Bulgarien, Nordmazedonien - und der EU-Beitritt - Wie Frankreich den slawischen Bruderzwist im Balkan schlichten will

Während die Ukraine auf unkonventionellem Wege zu ihrem EU-Beitrittskandidatenstatus gekommen ist, liegt auf dem Westbalkan noch einiges im Argen. Bulgarien hat zuletzt überraschend den Weg frei gemacht für die Fortsetzung von Nordmazedoniens und Albaniens Beitrittsprozess - und damit einen Konflikt vom Zaun gebrochen, an dem die regierende Koalition von Ministerpräsident Kiril Petkov zerbrochen ist.

Völkerrecht, Vermittlung, Verratsvorwürfe: Bulgariens Ex-Premier Petkov und Frankreichs Präsident Macron / dpa
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Frank Stier ist Korrespondent für Südosteuropa und lebt in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.

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„Es ist eine Schande, dass ein Nato-Land, nämlich Bulgarien, zwei andere Nato-Länder, nämlich Albanien und Nordmazedonien, während eines heißen Krieges in Europas Hinterhof kidnappt und andere sechsundzwanzig EU-Länder in einer beängstigenden Show der Ohnmacht stillsitzen“, polterte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama beim Brüsseler EU-Westbalkangipfel im Interview für Bulgariens Nationales Fernsehen (BNT). Sein Land ist mit betroffen von Bulgariens im Jahr 2020 verhängtem Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien. 

Und als hätten sie sich Ramas Schimpfworte zu Herzen genommen, stimmten die Abgeordneten der Bulgarischen Volksversammlung am nächsten Tag mit großer Mehrheit für die Aufhebung des Vetos, machten damit zumindest von bulgarischer Seite den Weg frei für die Fortsetzung von Nordmazedoniens und Albaniens EU-Beitrittsprozess. 

Für die Einigung sorgte ein anderer 

Zwar hatte sich unmittelbar vor der Abstimmung bereits deren Ergebnis abgezeichnet, doch konnte es insofern überraschen, als Bulgariens führende Politiker in den vergangenen Wochen im Einklang mit dem Tenor der veröffentlichten Meinung stets auf dem Standpunkt beharrt hatten, das Veto sei unabdingbar, um den südwestlichen Nachbarn Nordmazedonien dazu zu bewegen, sich an die Vereinbarungen des im Jahr 2017 abgeschlossenen Vertrags zur Freundschaft und Guten Nachbarschaft zu halten. Sie sehen unter anderem den gegenseitigen Verzicht auf Hassrede vor und die Beilegung strittiger Geschichtsinterpretationen durch eine bilaterale Historikerkommission. 

Tatsächlich kam das Verdienst für den Meinungsumschwung in Bulgariens Politik weniger Albaniens Regierungschef Edi Rama zu, als vielmehr Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Beim EU-/Westbalkangipfel im Oktober 2019 hatte er zwar selber noch EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien abgelehnt, weil sich die EU zunächst selbst reformieren müsse, bevor sie neue Mitglieder aufnehmen könne. Doch nun wollte er es unbedingt als Erfolg seiner bis Ende Juni 2022 währenden EU-Ratspräsidentschaft verbuchen können, die jahrelange Blockade der EU-Beitrittsbemühungen Albaniens und Nordmazedoniens aus dem Weg geräumt zu haben. Möglicherweise erschien ihm dies auch angesichts der unkonventionellen Zuerkennung des EU-Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine und Moldawien geboten. 

 

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Bedenken gegen Frankreichs Vorschlag 

So ließ Frankreich dem bulgarischen Parlament und der nordmazedonischen Regierung seinen Vorschlag zur Regelung einer Reihe bulgarisch-mazedonischer Streitfragen zukommen. Der sogenannte französische Vorschlag sichert Bulgarien zu, dass die EU-Kommission im Rahmen ihrer Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien darauf achten wird, dass berechtigte bulgarische Forderungen gegenüber seinem südwestlichen Nachbarn ausreichende Berücksichtigung finden. So soll die mazedonische Regierung nicht nur gewährleisten, dass die bulgarische Volksgruppe in ihrem Land vor Diskriminierung geschützt ist, sondern auch die Verfassung ändern, damit die Bulgaren wie andere ethnische Gruppen auch in ihr Erwähnung finden. 

Ob aber auch die nordmazedonische Regierung den „französischen Vorschlag“ akzeptieren wird, ist bisher unklar. Noch scheint in Skopje die Befürchtung zu überwiegen, die Europäische Kommission in Brüssel könne sich in den Dienst Sofias stellen, um künftig darüber zu wachen, ob die Mazedonier bulgarischen Ansprüchen Genüge tun. In seiner ersten Stellungnahme nannte Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovatschewski den französischen Vorschlag als „in dieser Form für unser Land inakzeptabel“, da er Hauptforderungen seines Landes wie die „volle Anerkennung der mazedonischen Sprache“ und das Bestehen darauf, dass „historische Fragen nicht Teil des EU-Verhandlungsrahmens sein sollen“ nicht enthalte. 

Doch auch außenstehende Beobachter sehen in dem Dokument einen bedenklichen Präzedenzfall, ist es doch nicht üblich, dass die EU-Kommission sich außer um die regelkonforme Öffnung und erfolgreiche Schließung der 35 Kapitel des Aquis Communautaire auch um Ansprüche einzelner EU-Mitglieder an den Beitrittskandidaten kümmert. 

