Aufnahme der Ukraine in die Nato? - Nicht im europäischen Sicherheitsinteresse

Eine Aufnahme der Ukraine in die Nato würde nicht zur Sicherheit des nordatlantischen Raumes beitragen. Im Gegenteil würden sich die europäischen Bevölkerungen dadurch weniger sicher fühlen können als im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts.

Fordert die Aufnahme in die Nato: der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew vor der russischen Botschaft in Berlin / dpa
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Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., hat u.a. im Verteidigungs- ministerium und in den deutschen Vertretungen bei der Nato und den Vereinten Nationen gearbeitet.

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Die Debatte über eine künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wird lauter und drängender. Die Ambition Kiews, Bündnispartner zu werden, ist bereits als Staatsziel in der ukrainischen Verfassung verankert. Osteuropäische Nato-Staaten unterstützen Kiew dabei seit Jahren. Kürzlich hat der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksij Makejew, die Bundesregierung aufgerufen, die Aufnahme seines Landes in die Nato voranzutreiben.  

Dieses ukrainische Verlangen ist angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine nachvollziehbar und verständlich. Weniger nachvollziehbar ist, dass einige Politiker und Kommentatoren in Deutschland voreilig und ohne jegliche Folgenabschätzung auf diesen Zug aufspringen. Vor dem und während des bevorstehenden Nato-Gipfels in Vilnius am 11. und 12. Juli wird vermutlich in der Nato darum gerungen werden, ob und wie die bisherige allgemein formulierte Beitrittsperspektive der Ukraine konkretisiert werden soll. Vor allem osteuropäische Regierungschefs dürften erneut auf deutlichere Formulierungen im Gipfeldokument drängen, mit denen der Nato-Beitritt der Ukraine näher rücken kann. Ebenso könnten sich die USA und Großbritannien in dieser Richtung positionieren. 

Der Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 lässt grüßen. Putin hatte an einer Sitzung des Nato-Russland-Rates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs teilgenommen und unter Hinweis auf die russischen Sicherheitsinteressen ausdrücklich vor einer Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato gewarnt. US-Präsident George W. Bush, damals wenige Monate vor Beendigung seiner zweiten Amtszeit, hatte sich darüber hinweggesetzt und von den Bündnispartnern gefordert, die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in den „Membership Action Plan“ zu beschließen, ein Beratungs- und Unterstützungsprogramm für Aspiranten, das in der Regel zu einer zeitnahen Aufnahme in das Bündnis führt. Neben den USA wurde diese Absicht vehement von osteuropäischen Staaten, insbesondere Polen, unterstützt. Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Sarkozy sowie andere westeuropäische Regierungschefs hielten dagegen. Sie waren der Auffassung, dass die Ukraine einerseits in ihrer inneren Verfassung nicht beitrittsreif sei und dass die Aufnahme andererseits die gesamteuropäische sicherheitspolitische Stabilität gefährden würde.  

Was ausgeblendet wird, ist die Folgenabschätzung für die deutsche und europäische Sicherheit

Die am Ende der Verhandlungen gefundene Kompromissformel lautete auf die Ukraine und Georgien bezogen: „We agreed today that these countries will become members of NATO.“ Der Satz entsprach keineswegs der deutschen und französischen Position, sondern war ein Kompromiss im Ringen um die Verabschiedung der Gipfelerklärung. Deutsche Nato-Experten hielten dieses Zugeständnis an die USA für falsch und eine zu weitgehende Konzession an die Bush-Administration und die Osteuropäer. Sie wurden in ihrer Einschätzung bestätigt, als der Satz in den Folgejahren immer wieder als „holy NATO language“ in Nato-Kommuniqués wiederholt wurde. 

Die Befürworter einer konkreteren Aufnahmeperspektive in der Gipfelerklärung von Vilnius rücken den Schutz der Ukraine gegen künftige Unterwerfungsversuche in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Was ausgeblendet wird, ist die Folgenabschätzung für die deutsche und europäische Sicherheit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Leider ist vor allem die deutsche Debatte gänzlich und kurzsichtig auf die russische Aggression und den Kriegsverlauf konzentriert. Eine weitsichtigere Sicherheitspolitik muss freilich die längerfristigen Folgen des eigenen Handelns für die eigene Sicherheit gründlich abschätzen.

Selbst beim Status quo in der Frage eines Nato-Beitritts der Ukraine wird sich die Konfrontation zwischen den Nato-Staaten und Russland auf allen Ebenen dramatisch verschärfen, militärisch, ökonomisch und politisch-kulturell. Zwei antagonistische Sicherheitsarchitekturen werden sich an der neuen Konfrontationslinie zwischen Nordnorwegen und dem Schwarzen Meer gegenüberstehen. Die Nato und Russland werden gänzlich auf militärische Abschreckung und Verteidigung setzen, wobei auch die amerikanischen Atomwaffen wieder stärker akzentuiert werden. Da die russischen Landstreitkräfte auf Jahre hinaus geschwächt sein werden, wird Moskau seine circa 1800 für einen Krieg in Europa vorgesehenen Atomwaffen mit kurzer und mittlerer Reichweite in den Mittelpunkt seiner Sicherheitsstrategie rücken.  

