkte, Militär, Material und Munition in großem Umfang zur Verfügung stellen. Und Putin nutzt solche Besuche natürlich auch, um den Druck auf Lukaschenko aufrechtzuerhalten, der sich immer ein bisschen dreht und windet. Außerdem erhofft Putin sich natürlich auch einen Effekt für die heimische Propaganda, denn so viele Verbündete hat Russland nicht mehr. Also muss er immer wieder ein bisschen darauf hinweisen, dass er im näheren Umfeld auch Partner und Freunde hat – zumal ihm diese jetzt insbesondere in Zentralasien abhandenkommen. 

Welche Druckmittel gegen Lukaschenko hat Putin denn konkret in der Hand? 

Schon vor einigen Jahrzehnten ist das gesamte belarussische Gasversorgungsystem in russische Hände gelangt. Belarus ist wirtschaftlich sehr stark von Russland abhängig, und Lukaschenko hat überhaupt gar keine andere Wahl, als Putin militärisch zumindest mit Material, mit Munition und mit den Stützpunkten zu unterstützen. Über allem schwebt natürlich immer die Gefahr einer Eingliederung von Belarus in die Russische Föderation. Und Lukaschenko möchte eben Diktator in seinem eigenen Land bleiben. Das kann er offenbar nur, wenn er ständig neue Zugeständnisse an Putin macht. 

Auch der Westen war – und ist es zum Teil immer noch – sehr stark von russischen Energieträgern abhängig. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind deshalb auch innerhalb der EU durchaus umstritten. Welche Wirkung zeigen die Sanktionen bisher? 

Die Sanktionen wirken sehr empfindlich. Und zwar besonders zielgenau in einigen spezialisierten technologischen Bereichen wie Waffentechnik, Munition oder bei bestimmten Arten von Marschflugkörpern. Das darf man nicht unterschätzen. Natürlich versucht Russland immer wieder, Wege zu finden, das zu umgehen. Moskau verhandelt mit Iran, mit Nordkorea, hinter den Kulissen vielleicht auch mit China. Aber die Sanktionen bereiten Russland erhebliche Schwierigkeiten und schwächen den militärischen Apparat. Und die Wirtschaftssanktionen insgesamt haben eine fatale Wirkung auf die russische Wirtschaft. Wenn man sich die Inflation anschaut, den Wert des Rubels und überhaupt die Situation insgesamt im Land, wird deutlich: Die Sanktionen wirken zweifellos, aber eben mit Zeitverzögerung. Allerdings gilt auch: Bestimmte Arten von Waffen und Waffensystemen kann Russland auch weiterhin mit heimischen Mitteln produzieren. Die sind dann vielleicht technologisch nicht so leistungsfähig, aber für eine Kriegsführung im Stil des 20. Jahrhunderts reicht es aus. Russland kann den Krieg also trotz der Sanktionen noch lange weiterführen. 

Erkennen Sie derzeit ein plausibles Szenario, wie sich der Ukrainekrieg dennoch in absehbarer Zeit beenden ließe? 

Mein Eindruck ist, dass beide Seiten militärische Planungen haben, wonach der Krieg noch einige Monate weitergeht. Und dass aus ukrainischer Seite ein wirklicher Frieden nur erreicht werden kann, wenn Russland das Gebiet der Ukraine vollständig wieder verlässt. Das wiederum setzt noch einen längeren Kriegsverlauf voraus – und hängt auch ab von Unterstützung mit westlichen Waffen. Wir können dazu beitragen, dass der Frieden schneller kommt, indem die Ukraine in die Lage versetzt wird, die Russen schneller aus der Ukraine wieder zu vertreiben.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

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