Fehlende deutsche China-Strategie - Wer zu spät kommt

Annalena Baerbock steht wegen ihrer undiplomatischen und konfrontativen Außenpolitik in der Kritik. Dabei hat gerade China ein großes Interesse an einer gedeihlichen Zusammenarbeit. Das scheitert aber derzeit am mangelnden Engagement Deutschlands.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zeigte sich in Peking angriffslustig und unbedacht / picture alliance
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Autoreninfo

Ole Döring ist habilitierter Kulturphilosoph und Sinologe. Er vernetzt unterschiedliche Kompetenzen und Denkweisen zu Medizin und Gesundheit, Technologie, Soziales und Ökonomie. Döring beschäftigt sich mit kulturellen und philosophischen Fragen der Medizin und Bioethik und ist Vordenker einer globalen Gesundheits-Ethik. Zuletzt ist von ihm das Buch „Das Luther-Gen - Zur Position der Integrität in der Welt“ erschienen.

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Der Besuch der deutschen Außenministerin in China ist Mitte April unfallfrei zu Ende gegangen. Das war nicht selbstverständlich und lag vor allem an den diplomatischen Tugenden der chinesischen Seite. Der negative Eindruck einer Amtsträgerin, die überwiegend als uninformiert, respektlos und unklug wahrgenommen wurde, bleibt bedauerlich. Hoffen kann man, dass es im direkten Gespräch anders zuging als vor laufenden Kameras. Die (un-)diplomatische Präsentation des neuen Deutschlands auf der Weltbühne bleibt auch so eine Offenbarung.  

Das Grundgesetz verpflichtet die Amtsträger darauf, den Nutzen des gesamten deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden, auch von jenen, die einen nicht gewählt haben. Vom Krieg bis zum Klima, von der modernen Stadt bis zur Integration von Migranten, von der Geldpolitik bis zur Regulierung sensibler Technologien – die Palette der brennenden Fragen ist breit, die Deutschlands Außenpolitik zum Wohle des Volkes angehen.

Die Vorleistungen und Angebote Chinas in fast allen diesen Bereichen sind beachtlich. Das Außenministerium ist direkt für wesentliche Abläufe verantwortlich, die es ermöglichen würden, innovative Großprojekte nach der Covid-Lücke wieder auf Kurs zu bringen. Dazu gehören unter vielen anderen: der Sino-German Ecopark in Qingdao in der östlichen Provinz Shandong; die Sino-German Metal Eco City, neben dem Jieyang Sino-German Ecological Agriculture Park in Jieyang; in der südchinesischen Provinz Guangdong; oder der deutsch-chinesische Industriepark für die integrative Entwicklung von „Made in China 2025“ und „Germany Industry 4.0“ im nordöstlichen Shenyang.  

Ein Besuch voller Erwartungen

Lokale Medien hatten voller Erwartung vom bevorstehenden Besuch der „grünen“ deutschen Außenministerin berichtet. Noch am 17. April lobte China Daily unter der Schlagzeile „Die Grüne Welt fordert engere Beziehungen zwischen China und der EU“: „Die chinesisch-europäische Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Klimawandels war schon immer ein Vorbild für die internationale Gemeinschaft.“ 

Der Souverän würde vieles gutheißen, was der Vertretung grüner Anliegen dient, bis hin zur aktiven Unterstützung Chinas in Bereichen besonderer deutscher Kompetenz. Dazu zählten Anfang der 2000er-Jahre ganzheitliche Gesundheit und Bildung sowie solidarische und paritätische Kooperationsmodelle. Seitdem ist der Bedarf daran gewachsen, denn neoliberale Wirtschaft, Transhumanismus und Utilitarismus haben nicht nur in Deutschland das Gesundheitswesen, die Bildung und den Ethikdiskurs verheert.

Auch und besonders in China sieht man immer klarer, nach anfänglicher Schubwirkung der nachahmenden Modernisierung, dass man in zentralen Bereichen falsch aufgestellt ist. Nun sucht China nach kulturellen und geisteswissenschaftlichen Quellen für die laufenden Reformen. Mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst stünde hierfür eine Infrastruktur zur Entwicklung einer kooperativen Partnerschaft zur Verfügung, hätte die aktuelle Regierung sie nicht jüngst noch einmal ausgedünnt. Ohne solide Wissens- und Institutionengrundlagen bleibt jede Maßnahme nur ein unverbundenes Signal.  

