Afghanistan-Einsatz - „Die Bundeswehr war nicht das liebste Kind der Merkel-Regierung“

Der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD), zieht eine ernüchternde Bilanz aus dem Afghanistan-Einsatz des Westens. Für die beiden Bundeswehr-Einsätze im westafrikanischen Mali fordert er ein Umdenken, da die derzeitige Strategie nicht aufgehe.

Ein Fahrzeug der Gebirgsjäger fährt im Rahmen der UN-Mission MINUSMA in Gao durch die Wüste / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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SPD-Politiker Hans-Peter Bartels, Jahrgang 1961, war von 2014 bis 2020 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages. In dieser Zeit setzte er sich unter anderem für eine Aufrüstung der Bundeswehr sowie eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben ein. 

Herr Bartels, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat diese Woche zu einer Fachtagung geladen, die eine Bewertung der Bundeswehr-Mission in Afghanistan anstoßen sollte – während parallel die Sondierungsgespräche liefen. Kam der Termin zur Unzeit?

Der Termin war wohl schon länger geplant, aber das Timing scheint wirklich nicht besonders günstig gewesen zu sein, da jetzt gerade die Regierung wechselt. Die Aufarbeitung der 20 Jahre Afghanistan – oder wenn wir es weiter fassen wollen: der Interventionsgeschichte des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges – sollte in der neuen Legislaturperiode von einer eigenen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages geleistet werden. Da muss man sich dann auch Gedanken darüber machen, welche Bedingungen es eigentlich für gelingende Interventionen braucht. „Afghanistan“ ist jedenfalls kein Modell, das man übertragen könnte, um sicheren Erfolg in anderen Krisenregionen zu haben.

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Afghanistan war aber auch kein Kurzeinsatz. Hätten all die Probleme, die man jetzt im Nachklapp erörtern will, nicht sinnvollerweise schon während des Einsatzes erörtert werden müssen?

Was den militärischen Teil der Mission angeht, gibt es eine Auswertung der Bundeswehr nach den ISAF-Jahren, die 2014 zu Ende gingen. Das Papier wurde allerdings nie veröffentlicht und auch dem Verteidigungsausschuss nicht vorgelegt – vielleicht in der Erwartung, dass es irgendwann eine ganzheitliche Regierungsevaluation geben würde. Gab es aber nicht. Der amerikanische Kongress hatte demgegenüber ein ganz gutes Instrument der Einsatzauswertung, den sogenannten „Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction“, der vierteljährlich Berichte herausgegeben hat, die bereits lange vor dem Abzug der US-Truppen sehr kritisch waren.

Gab es ähnliches auch in Deutschland?

Wir hatten sogenannte Fortschrittsberichte der Bundesregierung, die den Ausschüssen des Parlaments vorgelegt wurden. Die blieben allerdings meist recht allgemein und stellten die Entwicklung in Afghanistan mit einer eher positiven Tendenz dar, weil sie ja auch der politischen Legitimation einer Fortsetzung des Engagements dienen sollten. Insofern steht also die kritische Aufarbeitung in Deutschland noch aus.

Wie lautet denn Ihre Bilanz nach dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr?

Hans-Peter Bartels / dpa

Man ist mit viel gutem Willen, Opferbereitschaft, viel Geld und manchen Illusionen nach Afghanistan gegangen, hat dort öfter die Strategie gewechselt und mehrfach die Ziele geändert: von der Terrorbekämpfung bis zum Nation Building, von humanitärer Hilfe bis zu Frauenrechten und Demokratie. Nach zwei Jahrzehnten stellen wir fest, dass es kein Vorteil ist, wenn das gesamte internationale Chaos über einem fragilen Dritte-Welt-Land ausgeschüttet wird: mit 50 Truppen stellenden Nationen, mit 80 Ländern, die zivile Hilfe geleistet haben, und über 2000 Organisationen, Vereinen, NGOs aus aller Welt, die gleichzeitig in Afghanistan tätig waren. Die Frage, wer das eigentlich führen soll, wie man den riesigen Aufwand koordiniert und auf ein gemeinsames realistisches Ziel ausrichtet, ist immer offen geblieben. 

Haben Sie ein Beispiel für einen Auslandseinsatz, bei dem das besser gelaufen ist?

