Annalena Baerbock will Völkerstrafrecht ändern - „Betroffene Staaten müssen zustimmen“

Außenministerin Annalena Baerbock möchte das Völkerstrafrecht „weiterentwickeln“. Der Völkerrechtler und Experte für Internationales Strafrecht Christoph Safferling spricht im Interview über die Schwierigkeiten einer solchen Veränderung und erklärt, warum der Tatbestand des Angriffskriegs seinen Sonderstatus verlieren muss.

Annalena Baerbock im UN-Sicherheitsrat / dpa
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York Herder ist ausgebildeter Journalist und hospitiert derzeit bei Cicero.

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Christoph Safferling ist Professor für Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und Direktor der Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien. Diese setzt sich dafür ein, dass das Völkerstrafrecht auf der Grundlage der historischen Nürnberger Prinzipien weiter verbreitet wird. Im Mai forderte die Akademie die Anpassung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.

Herr Safferling, Annalena Baerbock hat gefordert, das Völkerstrafrecht weiterzuentwickeln, um Putin für den Aggressionskrieg zur Verantwortung ziehen zu können. Womit haben wir es beim Völkerstrafrecht zu tun?

Das Völkerstrafrecht als solches geht auf das 19. Jahrhundert, auf die Genfer Konventionen und die Gründung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes zurück. Die große Zäsur war nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Nürnberg gegen die führenden Nazigrößen zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte tatsächlich Völkerstrafrecht durchgesetzt wurde. Auf dieser Grundlage wurden die Nürnberger Prinzipien als Völkerrechtsprinzipien anerkannt. Nach dem Ende des Kalten Krieges griff der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das mit der Einrichtung des Jugoslawien-Strafgerichtshofs 1993 und ein Jahr später mit den Ruanda-Strafgerichtshof wieder auf. Dieses Jahr jährt sich die Einigung, einen permanenten Internationalen Strafgerichtshof einzurichten, zum 25. Mal. Das hatte man 1998 beschlossen, 2003 nahm der Gerichtshof dann seine Arbeit auf.

Welche Tatbestände deckt das derzeitige Völkerstrafrecht ab? 

Das Völkerstrafrecht kennt vier Tatbestände: 1. das Verbrechen der Aggression, 2. den Völkermord, 3. Kriegsverbrechen und 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese vier Tatbestände sind auch im Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof niedergelegt. Für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen gibt es ein relativ offenes Zuständigkeitssystem. Wenn eines dieser drei Verbrechen auf dem Territorium der Mitgliedstaaten begangen wird, kann das entsprechend untersucht werden. Das gilt nicht für das Verbrechen der Aggression. Das ist erst 2010 in das Statut aufgenommen worden, und nach der Definition der Aggression kann das Statut nur dann zur Anwendung kommen, wenn alle betroffenen Staaten, also auch der Täterstaat, der Strafverfolgung zustimmen.

Das bedeutet, um das durchzusetzen, müsste …

… müsste die Russische Föderation zustimmen. Und dass das überrascht, verstehe ich. Denn wenn wir das aus der Perspektive eines Strafrechtlers betrachten, ist es seltsam, dass der Täter in diese Entscheidung mit eingebunden wird. Aber das ist ein altes völkerrechtliches Prinzip, dass Gerichtsbarkeit immer nur dann möglich ist, wenn alle betroffenen Staaten zustimmen. So ungefähr wie bei Schiedsgerichten. Das Problem bei dem Aggressionstatbestand ist, dass der Kern des Vorwurfs eben die Verletzung der UN-Charta durch den Staat ist. Weil es um das Verhalten von Staaten geht, waren die Staaten mit der Zuständigkeit des Gerichtshofs damals sehr zurückhaltend.

Geht es bei diesem Tatbestand in erster Linie darum, Staaten oder einzelne Personen vor Gericht zu stellen?

Eine einzelne Person kann nicht gegen die UN-Charta verstoßen, sondern nur ein Staat. Aber natürlich ist für den Verstoß des Staates eine einzelne Person verantwortlich. Das knüpft daran an, was ich bereits eben sagte. Weil das diesen starken staatlichen Kontext hat, waren die Staaten bei der Formulierung des Tatbestandes so zurückhaltend, um dem Internationalen Strafgerichtshof nicht zu viel Macht über sich zu geben. Und dazu kommt noch, dass 2010 niemand daran geglaubt hat, dass wir wieder einen konventionellen Krieg zwischen zwei Staaten erleben würden. Da dachten alle nur an asymmetrische Kriege wie in Afghanistan oder Syrien. Dass die Russische Föderation die Ukraine überfallen hat, zeigt aber, dass dieser Tatbestand der Aggression jetzt nachgebessert werden muss, damit der Internationale Strafgerichtshof das auch ohne die Zustimmung der Russischen Föderation verfolgen kann.

Welche Änderungen müssten im Völkerstrafrecht vorgenommen werden?

Im Grunde müssten im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nur die Sonderregeln für die Zuständigkeit beim Aggressionsverbrechen gestrichen werden. Dann könnte der Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen.

Das klingt sehr einfach.

Aus meiner wissenschaftlichen Sicht ist das ganz einfach, aus Sicht der betroffenen Staaten natürlich nicht. Damit so eine Veränderung durchgesetzt werden kann, sind viel Arbeit und Diplomatie gefragt. Eine Chance dafür ergibt sich 2025, denn dann wird es eine Überprüfungskonferenz für das Römische Statut geben.