Staaten mit ungeregelten territorialen Konflikten dürfen eigentlich nicht Nato-Mitglied werden

Ob man diese Perspektive „Kalter Krieg 2.0“ nennen will oder nicht, europäische und transatlantische Sicherheitspolitik wird sich auf ein Ad-hoc-Konfrontationsmanagement konzentrieren müssen. Nachdem die gesamte Rüstungskontrollarchitektur abgeräumt ist, werden sich die europäischen Bevölkerungen weniger sicher fühlen können als im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts. Sie werden für lange Zeit in einem Zustand prekärer Sicherheit leben. Europa rutscht zurück in die alten Dilemmata des Kalten Krieges. In diese Konfrontation sind die Atommächte, die über 90% des weltweiten Nuklearpotentials verfügen, involviert. Wenn die Abschreckung der Nato versagt, kann das total zerstört werden, was verteidigt werden soll. Begriffe wie „Nukleargarantien“ und „Atomschirm“ sind prekäre Gebilde, Euphemismen, schlimmstenfalls Schimären. Eine stabile europäische Sicherheit ist langfristig nur in einer Rückkehr zu einem Minimum von Sicherheitskooperation mit Russland erreichbar, so utopisch das heute auch klingen mag.  

 

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Politiker und Kommentatoren, die vor diesem Hintergrund die Aufnahme der Ukraine in die Nato fordern, sollten endlich anfangen, vom Ende her und in Szenarien zu denken. Dabei ist auch ein Blick in den Artikel 10 des Nato-Vertrags hilfreich. Darin heißt es unter anderem, dass Staaten zur Mitgliedschaft in die Nato eingeladen werden können, wenn diese „zur Sicherheit des nordatlantischen Gebietes beitragen“. Die Autoren der Nato-Erweiterungsstudie von 1995, welchen Status dieses umfassende Papier in der heutigen Allianz immer noch haben mag, legten Wert auf die Feststellung, dass Staaten mit ungeregelten territorialen Konflikten diese vor einem Beitritt regeln müssen

Ein Nato-Beitritt der Ukraine während des andauernden Krieges würde zur unmittelbaren Beistandsverpflichtung und damit zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland führen, der nicht nur an der Nato-Ostflanke stattfinden würde, sondern wahrscheinlich auch die logistische Drehscheibe Deutschland in die Zielplanung russischer Raketen bringen würde. Einen Krieg zwischen den Atommächten in der Nato und Russland um die Ukraine darf es nicht geben. Aber auch nach einer wie immer stabilen Friedenslösung würde der Nato-Beitritt der Ukraine eher Öl ins Feuer gießen und längerfristige Perspektiven einer gesamteuropäischen Stabilität in noch weitere Ferne rücken. Zudem ist zu erwarten, dass eine konkrete, unumkehrbare Aufnahmeperspektive dazu führen würde, dass Russland langfristig zu keiner Kriegsbeendigung bereit sein wird, allein um einen Nato-Beitritt zu verhindern. 

Die Bundesregierung sollte an ihrer bisherigen vorsichtigen Linie festhalten

All dem wird das klassische Argument und Mantra entgegengehalten werden, dass Russland kein Vetorecht bei der Aufnahme von Staaten in die Nato zustehe. Das ist formal richtig, umgekehrt muss die Nato in ihrer realpolitischen Erweiterungspolitik aber darauf achten, dass die gesamteuropäische Sicherheit Europas durch die Aufnahme der Ukraine nicht dramatisch gefährdet wird. Die Bundesregierung sollte an ihrer bisherigen vorsichtigen Linie festhalten und an den entscheidenden Textstellen im Gipfelkommuniqué von Vilnius am 12. Juli darauf achten und durchsetzen, dass die Frage der Aufnahme der Ukraine in die Allianz offen und eng an die Perspektive gesamteuropäischer Stabilität gekoppelt bleibt.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die USA, Großbritannien und osteuropäische Nato-Staaten in Ermangelung der Einstimmigkeit im Nato-Rat bilaterale Sicherheitszusagen oder Sicherheitsgarantien gegenüber der Ukraine anstreben. Quasi als Vorstufe und Übergangslösung zu einem späteren Beitritt in die Nato. Das wäre ein gefährlicher Kurs, der in einer Kettenreaktion leicht den Artikel 5, die Beistandsverpflichtung der Nato, auslösen könnte. Derartige Schritte wichtiger Nato-Staaten könnten zudem zu einer Zerreißprobe im Bündnis führen. 

In dieser Gesamtlage liegt die bestmögliche Sicherheitsgarantie für Kiew in der langfristig angelegten militärischen, wirtschaftlichen und humanitären Unterstützung. Die ukrainischen Streitkräfte werden nach und nach ihre Verteidigung auf westliche Waffensysteme umstellen und so befähigt werden, ihre Souveränität nachhaltig verteidigen zu können. Aber auch dies kann im Blick nach vorn nur eine prekäre Zwischenlösung sein. Auch die Ukraine kann langfristig nur in einer neuen stabileren europäischen Sicherheitsordnung prosperieren, die sich nicht nur auf militärische Verteidigung stützt. Die Weichen dafür, ob dies gelingt, werden in der Gegenwart gestellt. 

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