Baerbocks Auftreten strapazierte die Geduld

Statt sich beim Neustart grundlegenden Themen zu widmen, strapazierte Baerbocks Besuch vor allem die Geduld. Es ist leicht, die vermutlich an China gerichtete Warnung vor dem Auslösen bewaffneter Konflikte, nämlich durch „einseitige und gewaltsame Veränderung des Status quo“, als an die Adresse der USA gerichtet zu interpretieren. Solche Deutungsspielräume sind vermutlich nicht beabsichtigt, auf keinen Fall wirken sie professionell. „Klartext“ redet man so nicht. Vielleicht wurde ja privat über das Doppelspiel der USA gesprochen, sowohl in Xinjiang als auch bei Taiwan als auch in der Ukraine Deutschlands Gehorsam einzufordern, um die eigenen Doppelstandards für Privatinteressen durchzusetzen, auf Kosten Deutschlands und Europas. Diese zynische Strategie ist in China seit Trump ein Inbegriff für amerikanischen Egoismus.   

Die Korrektur und Entschuldigung für provokative Gesten, wie die Entsendung der Fregatte „Bayern“ in einen Teil der Welt, in dem Deutschland keine geopolitischen Interessen hat, wäre eine besonders einfache Geste gewesen. Das Bedauern eigener Fehleinschätzungen und der angedeuteten Beugung des Völkerrechts mit Blick auf Hongkong, Taiwan oder Xinjiang hätte die Tür zur Vertrauensbildung öffnen können. Für die laufende Annäherung zwischen Taiwan und dem Festland im Zuge des immer größer gewordenen Grenzverkehrs könnten die ehemals geteilten Deutschen größeres Verständnis aufbringen

 

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China hat ein intrinsisches Interesse am Dialog, nicht aber an Veranstaltungen ohne positives Ergebnis. Kandidaten für gute Nachrichten hätte es viele gegeben. Nun hilft es nichts, im Nachgang klarzustellen, dass China Achtung gebührt, weil es gelungen sei, in kurzer Zeit 800 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien, und eine Abkopplung der EU von China „offensichtlich nicht machbar, erwünscht oder gar praktikabel“ wäre, wie es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach ihrer Rückkehr aus Beijing verlautbarte. Man nimmt das in China zwar mit Genugtuung zur Kenntnis. Es ist aber viel schwächer als ein souveräner gemeinsamer Auftritt im Land.   

Es wurde nicht besser dadurch, dass Deutschland gleich nach Baerbocks Rückkehr mit den Außenministern der anderen G7-Staaten nicht nur weiter mit dem Taiwan-Thema provoziert, sondern, wie man in China feststellt, weitgehend unkommentiert von der „grün“-begeisterten Öffentlichkeit, Japans Vorhaben unterstützt, radioaktives Abwasser aus Fukushima in den Pazifischen Ozean zu leiten. Die G7 vergeben damit noch eine weitere Gelegenheit, Glaubwürdigkeit zu schaffen.  

Im Schatten der deutschen Wahrnehmung gedeiht derweil die Zusammenarbeit Chinas mit Russland und anderen Ländern. Muss das alles nur deshalb schlecht sein, weil es nicht „von uns“ ausgeht? Jetzt kann sich niemand mehr darauf berufen, dass direkte Gespräche nicht möglich sind. So bequem war es noch nie, Diplomat zu sein. Unsere Amtsträger sind voll verantwortlich, wenn sie einen schlechten Eindruck hinterlassen. Die Nebelkerzen angeblicher Waffenlieferungen, die China immer kategorisch ausgeschlossen hat, berauschen zwar weiter die Moral, ihre Wirkung lässt jedoch nach.

USA bereiten sich mutmaßlich auf ein Ende des Ukraine-Krieges vor

Dagegen mehren sich die Anzeichen, wonach die USA sich auf ein Ende des Ukraine-Krieges vorbereiten. Plötzlich lesen wir zusammen mit den Chinesen in Foreign Affairs: „Die Vereinigten Staaten und Europa werden gute Gründe haben, wenn sie ihre erklärte Politik der Unterstützung der Ukraine aufgeben.“ Und „die Nato-Verbündeten würden dann einen strategischen Dialog mit Russland über Rüstungskontrolle und die breitere europäische Sicherheitsarchitektur beginnen“. Also genau das, was Russland bis Februar 2022 gefordert hat. Das hatten Nato und USA zurückgewiesen, China aber unterstützt.  