Unterschiedliche Ansichten zur ethnischen und nationalen Identität

Den hartnäckigen bulgarisch-mazedonischen Animositäten liegen unterschiedliche Ansichten über die gemeinsame Geschichte, nationale Identität und Sprache zugrunde. Zwar hat Bulgarien 1992 als erstes Land die Unabhängigkeit Mazedoniens von Jugoslawien anerkannt. Dennoch sträuben sich bis heute viele Bulgaren und Bulgarinnen – wenn auch nicht alle –, die mazedonische Staatlichkeit anzuerkennen. Sie halten die mazedonische Sprache für einen bulgarischen Dialekt und die Mazedonier recht eigentlich für ihresgleichen. 

Während der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2018 erklärte die damals regierende konservativ-nationalistische Koalition von Ministerpräsident Boiko Borissow zwar die EU-Erweiterung durch die Westbalkanstaaten zu ihrer obersten Priorität, doch zwei Jahre später legte sie ihr Veto ein gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien, da diese sich nicht an den beiderseitgen Freundschaftsvertrag halte. 

Um die Nationalstaatlichkeit seines Landes zu betonen, hat der frühere mazedonische Ministerpräsident Nikola Gruevski aus seiner Hauptstadt im Rahmen des Projekts Skopje 2014 ein groteskes historisches Panoptikum gemacht. Er ließ im Zentrum Skopjes hunderte Denkmäler errichten und hob dabei auch historische Persönlichkeiten wie die Slawenapostel Kyrill & Method und Zar Samuil auf den Sockel, die die Bulgaren als ihre nationalen Helden erachten. „Die Mazedonier wollen uns unsere Geschichte stehlen“, lautet seitdem ein in Bulgarien verbreiteteter Vorwurf an die Nachbarn. Der eingesetzten bilateralen Historikerkommission gelang es bisher nicht, die Kontroversen über Geschichtsinterpretationen konstruktiv beizulegen. 

Zerreißprobe für die Regierungskoalition  

Welch politische Sprengkraft der Streit mit Nordmazedonien für Bulgarien hat, zeigte sich in den vergangenen drei Wochen. Die erst seit sieben Monaten regierende Koalition von Ministerpräsident Kiril Petkov ist an ihm zerbrochen. Am 8. Juni 2022 erklärte der ebenso populäre wie umstrittene Popstar und Showmaster Slavi Trifonov im eigenen TV-Kanal 7/8, er rufe die vier Minister seiner Partei „Ima takev narod“ („So ein Volk gibt es“, ITN) aus der Koalitionsregierung ab. Unzufriedenheit mit der Finanzpolitik der Regierung nannte er als einen Grund für das Platzenlassen der Koalition, aber auch angebliche Eigenmächtigkeit von Regierungschef Kiril Petkov in der „Mazedonien-Frage“. 

„Der Premierminister hat führenden Politikern aus Europa und der Welt versprochen, das Veto gegen Nordmazedonien aufzuheben und tut alles, damit dies geschieht, obwohl die große Mehrheit der bulgarischen Bürger will, dass Nordmazedonien erst dann Verhandlungen aufnimmt, wenn es den 2017 unterzeichneten Vertrag zwischen den beiden Ländern erfüllt hat“, erklärte Trifonov unter Anspielung auf den damals noch nicht publik gewordenen französischen Vorschlag. 

„Verrat am bulgarischen Interesse”

Danach stimmten seine ITN-Abgeordneten mit den bisherigen Oppositionsparteien zunächst für die Abwahl des Parlamentspräsidenten und sprachen der verbliebenen Dreier-Koalition schließlich ihr Misstrauen aus. Nun laufen zwar Sondierungen über die mögliche Bildung einer neuen Regierung im Rahmen der 47. Bulgarischen Volksversammlung, doch vorgezogene Parlamentswahlen im Herbst mit ungewissem Ausgang gelten als wahrscheinlicher. 

„Der sogenannte französische Vorschlag ist gut. Wenn Sie das nicht glauben, hören Sie sich an, wie sie in Skopje sagen, dass er für sie inakzeptabel ist“, begründete Hristo Iwanow, Fraktionsvorsitzender der Koalitionspartei „Demokratitschna Bulgaria (DB)“, die Zustimmung seiner Partei für die Aufhebung des Vetos. Es liege in bulgarischem Interesse, den Westbalkanstaaten ihre Perspektive für den EU-Beitritt offenzuhalten.

Die Abgeordneten von ITN stimmten aber ebenso gegen ihn wie die radikal-nationalistische Partei Wasraschdane (Wiedergeburt). „Nicht nur wir von Wasraschdane, sondern jeder normale Bulgare wird den Verrat am bulgarischen nationalen Interesse nicht akzeptieren“, begründete Kostadin Kostadinow das negative Votum seiner Fraktion. Nun hängt es von der Reaktion der Regierung in Skopje ab, ob Frankreichs Präsident Macron mit seinen Schlichtungsbemühungen im slawischen Bruderzwist zwischen Bulgarien und Nordmazeonien Erfolg haben wird und auch Albanien seinen Weg zum EU-Beitritt endlich fortsetzen kann. 

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