Zwei Riesen in Asien - Indien kann Chinas Vorherrschaft verringern

In der BRICS-Gruppe kommen die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt zusammen. Doch eine besonderes Freundschaft verbindet sie nicht, im Gegenteil. Neu-Delhi hat großes Potenzial, die Dominanz Pekings zu begrenzen. Das wird aber noch ein wenig dauern.

Plakat zum BRICS-Gipfel in Johannesburg, 20.08.2023 / picture alliance
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Kamran Bokhari ist Experte für den Mittleren Osten an der Universität von Ottawa und Analyst für den amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Die anhaltende Talfahrt der chinesischen Wirtschaft wird von Indien aus zweifellos mit Freude und Opportunismus beobachtet. Seit Indien vor einem Jahr zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen ist, wird viel über sein Potenzial gesprochen, China als weltweites Produktionszentrum abzulösen. Realistischerweise setzt zwar das Entwicklungsgefälle zwischen den beiden Ländern Neu-Delhi ernsthafte Grenzen, wenn es darum geht, von Pekings schwindendem Wohlstand zu profitieren. Wahrscheinlich ist jedoch, dass Indien sein Geschäftsgebaren so anpassen wird, dass es in den nächsten Jahren genügend Investitionen anzieht, um die Abhängigkeit der Welt vom chinesischen Industriekomplex zu verringern. Wie sich dies entwickelt, wird die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der USA in den kommenden Jahrzehnten maßgeblich beeinflussen.

Die Regierung Biden versucht, die US-Investitionen in China einzuschränken. In mancherlei Hinsicht war dieser Prozess bereits im Gange; so sind beispielsweise die US-Risikokapitalinvestitionen in China seit 2021 deutlich zurückgegangen. Doch Washington will noch weiter gehen und insbesondere verhindern, dass Peking amerikanisches Geld für den Ausbau seiner militärischen Fähigkeiten verwendet. Daher erließ das Weiße Haus am 9. August eine Durchführungsverordnung, die Investitionen in China in drei strategischen Bereichen einschränkt: Halbleiter und Mikroelektronik, Quanteninformationstechnologien und künstliche Intelligenz.

Zumindest kurzfristig sind die Volkswirtschaften der USA und Chinas zu sehr miteinander verflochten, als dass Washington mit dieser Strategie sehr weit gehen könnte. Die schleppende chinesische Wirtschaft schadet bereits den amerikanischen Unternehmen, die dort große Handelsinteressen haben. In Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit der Volkswirtschaften erklärte das Finanzministerium, es werde „öffentlich gehandelte Instrumente und unternehmensinterne Transfers von US-Muttergesellschaften an Tochtergesellschaften“ ausnehmen. Die USA wissen sehr wohl, dass Chinas enormer Marktanteil, der über Jahrzehnte hinweg erworben wurde, nicht so leicht rückgängig gemacht werden kann. Schließlich war es Washingtons Strategie aus der Zeit des Kalten Krieges, die eine Schlüsselrolle bei Chinas Aufstieg spielte.

 

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Längerfristig muss, um China Paroli bieten zu können, die Abhängigkeit der Welt von der chinesischen Industrie verringert werden. Dies wiederum setzt voraus, dass andere Akteure auf den Plan treten und China ernsthaft Konkurrenz machen. Indien ist ein logischer Kandidat, nicht nur wegen seiner Größe und seines Entwicklungsstandes, sondern auch wegen seiner eigenen feindlichen Beziehungen zu China.

Anders als in China, wo der Staat den Privatsektor dominiert und schneller Ressourcen mobilisieren kann (auch wenn die Bemühungen letztlich ins Leere laufen, wie es derzeit der Fall ist), müssen Investoren im westlichen Wirtschaftsmodell eine lohnende Rendite sehen, um zu investieren. Aber nur weil China unattraktiv erscheint, ist Indien noch lange nicht der große Favorit. Es liegt an Indien, Schritte zu unternehmen, um amerikanische Investoren anzulocken. Der Prozess ist im Gange, aber er braucht noch Zeit.

Indien wird China nicht ablösen, aber seine Vorherrschaft verringern

Es gibt auch ein Problem des Framings der öffentlichen Debatte zu diesem Thema. Im Allgemeinen schenken Beobachter einer Entwicklung erst dann Beachtung, wenn sie kurz vor der Reife steht oder sich zu einem ausgewachsenen Zustand entwickelt hat. Einige haben zu Recht auf die Faktoren hingewiesen, die Indiens Weg zum nächsten China blockieren könnten, aber auch sie sehen das Thema aus der Perspektive eines gewünschten Endzustands. Um Indiens Wachstumspotenzial zu bewerten, muss man es als einen Prozess betrachten – einen Prozess, der ähnliche Schwächen aufweisen wird wie die Probleme, die China während seines Aufstiegs erlebt hat.

Natürlich wird Indien China in nächster Zeit nicht ablösen. Die Volksrepublik wird noch lange Zeit ein wichtiger Hersteller von Industriegütern bleiben. Aber die Inder verfügen über ein großes Potenzial, die derzeitige Vorherrschaft der Chinesen etwas zu verringern. Die indische Regierung wird eine Reihe von bürokratischen Hindernissen überwinden müssen, um die für die Anziehung von Investitionen erforderlichen Reformen durchzuführen. Zu ihren Gunsten spricht die Tatsache, dass Chinas wirtschaftlicher Niedergang die Investoren verängstigt hat und viele nach alternativen Zielen für ihr Geld suchen.

Auf die politische Stabilität Indiens kommt es an

Die Beschleunigung dieses Wandels hängt von den Fortschritten ab, die die indische politische Elite bei der Verringerung der Risiken erzielen kann, die bisher die Bereitschaft der Unternehmen, in dem Land Geschäfte zu machen, eingeschränkt haben. Insbesondere wird Neu-Delhi sicherstellen müssen, dass die Spielregeln indische Unternehmen nicht übermäßig begünstigen; ausländische Firmen werden gleiche Wettbewerbsbedingungen erwarten. Inwieweit Indien in den kommenden Jahren zu einem Konkurrenten Chinas wird, hängt in hohem Maße von der politischen Stabilität Indiens ab. Die regierende Bharatiya Janata Party von Premierminister Narendra Modi verfügt über die parlamentarische Mehrheit, um die notwendigen Reformen durchzusetzen, aber sie wird mit den Regierungen der Bundesstaaten zusammenarbeiten müssen, die sie nicht regiert.

Noch wichtiger ist, dass die BJP ihren geoökonomischen Imperativ mit der rechtsgerichteten hindu-nationalistischen Ideologie in Einklang bringen muss, die ihre Wählerbasis nährt. Für Investoren, die eine Diversifizierung weg von China in Erwägung ziehen, sind Berichte über kommunale Gewalt, wie die jüngsten Ausschreitungen in Manipur im Nordosten und in den Gebieten um die nationale Hauptstadt, ein Grund zum Innehalten. Die Anleger glauben wahrscheinlich, dass es besser ist, den wirtschaftlichen Sturm in China zu überstehen und die Risiken der Spannungen zwischen den USA und China zu managen, als zu versuchen, sich in die Ungewissheit Indiens zu stürzen.

Dies sind nicht nur Herausforderungen für Indien. Sie stellen auch Hürden für die US-Strategie dar, und Washington wird mit Neu-Delhi zusammenarbeiten müssen, um sie zu mildern. Das Wichtigste ist, dass die Vereinigten Staaten nicht erwarten sollten, dass Indien ein Ersatz für China wird. Der amerikanische Ansatz wird ein schrittweiseer sein müssen – wenn er es nicht schon ist.

 

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