So liest man in der kanadischen Asia Times zu Chinas geostrategischen Initiativen: „All die diplomatischen Schritte in so kurzer Zeit sind fast schwindelerregend. Sie wurden durch Chinas Schachzug mit Iran und Saudi-Arabien meisterlich eröffnet. (…) Die USA leisteten ihren eigenen Beitrag zu diesem Prozess, indem sie CIA-Direktor William Burns zu einem unangekündigten Besuch nach Saudi-Arabien entsandten (…). Manche sehen darin eine Warnung oder vielleicht sogar Drohung.“ Die Asia Times sieht einen Kontrast zwischen „Bidens Diplomatie für den Krieg versus (Chinas) Diplomatie für den Frieden.“

Fast alle chinesischen Beobachter gehen davon aus, dass die moralische Demontage und anschließende Sprengung der Nord-Stream-2-Pipeline von den USA zu verantworten ist, die auf Deutschlands Kosten gleich mehrfach profitieren, durch den teuren Verkauf vormals indizierter Energieträger und durch die Monopolisierung des Narrativs. Aus chinesischer Sicht kann es keine Friedenspolitik ohne Vorrang sozialer Güter geben, erst recht nicht mit Vorrang von Waffengeschäften oder gar Terrorakten. Zugleich erscheint es vielen befremdlich, wie willfährig die junge Generation deutscher Politiker bereit ist, dem Gründungsziel der Nato zu dienen, Deutschland schwach zu halten. Mitleid oder gar aktive Hilfe kann Deutschland angesichts seiner Arroganz wohl kaum von China erwarten.

Macron und Lula als Vorbild einer klugen Außenpolitik

Brasiliens Präsident Lula wird andererseits bei seinem Besuch zum Kronzeugen eines im Lande verbreiteten Bildes, das schon der Besuch Macrons vorgezeichnet hatte. Chinas Aufstieg zu der seiner Größe angemessenen Macht und Rolle sei positiv, besonders weil es mit der Ablehnung von Krieg und der Anerkennung der UN verbunden sei. Einem Regierungsvertreter, der so etwas sagt, hört man sehr viel interessierter zu, wenn es dann um harte Verhandlungen über gravierende Fragen des politischen Geschäfts geht.

In der Tat haben sowohl Macron als auch Lula weit kritischere Positionen vertreten, als es die tendenziöse Übersetzung in deutschen Medien erkennen ließ. Außenminister Li Qiang unterstrich dementsprechend auch die gemeinsame Augenhöhe der beiden größten Entwicklungsländer und Wachstumsmärkte der Welt. Folgerichtig verbessern sich nun die Beziehungen zwischen Russland und Brasilien, vermutlich auch mit Frankreich, immer begleitet von moralischem Getöse aus den USA. Lula wiederholt: „Die Vereinigten Staaten müssen aufhören, Krieg zu fördern, und anfangen, über Frieden zu sprechen.“

Kommunen und Unternehmen treiben die Zusammenarbeit voran

Ebenfalls unter dem Radar der deutschen Wahrnehmung und gegen ideologische Widerstände treiben Kommunen und Unternehmen die wirtschaftliche Zusammenarbeit voran. Hier zeigt sich der besondere Wert einer diversifizierten Unternehmenskultur. Sie braucht keine besondere Förderung und erst recht keine politischen Maßgaben. Diese sind in ganz anderen Bereichen lange überfällig. 

Was fast völlig fehlt, ist deutsches Engagement im Bildungswesen jenseits des internationalen Science-&-Technology-Komplexes und im Gesundheitswesen jenseits der Medizin und „Gesundheits“-Wirtschaft. Hohe administrative Hürden auf beiden Seiten machen zum Beispiel die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung unnötig schwierig. Es fehlt an den Grundlagen einer Chinakompetenz in Deutschland. Es fehlen Brückenbauer mit einer sozialpolitischen Agenda im Sinne der UN und der WHO. Es fehlt ein institutionelles Gedächtnis und eine zentrale Kontaktstelle für Chinawissen. Diese sind traditionell billige Investitionen mit enormen Ertragswerten, die sich gleichwohl weder im Aktienmarkt noch in der Spekulationswirtschaft niederschlagen.

