
- „Eine erstaunliche Kontinuität der Gestaltungsprinzipien“
Europa ist weniger ein Kontinent denn eine kulturelle Lebensform – und deren Mission ist noch lange nicht erfüllt. Christoph Stölzls Liebeserklärung an die europäische Kultur erinnert an Europas „unermesslichen Reichtum an Ausdrucksformen“
Eine Lobeshymne auf Europa? Das mag in Zeiten des Brexit anachronistisch anmuten. Aber gerade jetzt braucht es Europäer, die daran erinnern, was diesen Kontinent lebenswert macht und warum wir die Europäische Union brauchen. Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Cicero in seinem Jubiläumstitel die leidenschaftlichen Plädoyers zehn namhafter Autoren. Diese Texte aus unserem Archiv möchten wir in den kommenden zwei Wochen mit Ihnen teilen.
Für den sechsten Teil unserer Europareihe schreibt der Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar, Christoph Stölzl, über Kultur in Europa.
„Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstenthümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogthümer und durch ein paar Königreiche gelaufen, und das in der größten Übereilung in einem halben Tag.“ So ruft es in Georg Büchners „Leonce und Lena“ der Hofnarr Valerio seinem Prinzen zu, mit dem er auf romantische Italienreise ausgezogen ist. Souveränität im Kleinen ist das europäische Urprinzip. Nicht Flächenstaat und Zentralismus, sondern Pluralismus vieler Majestäten machte und macht den Reichtum des Kontinents aus, der nur dem Namen nach einer ist.
Variationen der Künste auf den verschiedensten Feldern der Humanität
Hätten die beiden Wanderer in Büchners Lustspiel in allen Staaten, die sie so flugs durchquerten, einen Abstecher in die Theater und Opernhäuser, Philharmonien und Museen, Schlösser und Parks, Kathedralen und Kapellen gemacht – sie wären bis heute nicht beim Happy End des Dramas angekommen. Allein in Deutschland öffnen sich 6250 Museen jährlich 106 Millionen Besuchern, und um die Musikfreunde wetteifern 132 Symphonieorchester und 82 Opernhäuser. Aber was sollen Statistiken: Mutatis mutandis sieht es bei unseren Nachbarn ähnlich aus. Wer Europa durchwandert, der erlebt einen unermesslichen Reichtum an Ausdrucksformen, an Variationen der Künste auf den verschiedensten Feldern der Humanität. Elementar ist die Polyfonie der Kommunikation: Europas Menschen und also auch Kulturen sprechen viele Sprachen und Dialekte. Die europäische Seele ist vielsprachig, und sie fühlt und erlebt sich selbst so.
Eine kulturelle Lebensform
Das alles zusammen nennen wir „Kultur“, und nur Puristen mokieren sich über die Ungenauigkeit dieses Begriffs, der das Abstrakte wie die Kunst der Fuge wie das Sinnliche der Kochkunst umgreifen kann. Seit die antiken Denker Europa zu definieren begannen, fanden sie, es handle sich vor allem um eine kulturelle Lebensform. Sie hat bis heute eine erstaunliche Kontinuität der Schönheitsideale und Gestaltungsprinzipien bewahrt. Sie ist seit drei Jahrtausenden in einem unendlichen Selbstgespräch über das Verhältnis von Gut und Böse, von Schön und Hässlich. Sie hat aus drei radikal verschiedenen Weltentwürfen, dem griechisch-individualistischen, dem römisch-rechtlichen und dem jüdisch-christlichen der Nächstenliebe eine Synthese versucht, die nie vollständig gelungen ist und darum als Vor-Wurf ewig lebendig bleibt.
Die europäische Doppelformel
Wie sieht es mit der Zukunft aus? Nach Befunden der Uno lebten im Jahre 1900 in Europa 21 Prozent der Weltbevölkerung; heute sind es weniger als 12 Prozent, und am Ende unseres Jahrhunderts werden es den Schätzungen zufolge weniger als 4 Prozent sein. Wird Europa zu einer quantité négligeable der Menschheitsgeschichte? Dazu wird es nicht kommen. Denn die Mission Europas ist noch lange nicht erfüllt. Die europäische Doppelformel von forschendem, formendem Menschengeist und forderndem Menschenrecht ist immer noch auf ihrem Weg rund um den Globus – selbst verschuldete Rückschläge inbegriffen. Aber es gibt für uns Europäer keine Alternative dazu. Wer das Goethe’sche „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ über Bord wirft und Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Freiheit des Individuums garantiert, sich in allen Formen Gehör zu verschaffen in der Welt, der ist schon halb verloren.