Christoph Safferling /
Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien

Ist für die Änderung der Römischen Statuten eine Einstimmigkeit der beteiligten Staaten notwendig?

Das geht mit einem Mehrheitsbeschluss. Die einzelnen Staaten müssen allerdings jeweils individuell zustimmen und die Änderung ratifizieren. Das ist grundsätzlich das gleiche Prozedere wie bei jedem anderen internationalen Vertrag.

Sind die Ukraine und die Russische Föderation überhaupt Teil des Internationalen Strafgerichtshofs, haben sie die Statuten überhaupt ratifiziert?

Nein, weder noch. Bei der Russischen Föderation überrascht das wahrscheinlich nicht; dass die Ukraine hingegen kein Mitgliedstaat des Internationalen Strafgerichtshof ist, ist nicht wirklich tragbar. Die Ukraine sollte möglichst bald das Statut ratifizieren. Sie hat allerdings die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs bereits anerkannt. Sonst könnte der IStGH jetzt gar nicht in der Ukraine ermitteln, also wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Das geht nur, da die Ukraine darum gebeten hat. Damit hat sie sich dem Statut unterworfen, aber gleichwohl ist es wichtig, dass die Ukraine am Internationalen Strafgerichtshof Vollmitglied wird.

Welchen Sinn ergibt eine Änderung, solange nicht beide Länder das Statut ratifizieren?

Die Änderung tritt nicht automatisch in Kraft, selbst wenn es einen Mehrheitsbeschluss gibt, sondern ist abhängig von den Ratifikationen der Mitgliedstaaten. Vielleicht wäre die Änderung dann hier nicht relevant und man muss andere Möglichkeiten suchen, die Aggression zu verfolgen. Es geht aber auch darum, dass der Tatbestand des Aggressionsverbrechens nicht weiter als Sondertatbestand behandelt wird. Für die Zukunft ist es wichtig, dass es ein Tatbestand wie jeder andere ist und auch gleich behandelt wird. Dann können die Verantwortlichen verfolgt werden. Das wäre ein deutliches Signal für die Zukunft.

Apropos Verfolgbarkeit. Es gibt ja schon einen Haftbefehl gegen Putin. Kann man denn einen Staatschef einfach so festnehmen?

Für Staatspräsidenten und Staatschefs gelten Immunitätsregeln. Das heißt, es gilt eine persönliche Immunität, solange die Person im Amt ist. Der Internationale Gerichtshof, also das Gericht der UN mit Sitz in Den Haag, hat aber festgestellt, dass diese Immunitätsregeln nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof gelten. Denn die Aufgabe dieses Gerichts ist es ja gerade, die Mächtigen der Welt zu kontrollieren, zu überwachen und möglicherweise zu bestrafen, auch wenn sie im Amt sind. Sollte Wladimir Putin verhaftet werden, könnte er sich nicht auf diese Immunität berufen.

Was bedeutet das?

Seine Bewegungsfreiheit ist ja jetzt schon eingeschränkt, denn das ist ein gültiger Haftbefehl eines internationalen Gerichtshofs. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, diesen umzusetzen. Sollte Putin nach Deutschland fliegen, müsste er in Frankfurt am Flughafen festgenommen und nach Den Haag überstellt werden. Aber auch ein Nicht-Mitgliedstaat könnte Wladimir Putin auf Grundlage des Haftbefehls vom Internationalen Strafgerichtshof verhaften. Also, er könnte im Grunde auch in den USA, in China oder in Israel verhaftet und nach Den Haag überstellt werden.

Um nochmal auf die Beseitigung des Sonderstatus zurückzukommen: Für mich klingt es so, als wäre das im derzeitigen Krieg vor allem ein symbolischer Akt, solange die beiden Länder die Änderung ratifizieren.

Grundsätzlich ja. Aber sollte das Römische Statut jetzt schnell geändert werden, wäre es tatsächlich interessant zu prüfen, ob der aktuelle Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine nicht doch unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fällt. Denn die Ukraine hat die Gerichtsbarkeit anerkannt, und damit könnte auch dieser Fall unter die Gerichtsbarkeit fallen. Ich habe da eine Präferenz dafür, dass dem so ist.

 

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Woraus leiten Sie das ab?

Es würden nur Zuständigkeitsvorschriften geändert werden. Da die Ukraine schon seit 2014 die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs anerkennt, bedeutet das, dass alles, was seither auf dem Territorium der Ukraine geschieht, grundsätzlich unter die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fällt. Das gilt aktuell nur für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Wenn jetzt dann aber auch der Aggressionstatbestand von diesen Sonderzuständigkeiten befreit wird, dann gilt auch das.

Wie sieht es hier mit der Macht des UN-Sicherheitsrats aus? Wäre eine Blockade durch die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats möglich?

Der UN-Sicherheitsrat hat damit unmittelbar nichts zu tun, sondern es ist eine Sache der Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs.

Weshalb hat die Außenministerin ihre Forderung dann dort vorgetragen?

Der Sicherheitsrat bleibt, trotz der momentanen Blockadesituation, das höchste politische Gremium der Weltgemeinschaft. Im Moment hat der Sicherheitsrat ganz konkret auch ein Mitspracherecht, da der Rat feststellen muss, dass es sich um eine Aggression handelt. Aber das würde man aus dem Statut streichen. Zudem hat der Sicherheitsrat ein allgemeines Recht, vom IStGH zu verlangen, dass eine Strafverfolgung für ein Jahr ausgesetzt wird.

Das Interview führte York Herder.

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