Ja, die zweite Phase des internationalen Einsatzes auf dem Balkan, als die Missionen robust wurden. Da haben wir die Erfahrung gemacht, dass man mit einer starken militärischen Präsenz und wirklichem Verantwortungsbewusstsein etwas ausrichten kann. Für das Kosovo, ein Land mit zwei Millionen Einwohnern,  stellte die Nato über 60.000 Soldaten bereit. Allen war klar: Es muss klappen, weil es existenziell ist für Europa, dass das Morden aufhört. Also haben wir alles dafür getan, dass die Stabilisierung gelingt. Misserfolg war keine Option. Der frühere Bremer Bürgermeister Hans Koschnick ist 1994 nicht nach Mostar gegangen, um den Bürgermeister von Mostar zu beraten, sondern um selbst Verwaltungschef von Mostar zu sein. Christian Schwarz-Schilling war später als Streitschlichter der UN in Bosnien-Herzegowina eine Art Hochkommissar, der Beschlüsse des bosnischen Parlaments außer Kraft setzen konnte, wenn sie dem Frieden nicht dienten. Die internationale Gemeinschaft hatte eine enorm starke Stellung, die sie sich auch institutionell abgesichert hat. Und viele haben wirklich am gleichen Strang gezogen.

Sie sprachen eben von Illusionen. War die größte Illusion in Afghanistan vielleicht, dass sich die ausgebildeten Sicherheitskräfte gegen die Taliban für eine korrupte Regierung verheizen lassen, die ihre eigenen Leute im Stich lässt, sobald der Feind anrückt?

So sah es wohl aus. Das Illusionäre ist auch an anderen Stellen sichtbar geworden. Zum Beispiel, dass, wenn die Diktatur beseitigt ist, quasi von selbst Demokratie an ihre Stelle tritt – Wahlen sind dann so etwas wie das Happy End in einem Hollywood-Film, der mit einer wunderschönen Hochzeit endet. Aber Demokratie ist nie voraussetzungslos zu haben, Wählen allein genügt nicht. Deshalb ist es so wichtig, die Region, in der man interveniert, zu verstehen. Aber um keinem falschen Eindruck zu erwecken: Es ist auch vieles aufgebaut worden in Afghanistan. Die Mission war nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Anfang dieser Woche wurde bekannt, dass der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr insgesamt 17,3 Milliarden Euro gekostet hat. Ist das nicht überraschend wenig für einen so langen Einsatz?

Das Hauptproblem der Afghanistan-Erfahrung für uns in Deutschland ist nicht, dass der Einsatz Geld gekostet hat, sondern zum Beispiel, was er mit der Bundeswehr gemacht hat. Unsere Streitkräfte sind mit der Reform im Jahr 2011 praktisch auf Afghanistan optimiert worden. ISAF hat die Bundeswehr fundamental verändert. Hinzu kommt, dass der Westen enorm an Glaubwürdigkeit verloren haben dürfte, wenn es künftig um militärische Krisenbewältigung geht.

Die USA haben über 880 Milliarden Dollar in den Afghanistan-Einsatz gesteckt. Davon flossen über 80 Milliarden Dollar in die Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften. Muss man mit Blick auf Afghanistan, um es hart zu formulieren, nicht deutlich sagen: Ausbildungsmissionen am anderen Ende der Welt, in Regionen, die man nicht versteht, sind herausgeschmissenes Geld?

Anderswo liest man, dass die Amerikaner sogar mehr als eine Billion Dollar für ihr „trial and error“ am Hindukusch ausgegeben haben. Das Ergebnis ist ein weltpolitisches Desaster. Und übrigens: Die Erfahrung mit der Ausbildung einer neuen irakischen Armee war auch nicht viel besser. Als der IS kam, sind die Soldaten davon gelaufen. Und in Mali haben wir jetzt offensichtlich Personal für eine Armee ausgebildet, die in ihren Führungskreisen zwar in der Lage ist, die Regierung wegzuputschen, aber nicht mit der Terrorgefahr im Inland fertig zu werden.

Welche Lehren lassen sich für Mali aus Afghanistan ziehen?

Es sind sehr unterschiedliche Weltregionen. Ausserdem sind die USA in Mali nicht substanziell engagiert. Was aber beide Szenarien gemeinsam haben, ist das internationale Chaos, dass keiner führt und niemand koordiniert. Dabei hätte es die Sahel-Zone, mit den ärmsten Ländern der Erde, verdient, dass die internationale Hilfe funktioniert. Das einzige, was dort im Moment wächst, ist die Bevölkerung. Die Wirtschaft geht runter, die Sicherheitslage wird von Jahr zu Jahr prekärer, und von demokratischen Verhältnissen kann man wahrlich nicht sprechen.

Führt keiner, weil keiner führen will? Oder führt keiner, weil sich keiner führen lassen will?

Vielleicht wollen die Franzosen führen. Ich glaube aber, wenn Deutschland aus Afghanistan lernen und Mali nicht eines Tages auf die gleiche Weise verlassen will, muss man einen erneuten Anlauf hin zu einer verbindlichen Verantwortungsstruktur für Mali und die Sahel-Zone nehmen. Berlin und Paris könnten gemeinsam führen, quasi in Auftragsverwaltung für EU und UN.

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, hat vor gut drei Wochen angeregt, über den Sinn und Zweck der beiden Bundeswehreinsätze in dem westafrikanischen Land zu reden. Es stehe infrage, so Högl, ob es noch realistisch sei, die Region zu stabilisieren. Sehen Sie das auch so?