Schon seit 2021 verfolgt die Unesco ein Programm zur geistigen Gesundheit junger Menschen in China. Die Probleme eines Schulsystems, das nicht länger bereit ist, „von Amerika zu lernen“ oder in altes Kommandodenken zurückzufallen, und eines Gesundheitssektors, der sich weitgehend der Medizin und Technologie verschrieben hat und nun strukturelle Defizite feststellt, die zu mehr Krankheit als Gesundheit führen, laden immer offener ein. Hier müssen nun Grundlagen gelegt werden, solange die entsprechenden Kompetenzen in Deutschland noch existieren.    

Es fehlt ein flankierender Masterplan

All dies lässt sich ganz ausgezeichnet mit den großen Interessen, Erfahrungen und Errungenschaften zusammenbringen, die Deutschland, vor dem Siegeszug des Neoliberalismus, kulturell und sozial gestärkt haben – und auch in China einige Spuren hinterlassen haben. Bildung und Gesundheit sind Voraussetzungen für gute Arbeit; die psychosomatischen Belastungen durch moderne Lebensweisen verstehen deutsche Wissenschaftler schon länger und vermutlich auch besser als der Großteil ihrer chinesischen Kollegen. Hier liegen enorme ökonomische Wachstumspotentiale in vielen Bereichen „weicher“ Faktoren.

Ebenso bieten sich, neben dem breiten bestehenden Angebot, neue Felder mit sozialem Mehrwert an, wie „grüner Kulturtourismus“. Der unternehmerischen Phantasie und politischen Gestaltung der entsprechenden Kooperationen sind keine Grenzen gesetzt. Es ist gut, wenn sich individuelle, kommunale oder mittelständische Akteure dieser Themen annehmen. Es fehlen aber ein flankierender Masterplan und die diplomatische Absicherung.   

Baerbocks Lehrlingsdiplomatie und Chinas Geduld

Die fortschreitende Öffnung bestätigt diesen Trend. Immer mehr russische Studenten, Unternehmer, Manager sind seit Jahresbeginn im chinesischen Alltag zu sehen, ebenso wie Afrikaner und Südamerikaner. Die kulturell bunte Gesellschaft bildet in China ihr modernes Gesicht, nach den Regeln des Landes. Damit sind auch viele Schwierigkeiten im Detail verbunden. Im Großen und Ganzen funktioniert das aber nicht nur immer besser – es geht auch immer selbstbewusster zu. Die Vorschusslorbeeren, von denen Deutschland aufgrund seiner hier wahrgenommenen sozialen und wirtschaftlichen Menschheitsleistungen zehren konnte, drohen derweil zu verdorren. Ein Außenminister hat viele Möglichkeiten, die positiven Bilder eines kultivierten und wertschaffenden Deutschlands zu beleben. Wir haben viel Zeit verloren.  

Soeben konnte man von jemandem, der zwar China kennt aber sicher nicht als „Chinaversteher“ diffamiert werden kann, lesen: „Wir brauchen eine Außenpolitik, die unser wichtiges bilaterales Verhältnis mit China nicht allein auf einen einzigen Aspekt reduziert, den der Rivalität.“ So Henrik Bork in Cicero, der auch die klaren Worte „Wadenbeißerin“ und „eitle Medien-Stunts“ fand, um Baerbocks Lehrlingsdiplomatie zu charakterisieren.

Politische Ämter sind zwar nur mittelbar repräsentativ. Gleichwohl sind manche naturgemäß das Gesicht Deutschlands, im In- und Ausland. Es sieht so aus, als ob China die Geduld aufbringen will, zu warten, bis unser Land seriös und kompetent vertreten wird. Angesichts von Vorbildern im Amt wie Genscher oder Fischer mag mancher in China noch hoffen, dass Deutschland zu einer kompetenten Diplomatie für die neue Weltpolitik findet. Deutschland kann sich jederzeit als lernfähig zeigen und sich präsentieren, wie es unseren Interessen entspricht.  

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