Wenn man nicht bereit ist, etwas am derzeitigen Engagement zu ändern, dann geht man besser raus. Aber ich würde nicht empfehlen, in Mali den gleichen Exit zu suchen wie in Afghanistan. Wir sollten einen Weg finden, es besser zu machen.

Welche Bedingungen müssen denn allgemein erfüllt sein, dass solche internationalen Einsätze überhaupt gelingen können?

Ein realistisches Ziel, eine klare Strategie, einheitliche Führung, die notwendigen Mittel und ein langer Atem.

Braucht es darüber hinaus auch mehr Rückendeckung für die Bundeswehr im eigenen Land?

Wenn man unsere Mitbürger fragt, ob sie Vertrauen in die Institution Bundeswehr haben, sind die Zustimmungswerte eigentlich relativ hoch. Das zeigt sich auch immer wieder bei Krisen im Inland, wie bei Hochwasserkatastrophen, Waldbränden oder zuletzt auch bei Corona. Da ist die Bundeswehr hochwillkommen und hochgelobt. Auch die Aufgabe Bündnisverteidigung in Europa ist in unserer Gesellschaft gut verankert.

Könnte eine andere Diskussionkultur bei Auslandseinsätzen helfen?

Ich weiß gar nicht, ob der Blick der Gesellschaft da so unrealistisch ist. Als Afghanistan 2001 losging, gab es – noch bevor der amerikanische Präsident verkündet hat, in welche Richtung seine militärische Reaktion auf 9/11 gehen soll – eine Umfrage, wonach je die Hälfte der Befragten für und gegen eine deutsche Beteiligung an einem Militär-Einsatz in Afghanistan waren. Als die Entscheidung getroffen war, dass die USA auf Afghanistan zielen und unsere rot-grüne Regierung entschieden hatte, mitzugehen, war die Zustimmung bei 66 Prozent. Die prinzipielle Haltung, vorsichtig zu sein mit dem Einsatz militärischer Gewalt, finde ich in Deutschland gut. Aber wenn ein Einsatz überzeugend begründet ist, bekommt man die Zustimmung auch. Das ist eine Frage politischer Führung.

Würden Sie mir zustimmen, dass die vergangenen 16 Jahre Regierung Angela Merkel nicht gerade die besten Jahre für die Bundeswehr waren?

Jedenfalls ist die Bundeswehr in dieser Zeit immer kleiner geworden und ihre Einsatzfähigkeit ist in noch größerem Maße zurückgegangen. Immerhin gibt es inzwischen ein Umdenken – nach der russischen Annexion der Krim 2014 – und der Verteidigungshaushalt steigt wieder. Wenn auch nicht in dem Maße, das erforderlich wäre, um schnell Fortschritte zu erzielen. Die Bundeswehr war nicht das liebste Kind der Merkel-Regierung, so viel ist klar.

Derzeit sieht es danach aus, als würde Deutschland in den kommenden vier Jahren von einer Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP regiert. Wäre das eine gute oder eine schlechte Nachricht für die Bundeswehr?

Warum sollte das eine schlechte Nachricht für die Bundeswehr sein?

Zum Beispiel, weil die Grünen jeden Cent, der zusätzlich in die Bundeswehr fließen müsste, wohl eher ungern investieren werden.

Die Grünen haben in der Regierungszeit Schröder/Fischer nicht nur zur Bundeswehr gestanden, sondern auch die Aufgaben für die Bundeswehr im Kosovo und in Afghanistan mitformuliert. Ich glaube, dass das Verständnis für die Rolle Deutschlands in der Welt bei allen drei Parteien ganz gut ausgeprägt ist. SPD, Grüne und FDP wissen, dass sich Deutschland als viertstärkste Volkswirtschaft der Welt nicht auf einen Zuschauerplatz setzen kann. Deutschland muss als größtes Land in Europa und zweitgrößte Nato-Nation auch Verantwortung für den militärischen Teil von weltweiter Krisenbewältigung übernehmen. Und natürlich für die Verteidigung Europas. Abschreckung erfordert heute eine gewisse militärische Stärke – in einem viel geringeren Maße als zu Zeiten des Kalten Krieges, aber doch mehr als Deutschland heute zur Verfügung hat.

Was heißt das für die künftige Bundesregierung?

Wir müssen die geschrumpfte Bundeswehr zu voller Einsatzbereitschaft bringen und im internationalen Umfeld den Eindruck zurückdrängen, dass Deutschland nie selbst die Initiative ergreift, sondern sich immer nur mitziehen lässt. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine rot-grün-gelbe Koalition, ähnlich der Regierung Schröder/Fischer damals, eine Regierung sein könnte, die diese Art der souveränen Normalisierung Deutschlands ein Stückchen vorantreibt.

Die Fragen stellte Ben Krischke.

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